Dienstag, 31. März 2015

Christian Morgenstern: Es pfeift der Wind

Es pfeift der Wind. Was pfeift er wohl?
Eine tolle, närrische Weise.
Er pfeift auf einem Schlüssel hohl,
bald gellend und bald leise.

Die Nacht weint ihm den Takt dazu
mit schweren Regentropfen,
die an der Fenster schwarze Ruh
ohn End eintönig klopfen.

Es pfeift der Wind. Es stöhnt und gellt.
Die Hunde heulen im Hofe. –
Er pfeift auf diese ganze Welt,
der große Philosophe.


ZUM TODESTAG DES DICHTERS

Montag, 30. März 2015

Rudolf Steiner: Mein Lebensgang

Der Hilfslehrer von Neudörfl, in dessen Privatzimmerchen ich oft seinen Arbeiten zusehen durfte, verfertigte unzählige Bettelgesuche für die ärmeren Bewohner des Dorfes und der Umgegend an den Grafen Chambord. Auf jedes solches Gesuch hin kam ein Gulden als Unterstützung an, von dem der Lehrer für seine Mühe immer sechs Kreuzer behalten durfte. Diese Einnahme brauchte er. Denn sein Amt brachte ihm jährlich - achtundfünfzig Gulden ein. Dazu hatte er Morgenkaffee und Mittagstisch beim «Schulmeister». Er gab dann noch etwa zehn Kindern, unter denen auch ich war, «Extrastunden». Dafür zahlte man monatlich einen Gulden.

Diesem Hilfslehrer verdanke ich viel. Nicht, dass ich von seinem Schulehalten viel gehabt hätte. Damit ging es mir nicht viel anders als in Pottschach. Ich wurde sogleich nach der Übersiedlung nach Neudörfl in die dortige Schule geschickt. Sie bestand aus einem Schulzimmer, in dem fünf Klassen, Knaben und Mädchen, zugleich unterrichtet wurden. Während die Buben, die in meiner Bankreihe saßen, die Geschichte vom König Arpad abschreiben mussten, standen die ganz kleinen an einer Tafel, auf der ihnen das i und u mit Kreide aufgezeichnet wurden. Es war schlechterdings unmöglich, etwas anderes zu tun, als die Seele stumpf brüten zu lassen und das Abschreiben mit den Händen fast mechanisch zu besorgen. Den ganzen Unterricht hatte der Hilfslehrer fast allein zu besorgen. Der «Schulmeister» erschien äußerst selten in der Schule. Er war zugleich Dorfnotar; und man sagte, er habe in diesem Amte so viel zu tun, dass er nie Schule halten könne.

Und trotz alledem habe ich verhältnismäßig früh gut lesen gelernt. Dadurch konnte der Hilfslehrer mit etwas in mein Leben eingreifen, das für mich richtunggebend geworden ist. Bald nach meinem Eintreten in die Neudörfler Schule entdeckte ich in seinem Zimmer ein Geometriebuch. Ich stand so gut mit diesem Lehrer, dass ich das Buch ohne weiteres eine Weile zu meiner Benutzung haben konnte. Mit Enthusiasmus machte ich mich darüber her. Wochenlang war meine Seele ganz erfüllt von der Kongruenz, der Ähnlichkeit von Dreiecken, Vierecken, Vielecken; ich zergrübelte mein Denken mit der Frage, wo sich eigentlich die Parallelen schneiden; der pythagoreische Lehrsatz bezauberte mich.

Dass man seelisch in der Ausbildung rein innerlich angeschauter Formen leben könne, ohne Eindrücke der äußeren Sinne, das gereichte mir zur höchsten Befriedigung. Ich fand darin Trost für die Stimmung, die sich mir durch die unbeantworteten Fragen ergeben hatte. Rein im Geiste etwas erfassen zu können, das brachte mir ein inneres Glück. Ich weiß, dass ich an der Geometrie das Glück zuerst kennen gelernt habe.

In meinem Verhältnisse zur Geometrie muss ich das erste Aufkeimen einer Anschauung sehen, die sich allmählich bei mir entwickelt hat Sie lebte schon mehr oder weniger unbewusst in mir während der Kindheit und nahm um das zwanzigste Lebensjahr herum eine bestimmte, vollbewusste Gestalt an.

Ich sagte mir: die Gegenstände und Vorgänge, welche die Sinne wahrnehmen, sind im Raume. Aber ebenso wie dieser Raum außer dem Menschen ist, so befindet sich im Innern eine Art Seelenraum, der der Schauplatz geistiger Wesenheiten und Vorgänge ist. In den Gedanken konnte ich nicht etwas sehen wie Bilder, die sich der Mensch von den Dingen macht, sondern Offenbarungen einer geistigen Welt auf diesem Seelen-Schauplatz. Als ein Wissen, das scheinbar von dem Menschen selbst erzeugt wird, das aber trotzdem eine von ihm ganz unabhängige Bedeutung hat, erschien mir die Geometrie. Ich sagte mir als Kind natürlich nicht deutlich, aber ich fühlte, so wie Geometrie muss man das Wissen von der geistigen Welt in sich tragen.

Denn die Wirklichkeit der geistigen Welt war mir so gewiss wie die der sinnlichen. Ich hatte aber eine Art Rechtfertigung dieser Annahme nötig. Ich wollte mir sagen können, das Erlebnis von der geistigen Welt ist ebenso wenig eine Täuschung wie das von der Sinnenwelt. Bei der Geometrie sagte ich mir, hier darf man etwas wissen, was nur die Seele selbst durch ihre eigene Kraft erlebt; in diesem Gefühle fand ich die Rechtfertigung, von der geistigen Welt, die ich erlebte, ebenso zu sprechen wie von der sinnlichen. Und ich sprach so davon. Ich hatte zwei Vorstellungen, die zwar unbestimmt waren, die aber schon vor meinem achten Lebensjahr in meinem Seelenleben eine große Rolle spielten. Ich unterschied Dinge und Wesenheiten, «die man sieht» und solche, «die man nicht sieht».
Ich erzähle diese Dinge wahrheitsgemäß, trotzdem die Leute, welche nach Gründen suchen, um die Anthroposophie für phantastisch zu halten, vielleicht daraus den Schluss ziehen werden, ich wäre eben als Kind schon phantastisch veranlagt gewesen; kein Wunder, dass dann auch eine phantastische Weltanschauung sich in mir ausbilden konnte.

Aber gerade deshalb, weil ich weiß, wie wenig ich später meinen persönlichen Neigungen in der Schilderung einer geistigen Welt nachgegangen bin, sondern nur der inneren Notwendigkeit der Sache, kann ich selbst ganz objektiv auf die kindlich unbeholfene Art zurückblicken, wie ich mir durch die Geometrie rechtfertigte, dass ich doch von einer Welt sprechen musste, «die man nicht sieht».

Nur das muss ich auch sagen: ich lebte gerne in dieser Welt. Denn ich hätte die Sinnenwelt wie eine geistige Finsternis um mich empfinden müssen, wenn sie nicht Licht von dieser Seite bekommen hätte.

Der Hilfslehrer in Neudörfl lieferte mir mit seinem Geometriebuch die Rechtfertigung der geistigen Welt, die ich damals brauchte.

Ich verdanke ihm auch sonst sehr viel. Er brachte mir das künstlerische Element. Er spielte Violine und Klavier. Und er zeichnete viel. Beides zog mich stark zu ihm hin. Ich war, so viel es nur sein konnte, bei ihm.

(Aus der 1923 bis 1925 verfassten Autobiographie)

ZUM TODESTAG DES MYSTIKERS

Über den Autor (1861-1925)

Sonntag, 29. März 2015

Johann Karl August Musäus: Rübezahl

Auf den oft besungenen Sudeten haust in friedlicher Eintracht der berufene Berggeist, Rübezahl genannt, der das Riesengebirge berühmt gemacht hat. Dieser Fürst der Gnomen besitzt zwar auf der Oberfläche der Erde nur ein kleines Gebiet, von wenigen Meilen im Umfang, mit einer Kette von Bergen umschlossen. Aber unter der urbaren Erdrinde hebt seine Alleinherrschaft an und erstreckt sich auf achthundertsechzig Meilen in die Tiefe, bis zum Mittelpunkt der Erde. Zuweilen beurlaubt er sich aller unterirdischen Regierungssorgen, erhebt sich zur Erholung auf die Grenzfeste seines Gebiets und hat sein Wesen auf dem Riesengebirge, treibt da sein Spiel und Spott mit den Menschenkindern wie ein froher Übermütiger, der, um einmal zu lachen, seinen Nachbarn zu Tode kitzelt.

Freund Rübezahl ist geartet wie ein Kraftgenie, launisch, ungestüm, sonderbar; bengelhaft, roh, unbescheiden; stolz, eitel, wankelmütig, heute der wärmste Freund, morgen fremd und kalt; zuzeiten gutmütig, edel und empfindsam; aber mit sich selbst in stetem Widerspruch, albern und weise, schalkhaft und bieder, störrisch und beugsam.

Von Olims Zeiten her toste Rübezahl schon im wilden Gebirge, hetzte Bären und Auerochsen aneinander, daß sie zusammen kämpften, oder scheuchte mit grausendem Getöse das scheue Wild vor sich her und stürzte es von den steilen Felsenklippen hinab ins tiefe Tal. Dieser Jagden müde, zog er wieder seine Straße durch die Regionen der Unterwelt und weilte da Jahrhunderte, bis ihn von neuem die Lust anwandelte, sich an die Sonne zu legen und des Anblicks der äußern Schöpfung zu genießen. Wie nahm's ihn wunder, als einst bei seiner Rückkehr, von dem beschneiten Gipfel des Riesengebirges umherschauend, die Gegend ganz verändert fand! Die düsteren undurchdringlichen Wälder waren ausgehauen und in fruchtbares Ackerland verwandelt, wo reiche Ernten reiften. Zwischen den Pflanzungen blühender Obstbäume ragten die Strohdächer geselliger Dörfer hervor, aus deren Schlot friedlicher Hausrauch in die Luft wirbelte; hier und da stand eine einsame Warte auf dem Abhang eines Berges zu Schutz und Schirm des Landes.

Die Neuheit der Sache und die Annehmlichkeit des ersten Anblicks ergötzten den verwunderten Territorialherrn so sehr, daß er über die eigenmächtigen Pflanzer nicht unwillig ward, noch ihrem Tun und Wesen sie zu stören begehrte, sondern sie ruhig im Besitz ihres angemaßten Eigentums ließ, wie ein gutmütiger Hausvater der geselligen Schwalbe oder selbst dem überlästigen Spatz unter seinem Obdach Aufenthalt gestattet. Sogar ward er Sinnes, mit den Menschen Bekanntschaft zu machen und mit ihnen Umgang zu pflegen, Er nahm die Gestalt eines rüstigen Ackerknechtes an und verdingte sich bei dem ersten besten Landwirt. Alles was er unternahm, gedieh wohl unter seiner Hand, und Rips, der Ackerknecht, war für den besten Arbeiter im Dorfe bekannt. Aber sein Brotherr war ein Prasser und Schlemmer, der ihm für seine Mühe und Arbeit wenig Dank wußte; darum schied er von ihm und kam zu dessen Nachbar, der ihm seine Schafherde unterstellte. Die Herde gedieh gleichfalls unter seiner Hand und mehrte sich, kein Schaf stürzte vom Felsen herab das Genick, und keins zerriß der Wolf. Aber sein Brotherr war ein karger Filz, der seinen treuen Knecht nicht lohnte wie er sollte; denn er stahl den besten Widder aus der Herde und kürzte dafür den Hirtenlohn. Darum entlief er dem Geizhals und diente dem Richter als Herrenknecht, ward die Geißel der Diebe und frönte der Justiz mit strengem Eifer. Aber der Richter war ein ungerechter Mann, beugte das Recht, richtete nach Gunst und spottete der Gesetze. Weil Rips nun nicht das Werkzeug der Ungerechtigkeit sein wollte, sagte er dem Richter den Dienst auf und ward in den Kerker geworfen, aus dem er jedoch auf dem gewöhnlichen Wege der Geister, durchs Schlüsselloch, leicht einen Ausweg fand.

Dieser erste Versuch, das Studium der Menschenkunde zu treiben, konnte ihn unmöglich zur Menschenliebe erwärmen; er kehrte mit Verdruß auf seine Felsenzinne zurück, überschaute von da die lachenden Gefilde und wunderte sich, daß die Mutter Natur ihre Spenden an solche Brut verlieh. Desungeachtet wagte er noch eine Ausflucht ins Land fürs Studium der Menschheit, schlich unsichtbar herab ins Tal und lauschte in Busch und Hecken. Da stand vor ihm die Gestalt eines reizvollen Mädchens, lieblich anzuschauen, denn sie stieg eben ins Bad. Rings um sie hatten sich ihre Gespielinnen im Gras gelagert an einem Wasserfalle, der seine Silberflut in ein kunstloses Becken goß, scherzten und kosten mit ihrer Gebieterin in unschuldsvoller Fröhlichkeit. Dieser Anblick wirkte so wundervoll auf den lauschenden Berggeist, daß er schier seine geistige Natur und Eigenschaft vergaß und sich das Los der Sterblichkeit wünschte. Deshalb verwandelte er sich in einen blühenden Jüngling. Das war der rechte Weg, ein Mädchenideal in seiner ganzen Vollkommenheit zu umfassen. Es erwachten Gefühle in seiner Brust, von denen er seit seiner Existenz noch nichts geahnt hatte; alle Ideen bekamen einen neuen Schwung. Ein unwiderstehlicher Trieb zog ihn nach dem Wasserfalle hin, und doch empfand er eine gewisse Scheu, durchs Gesträuch hervorzubrechen durch das sein Auge gleichwohl eine verstohlene Aussicht auszuspähen strebte.

Die schöne Nymphe war die Tochter des schlesischen Pharao, der in der Gegend des Riesengebirges damals herrschte. Sie pflegte oft mit den Jungfrauen des Hofes in den Hainen und Büschen des Gebirges zu lustwandeln und, wenn der Tag heiß war, sich bei der Felsenquelle am Wasserfalle zu erfrischen und darin zu baden. Von diesem Berggeist an diesen Platz, den er nicht mehr verließ, und täglich der Wiederkehr der reizenden Badegesellschaft mit Ungeduld entgegenharrte.

Die Nymphe zögerte lange, doch in der Mittagsstunde eines schwülen Sommertages besuchte sie wieder mit ihrem Gefolge die kühlen Schatten am Wasserfalle. Ihre Verwunderung ging über alles, da sie den Ort ganz verändert fand; die rohen Felsen waren mit Marmor und Alabaster bekleidet, das Wasser stürzte nicht mehr in einem wilden Strom von der steilen Bergwand, sondern rauschte, durch viele Abstufungen gebrochen, mit sanftem Gemurmel in ein weites Marmorbecken herunter. Maßlieben, Zeitlosen und das romantische Blümlein Vergißmeinnicht blühten an dessen Rande, Rosenhecken, mit wildem Jasmin und Silberblüten vermengt, zogen sich in einiger Entfernung umher und bildeten das angenehmste Luststück. Rechts und links der Kaskade öffnete sich der doppelte Eingang einer prächtigen Grotte, deren Wände und Bogengewölbe mit mosaischer Bekleidung prangten, von farbigen Erzstufen, Bergkristall und Frauenglas, alles funkelnd und flimmernd, daß der Abglanz davon das Auge blendete.

Die Prinzessin stand lange in stummer Verwunderung da, wußte nicht, ob sie ihren Augen trauen, diesen zauberhaften Ort betreten oder fliehen sollte. Nachdem sie mit ihrem Gefolge in diesem kleinen Tempel sich sattsam erlustigt und alles fleißig durchgemustert hatte, lüstete sie, in dem Bassin zu baden.

Kaum war sie über den glatten Rand des Marmorbeckens hinabgeschlüpft, so sank sie in eine endlose Tiefe. Laut ließ die bange Schar der erschrockenen Mädchen Klage, Ach und Weh erschallen, als ihr Fräulein vor ihren Augen dahinschwand; sie liefen ängstlich am marmornen Gestade hin und wieder, indes das Springwasser recht geflissentlich sie mit einem Platzregen nach dem anderen übergoß.

Hier war kein anderer Rat, als dem Könige die traurige Begebenheit mit seiner Tochter zu hinterbringen. Wehklagend begegneten ihm die Mädchen, da er eben mit seinen Jägern zu Walde zog. Der König zerriß sein Kleid vor Betrübnis und Entsetzen, nahm die goldene Krone vom Haupte, verhüllte sein Angesicht mit dem Purpurmantel, weinte und stöhnte laut über den Verlust der schönen Emma.

Nachdem er der Vaterliebe den ersten Tränenzoll entrichtet hatte, stärkte er seinen Mut und eilte, das Abenteuer am Wasserfalle selbst zu beschauen. Aber der angenehme Zauber war verschwunden, die rohe Natur stand wieder da in ihrer vorigen Wildheit; da war keine Grotte, kein Rosengehege, keine Jasminlaube.

Unterdessen hatte der Berggeist die liebreizende Emma durch einen unterirdischen Weg in einen prächtigen Palast geführt. Als sich die Lebensgeister der Prinzessin wieder erholt hatten, befand sie sich auf einem Sofa, angetan mit einem Gewand von rosenfarbenem Satin und einem Gürtel von himmelblauer Seide. Ein junger Mann lag zu ihren Füßen und tat ihr mit dem wärmsten Gefühl das Geständnis der Liebe, das sie mit schamhaftem Erröten annahm. Der entzückte Gnom unterrichtete sie hierauf von seinem Stand und seiner Herkunft, von den unterirdischen Staaten, die er beherrschte, führte sie durch die Zimmer und Säle des Schlosses und zeigte ihr alle Pracht und Reichtum. Ein herrlicher Lustgarten umgab das Schloß von drei Seiten, der mit feinen Blumenstücken und Rasenplätzen, auf deren grüner Fläche ein kühler Schatten schwamm, dem Fräulein vornehmlich zu behagen schien. Alle Obstbäume trugen purpurrote, mit Gold gesprenkelte oder zur Hälfte übergüldete Äpfel. In den traulichen Bogengängen lustwandelte das Paar. Sein Blick hing an ihren Lippen, und sein Ohr trank die sanften Töne aus ihrem melodischen Munde. In seinem langen Leben hatte er dergleichen selige Stunden noch nie genossen, als ihm jetzt die erste Liebe gab.

Nicht gleiches Wonnegefühl empfand die reizende Emma. Ein gewisser Trübsinn hing über ihrer Stirn, sanfte Schwermut und zärtliches Hinschmachten offenbarten genug, daß geheime Wünsche in ihrem Herzen verborgen lagen. Er machte gar bald diese Entdeckung und bestrebte sich, durch Liebkosungen diese Wolken zu zerstreuen und die Schöne aufzuheitern, obwohl vergebens. Der Mensch, dachte er bei sich selbst, ist ein geselliges Tier wie die Biene und die Ameise; der schönen Sterblichen gebricht's an Unterhaltung. Flugs ging er hinaus ins Feld, zog auf einem Acker ein Dutzend Rüben aus, legte sie in einen zierlichen geflochtenen Deckelkorb und brachte diesen der schönen Emma, die melancholisch einsam in der beschatteten Laube eine Rose entblätterte. «Schönste der Erdentöchter,» redete sie der Gnom an, «du sollst nicht mehr die Einsamtrauernde in meiner Wohnung sein. In diesem Korbe ist alles, was du bedarfst, diesen Aufenthalt dir angenehm zu machen. Nimm den kleinen buntgeschälten Stab und gib durch die Berührung mit ihm den Erdengewächsen im Korbe die Gestalten, die dir gefallen.»

Hierauf verließ er die Prinzessin, und sie weilte keinen Augenblick, mit dem Zauberstabe laut Instruktion zu verfahren, nachdem sie den Deckelkorb geöffnet hatte. «Brinhild,» rief sie, «liebe Brinhild, erscheine!» Und Brinhild lag zu ihren Füßen, umfaßte die Kniee ihrer Gebieterin und benetzte ihren Schoß mit Freudenzähren. Die Täuschung war so vollkommen, daß Fräulein Emma selbst nicht wußte, wie sie mit ihrer Schöpfung dran war: ob sie die wahre Brinhild hergezaubert hatte, oder ob ein Blendwerk das Auge betrog. Sie überließ sich indessen ganz den Empfindungen der Freude, ihre liebste Gespielin um sich zu haben, lustwandelte sie mit ihr Hand in Hand im Garten umher, ließ sie dessen herrliche Anlagen bewundern und pflückte ihr goldgesprenkelte Äpfel von den Bäumen. Hierauf führte sie ihre Freundin durch alle Zimmer im Palast bis in die Kleiderkammer, wo sie bis zu Sonnenuntergang verweilten. Alle Schleier, Gürtel, Ohrspangen wurden gemustert und anprobiert.

Der spähende Gnom war entzückt über den Tiefblick, den er in das weibliche Herz getan zu haben vermeinte, und freute sich über den guten Fortgang in der Menschenkunde. Die schöne Emma dünkte ihn jetzt schöner, freundlicher und heiterer zu sein als jemals. Sie unterließ nicht, ihren ganzen Rübenvorrat mit dem Zauberstabe zu beleben, gab ihnen die Gestalt der Jungfrauen, die ihr vordem aufzuwarten pflegten, und weil noch zwei Rüben übrig waren, bildete sie eine Zyperkatze um, aus der anderen schuf sie ein niedlich hüpfendes Hündchen. Einige Wochen lang genoß sie die Wonne des gesellschaftlichen Vergnügens ungestört, Sang und Saitenspiel wechselten vom Morgen bis zum Abend; nur merkte das Fräulein nach Verlauf einiger Zeit, daß die frische Gesichtsfarbe ihrer Gesellschafterinnen etwas abbleichte. Der Spiegel im Marmorsaal ließ zuerst bemerken, daß sie allein wie eine Rose aus der Knospe frisch hervorblühte, da die geliebte Brinhild und die übrigen Jungfrauen welkenden Blumen glichen; gleichwohl versicherten sie alle, daß sie sich wohl befänden, und der freigebige Gnom ließ sie an seiner Tafel auch keinen Mangel leiden. Dennoch zehrten sie sichtbar ab, Leben und Tätigkeit schwand von Tag zu Tag mehr dahin, und alles Jugendfeuer erlosch.

Als die Prinzessin an einem heitern Morgen, durch gesunden Schlaf gestärkt, fröhlich ins Gesellschaftszimmer trat, wie schauderte sie zurück, da ihr ein Haufen eingeschrumpfter Matronen an Stäben und Krücken entgegenzitterte, mit Dumpf- und Keuchhusten beladen, unvermögend sich aufrechtzuerhalten. Das schäkernde Hündchen hatte alle vier von sich gestreckt, und der schmeichelnde Zyper konnte sich vor Kraftlosigkeit kaum noch regen und bewegen. Bestürzt eilte die Prinzessin aus dem Zimmer, der schaudervollen Gesellschaft zu entfliehen, trat hinaus auf den Söller des Portals und rief laut den Gnomen, der alsbald in demütiger Stellung auf ihr Geheiß erschien. «Boshafter Geist,» redete sie ihn zornmütig an, «warum mißgönnst du mir die einzige Freude meines harmvollen Lebens, die Schattengesellschaft meiner ehemaligen Gespielinnen? Augenblicklich gib meinen Dirnen Jugend und Wohlgestalt wieder, oder Haß und Verachtung soll deinen Frevel rächen.» – «Schönste der Erdentöchter,» entgegnete der Gnom, «zürne nicht über die Gebühr! Alles, was in meiner Gewalt ist, steht in deiner Hand; aber das Unmögliche fordere nicht von mir. Die Kräfte der Natur gehorchen mir, doch vermag ich nichts gegen ihre unwandelbaren Gesetze. Solange vegetierende Kraft in den Rüben war, konnte der magische Stab ihr Pflanzenleben nach deinem Gefallen verwandeln; aber ihre Säfte sind nun vertrocknet, und ihr Wesen neigt sich nach der Zerstörung hin; denn der belebende Elementargeist ist verraucht. Jedoch das soll dich nicht kümmern, Geliebte, ein frischgefüllter Deckelkorb kann den Schaden leicht ersetzen; du wirst daraus alle Gestalten wieder hervorrufen, die du begehrst. Gib jetzt der Mutter Natur ihre Geschenke zurück, die dich so angenehm unterhalten haben; auf dem großen Rasenplatze im Garten wirst du die Gesellschaft finden.» Der Gnom entfernte sich darauf, und Fräulein Emma, ihren buntgeschälten Stab zur Hand, berührte damit die gerunzelten Weiber, las die eingeschrumpften Rüben zusammen und tat damit, was Kinder, die eines Spielzeugs müde sind, zu tun pflegen: sie warf den Plunder ins Kehricht und dachte nicht mehr daran.

Leichtfüßig hüpfte sie nun über die grünen Matten dahin, den frisch gefüllten Deckelkorb in Empfang zu nehmen, den sie jedoch nirgends fand. Sie ging den Garten auf und nieder, spähte fleißig umher; aber es wollte kein Korb zum Vorschein kommen. Am Traubengeländer kam ihr der Gnom entgegen mit so sichtbarer Verlegenheit, daß sie seine Bestürzung schon von ferne wahrnahm. «Du hast mich getäuscht,» sprach sie, «wo ist der Deckelkorb geblieben? Ich suche ihn schon seit einer Stunde vergebens.» – «Holde Gebieterin meines Herzens,» antwortete der Geist, «wirst du mir meinen Unbedacht verzeihen? Ich versprach mehr, als ich geben konnte, ich habe das Land durchzogen, Rüben aufzusuchen, aber sie sind längst geerntet und welken in dumpfigen Kellern. Harre nur drei Mondenwechsel in Geduld aus, dann soll dir's nie an Gelegenheit gebrechen, mit deinen Puppen zu spielen.» Ehe noch der beredsame Gnom mit dieser Rede zu Ende war, drehte ihm seine Schöne unwillig den Rücken zu, ohne ihn einer Antwort zu würdigen. Er aber hob sich von dannen in die nächste Marktstadt innerhalb seines Gebietes, kaufte, als ein Pachter gestaltet, einen Esel, den er mit schweren Säcken Sämerei belud, womit er einen ganzen Morgen Landes besäte.

Die Rübensaat schoß lustig auf und versprach in kurzer Zeit eine reiche Ernte; Fräulein Emma ging täglich hinaus auf ihr Ackerfeld, das zu besehen sie mehr lüstete als die goldenen Äpfel. Aber Kummer und Mißmut trübten ihre kornblumenfarbenen Augen. Sie weilte am liebsten in einem düsteren, melancholischen Tannenwäldchen am Rande eines Quellbaches, der sein silbernes Gewässer ins Tal rauschen ließ, und warf Blumen hinein, die in den Odergrund hinabflossen.

Der Gnom sah wohl, daß bei den sorgfältigsten Bestreben, durch tausend kleine Gefälligkeiten sich in der schönen Emma Herz zu stehlen, ihr keine Liebe abzugewinnen war. Desungeachtet ermüdete seine hartnäckige Geduld nicht, durch die pünktlichste Erfüllung ihrer Wünsche ihren spröden Sinn zu überwinden. Er nahm als etwas ausgemachtes an, daß ihr Herz so frei und unbefangen sei wie das seine, doch das war ein großer Irrtum. Ein junger Grenznachbar an den Gestaden der Oder, Fürst Ratibor, hatte den süßen Minnetrieb in dem Herzen der holden Emma bereits angefacht. Schon sah das glückliche Paar dem Tage seiner Vermählung entgegen, da die Braut mit einem Male verschwand. Diese Nachricht verwandelte den liebenden Ratibor in einen rasenden Roland. Er verließ seine Residenz, zog menschenscheu in einsamen Wäldern umher und klagte den Felsen sein Unglück. Die treue Emma seufzte unterdessen ihre Herzgefühle so fest in ihrem Busen, daß der spähende Gnom nicht enträtseln konnte, was für Empfindungen sich darin regten. Lange schon hatte sie darauf gesonnen, wie sie ihn überlisten und der lästigen Gefangenschaft entrinnen möchte. Nach mancher durchwachten Nacht sann sie endlich einen Plan aus, der des Versuchs würdig schien, ihn auszuführen.

Der Lenz kehrte in die gebirgischen Täler zurück, und die Rüben gediehen zur Reife. Die schlaue Emma zog täglich einige davon aus und machte damit Versuche, ihnen allerlei beliebige Gestalten zu geben, dem Anschein nach sich damit zu belustigen; aber ihre Absicht ging weiter. Sie ließ eines Tages eine kleine Rübe zur Biene werden, um sie abzuschicken, Kundschaft von ihrem Geliebten einzuziehen. «Fleuch, liebes Bienchen, gegen Aufgang,» sprach sie, «zu Ratibor, dem Fürsten des Landes, und sumse ihm sanft ins Ohr, daß Emma noch für ihn lebt, aber eine Sklavin ist des Fürsten der Gnomen, der das Gebirge bewohnt; verlier' kein Wort von diesem Gruße und bring mir die Botschaft von seiner Liebe.» Die Biene flog alsbald von dem Finger ihrer Gebieterin, wohin sie beordert war; aber kaum hatte sie ihren Flug begonnen, so stach eine gierige Schwalbe auf sie herab und verschlang zum großen Leidwesen des Fräuleins die Botschafterin der Liebe. Darauf formte sie vermöge des wunderbaren Stabes eine Grille, lehrte sie gleichen Spruch und Gruß. Die Grille flog und hüpfte so schnell, wie sie konnte, auszurichten, was ihr befohlen war; aber ein langbeiniger Storch promenierte eben an dem Wege, auf dem die Zirpe zog, erfaßte sie mit seinem langen Schnabel und begrub sie in das Verlies seines weiten Kropfes.

Diese mißlungenen Versuche schreckten die entschlossene Emma nicht ab, einen neuen zu wagen; sie gab der dritten Rübe die Gestalt einer Elster. «Schwanke hin, beredsamer Vogel,» sprach sie, «von Baum zu Baum, bis du gelangest zu Ratibor, sag ihm an meine Gefangenschaft und gib ihm Bescheid, daß er meiner harre mit Roß und Mann, den dritten Tag von heute, an der Grenze des Gebirges im Maientale, bereit, den Flüchtling aufzunehmen, der seine Ketten zu zerbrechen wagt und Schutz von ihm begehrt.» Die Elster gehorchte, und die sorgsame Emma begleitete ihren Flug, soweit das Auge reichte. Der harmlose Ratibor irrte noch immer melancholisch in den Wäldern herum; die Rückkehr des Lenzes und die wiederauflebende Natur hatten seinen Kummer nur gemehrt. Er saß unter einer schattenreichen Eiche, dachte an seine Prinzessin und seufzte laut: Emma! Alsbald gab das vielstimmige Echo ihm diesen geliebten Namen schmeichelhaft zurück; aber zugleich rief auch eine unbekannte Stimme den seinigen aus. Er horchte hoch auf, sah niemanden, wähnte eine Täuschung und hörte den nämlichen Ruf wiederholen. Kurz darauf erblickte er eine Elster, die auf den Zweigen hin und her flog und ward inne, daß der gelehrige Vogel ihn beim Namen rief. «Armer Schwätzer,» sprach er, «wer hat dich gelehrt, diesen Namen auszusprechen, der einem Unglücklichen gehört, der wünscht, von der Erde vertilgt zu sein wie sein Gedächtnis?» Hierauf faßte er einen Stein und wollte ihn nach dem Vogel schleudern, als dieser den Namen Emma hören ließ. Der Sprecher auf dem Baume begann mit der dem Elstergeschlecht eigenen Beredsamkeit den Spruch, der ihm gelehrt war. Fürst Ratibor vernahm kaum diese fröhliche Botschaft, so ward's hell in seiner Seele; der tödliche Gram, der die Sinne umnebelt und die Federkraft der Nerven erschlafft hatte, verschwand. Er forschte mit Fleiß von der Glücksverkünderin nach den Schicksalen der holden Emma; aber die gesprächige Elster konnte nichts als mechanisch ihre Lektion ohne Aufhören wiederholen und flatterte davon. Schnellfüßig eilte der auflebende Prinz zu seinem Hoflager zurück, rüstete eilig das Geschwader der Reisigen, saß auf und zog mit ihnen hin ans Vorgebirge seiner guten Hoffnung, das Abenteuer zu bestehen.

Fräulein Emma hatte unterdessen mit weiblicher Schlauheit alles vorbereitet, ihr Vorhaben auszuführen. Sie ließ ab, den duldsamen Gnomen mit Kaltsinn zu quälen, ihr Auge sprach Hoffnung, und ihr spröder Sinn schien beugsamer zu werden. Der seufzende Liebhaber empfand gar bald diese scheinbare Sinnesänderung der holden Spröden. Ein holdseliger Blick, eine freundliche Miene, ein bedeutsames Lächeln setzten sein entzündbares Wesen in volle Flammen. Er bat um Erhörung und wurde nicht zurückgewiesen. Das Fräulein begehrte nur noch einen Tag Bedenkzeit, den ihr der wonnetrunkene Gnom bereitwillig zugestand.

Den folgenden Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, trat die schöne Emma geschmückt wie eine Braut hervor, mit allem Geschmeide belastet, das sie in ihrem Schmuckkästlein gefunden hatte, und da ihr der harrende Gnom auf der großen Terrasse im Lustgarten entgegenwandelte, bedeckte sie züchtiglich mit dem Ende des Schleiers ihr Angesicht. «Himmlisches Mädchen,» stammelt er ihr entgegen, «laß mich die Seligkeit der Liebe aus deinen Augen trinken und weigere mir nicht länger den bejahenden Blick, der mich zum glücklichsten Wesen macht, das jemals die rote Morgensonne bestrahlt hat!» Hierauf wollte er ihr Antlitz enthüllen, aber das Fräulein machte ihre Schleierwolke noch dichter um sich her und antwortete gar bescheiden: «Vermag eine Sterbliche dir zu widerstehen, Gebieter meines Herzens? Deine Standhaftigkeit hat obgesiegt. Nimm dies Geständnis von meinen Lippen; aber laß mein Erröten und meine Zähren diesen Schleier auffassen.» – «Warum Zähren, o Geliebte?» fiel der beunruhigte Geist ein, «ich heische Lieb' um Liebe und will nicht Aufopferung.» – «Ach,» erwiderte Emma, «warum mißdeutest du meine Tränen? Mein Herz lohnt deine Zärtlichkeit; aber bange zerreißt meine Seele. Das Weib hat nicht stets die Reize einer Geliebten; du alterst nimmer; aber irdische Schönheit ist eine Blume, die bald dahinwelkt. Woran soll ich erkennen, daß du der zärtliche, liebevolle, gefällige, duldsame Gemahl sein werdest, wie du als Liebhaber warest?» Er antwortete: «Fordere einen Beweis meiner Treue oder des Gehorsams in Ausrichtung deiner Befehle, oder stelle meine Geduld auf die Probe und urteile daraus von der Stärke meiner unwandelbaren Liebe.» – «Es sei also!» beschloß die schlaue Emma «ich heische nur einen Beweis deiner Gefälligkeit. Gehe hin und zähle die Rüben alle auf dem Acker; mein Hochzeitstag soll nicht ohne Zeugen sein, ich will sie beleben, damit sie mir zu Kränzeljungfrauen dienen; aber hüte dich, mich zu täuschen und verzähle dich nicht um eine, denn das ist die Probe, woran ich deine Treue prüfen will.»

So ungern sich der Gnom in diesen Augenblick von seiner reizenden Braut trennte, so gehorchte er doch, machte sich rasch an seine Geschäfte und hüpfte hurtig unter den Rüben herum. Er war durch diese Geschäftigkeit mit seiner Aufgabe bald zustande; doch um der Sache recht gewiß zu sein, wiederholte er sie nochmals und fand zu seinem Verdruß eine andere Zahl, was ihn nötigte, zum drittenmal den Rübenpöbel durchzumustern.

Die verschmitzte Emma hatte ihren Paladin kaum aus den Augen verloren, als sie zur Flucht Anstalt machte. Sie hielt eine saftvolle Rübe in Bereitschaft, die sie flugs in ein mutiges Roß mit Sattel und Zeug metamorphosierte. Rasch schwang sie sich in den Sattel, flog über die Heiden und Steppen des Gebirges dahin, und der flüchtige Pegasus wiegte sie, ohne zu straucheln, auf seinem sanften Rücken hinab ins Maiental, wo sie sich dem geliebten Ratibor, der der Kommenden ängstlich entgegenharrte, fröhlich in die Arme warf.

Der geschäftige Gnom hatte sich indessen so in seine Zahlen vertieft, daß er von dem, was um und neben ihm geschah, nichts wußte. Nach langer Mühe und Anstrengung seiner Geisteskraft war ihm endlich gelungen, die wahre Zahl aller Rüben auf dem Ackerfelde, klein und groß mit eingerechnet, gefunden zu haben. Er eilte nun froh zurück, sie seiner Herzensgebieterin gewissenhaft zu berechnen und durch die pünktliche Erfüllung ihrer Befehle sie zu überzeugen, daß er der gefälligste und unterwürfigste Gemahl sein werde. Mit Selbstzufriedenheit trat er auf den Rasenplatz; aber da fand er nicht, was er suchte; er lief durch die bedeckten Lauben und Gänge; auch da war nicht, was er begehrte. Er kam in den Palast, durchspähte alle Winkel, rief den holden Namen Emma aus, den ihm die einsamen Hallen zurücktönten, begehrte einen Laut von dem geliebten Munde; doch da war weder Stimme noch Rede. Das fiel ihm auf, er merkte Unrat; flugs warf er das schwerfällige Phantom der Verkörperung ab, schwang sich hoch in die Luft und sah den geliebten Flüchtling in der Ferne, als eben der rasche Gaul über die Grenze setzte. Wütend ballte der ergrimmte Geist ein paar friedlich vorüberziehende Wolken zusammen und schleuderte einen kräftigen Blitz der Fliehenden nach, der eine tausendjährige Grenzeiche zersplitterte. Aber jenseits dieser war des Gnomen Rache unkräftig, und die Donnerwolke zerfloß in einen sanften Heiderauch.

Nachdem er die Luftregionen verzweiflungsvoll durchkreuzt hatte, kehrte er trübselig in den Palast zurück, schlich durch alle Gemächer und erfüllte sie mit Seufzen und Stöhnen. Die Sehnsucht erwachte wieder an jedem Platze, wo sie vormals ging und stand, wo er trauliche Unterredungen mit ihr gepflogen hatte. Alles das würgte und knotete ihn so zusammen, daß er unter der Last seiner Gefühle in dumpfes Hinbrüten versank. Bald danach brach sein Unmut in gräßliche Verwünschungen aus, und er vermaß sich höchstlich, der Menschenkenntnis zu entsagen und von diesem argen betrüglichen Geschlechte keine weitere Notiz zu nehmen. In dieser Entschließung stampfte er dreimal auf die Erde, der ganze Zauberpalast mit all seiner Herrlichkeit kehrte in sein ursprüngliches Nichts zurück, und der Gnom fuhr hinab in die Tiefe bis an die entgegengesetzte Grenze seines Gebietes, in den Mittelpunkt der Erde.

Während dieser Katastrophe im Gebirge führte Fürst Ratibor die schöne Emma an den Hof ihres Vaters zurück, vollzog daselbst seine Vermählung, teilte mit ihr den Thron seines Erbes und erbaute die Stadt Ratibor, die noch seinen Namen trägt bis auf diesen Tag. Das sonderbare Abenteuer der Prinzessin, das ihr auf dem Riesengebirge begegnet war, ihre kühne Flucht und glückliche Entrinnung wurde das Märchen des Landes, pflanzte sich von Geschlecht zu Geschlecht fort bis in die entferntesten Zeiten. Und die Einwohner der umliegenden Gegenden, die den Nachbar Berggeist bei seinem Geisternamen nicht zu nennen wußten, legten ihm einen Spottnamen auf, riefen ihn Rübenzähler oder kurz Rübezahl.

(Erzählung von 1783 um den Namen des Berggeistes)

ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1735-1787)

Samstag, 28. März 2015

Friedrich Stoltze: Frankfurt

Es is kää Stadt uff der weite Welt,
Die so merr wie mei Frankfort gefällt,
Un es will merr net in mein Kopp enei:
Wie kann nor e Mensch net von Frankfort sei!

Un wär’sch e Engel un Sonnekalb,
E Fremder is immer von außerhalb!
Der beste Mensch is e Ärjerniß,
Wann er net aach von Frankfort is.

Was is des Ofebach for e Stadt!
Die hawe’s ganz in der Näh gehat
Un hawe’s verbaßt von Aabeginn,
Daß se net aach von Frankfort sin.

Die Bockemer hawe weiter geblickt,
Die hawe mit uns zusammegerickt;
Die Bernemer awer warn aach net dumm,
Die gawe sogar e Milljohn dadrum!!

E Mädche von Hie, deß en Fremde nimmt,
Deß hat en vor was Höher’sch bestimmt;
Es mecht en von Hie un er wääß net wie;
E Eigeplackter is immer von hie.

E Mädche von draus, wann noch so fei,
Dhut immer doch net von Frankfort sei!
Doch nimmt se en hiesige Berjerschsoh,
So hat’s se aach noch die Ehr derrvo.

Des Berjerrecht in de letzte Jahrn
Is freilich ebbes billiger warn;
Der Wohlstand awer erhält sich doch,
Dann alles anner is dheuer noch.

So steuern merr frehlich uff's Tornerfest!
Bald komme se aa von Ost un West,
Von Nord un Sid un iwer die Meern,
Gut Heil! als ob se von Frankfort wärn.

Un wann se bei uns sich amesiern,
Dann werrd se der Abschied doppelt rihrn
Un gewe merr recht un stimme mit ei:
Wie kann nor e Mensch net von Frankfort sei!

(Mundart-Gedicht von 1880)

ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1816-1891)

Freitag, 27. März 2015

William Stern: Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen

Die Intelligenz ist zweifellos eine angeborene Disposition; angeboren aber ist sie nur Anlage, d.h. als noch nicht fest abgezirkelte Betätigungsmöglichkeit mit breitem Spielraum, als eine Vieldeutigkeit, die erst der Vereindeutigung im Laufe der Entwicklung und unter Beteiligung der Einflüsse des Lebens harrt. Je mehr diese Vereindeutigung fortschreitet, je mehr sich feste Betätigungsweisen herausbilden, um so mehr wird aus der Anlage eine Eigenschaft, die nun nach Art und Grad ein gemeinsames Erzeugnis der inneren und äußeren Bedingungen ist.

(Aus der 1920 erschienenen Schrift)

ZUM TODESTAG DES PSYCHOLOGEN

Über den Autor (1871-1938)

Donnerstag, 26. März 2015

Ludwig van Beethoven: Heiligenstädter Testament

O ihr Menschen die ihr mich für Feindseelig störisch oder Misantropisch haltet oder erkläret, wie unrecht thut ihr mir, ihr wißt nicht die geheime ursache von dem, was euch so scheinet, mein Herz und mein Sinn waren von Kindheit an für das zarte Gefühl des Wohlwollens, selbst große Handlungen zu verrichten dazu war ich immer aufgelegt, aber bedenket nur daß seit 6 Jahren ein heilloser Zustand mich befallen, durch unvernünftige Ärzte verschlimmert, von Jahr zu Jahr in der Hofnung gebessert zu werden, betrogen, endlich zu dem überblick eines daurenden Übels (dessen Heilung vieleicht Jahre dauren oder gar unmöglich ist) gezwungen, mit einem feurigen Lebhaften Temperamente gebohren selbst empfänglich für die Zerstreuungen der Gesellschaft, muste ich früh mich absondern, einsam mein Leben zubringen, wollte ich auch zuweilen mich einmal über alles das hinaussezen, o wie hart wurde ich durch die verdoppelte traurige Erfahrung meines schlechten Gehör’s dann zurückgestoßen, und doch war’s mir noch nicht möglich den Menschen zu sagen: sprecht lauter, schreyt, denn ich bin Taub, ach wie wär es möglich daß ich da die Schwäche eines Sinnes angeben sollte, der bey mir in einem Vollkommenern Grade als bey andern seyn sollte, einen Sinn den ich einst in der grösten Vollkommenheit besaß, in einer Vollkommenheit, wie ihn wenige von meinem Fache gewiß haben noch gehabt haben – o ich kann es nicht, drum verzeiht, wenn ihr mich da zurückweichen sehen werdet, wo ich mich gerne unter euch mischte, doppelt Wehe thut mir mein unglück, indem ich dabey verkannt werden muß, für mich darf Erholung in Menschlicher Gesellschaft, feinere unterredungen, Wechselseitige Ergießungen nicht statt haben, ganz allein fast nur so viel als es die höchste Nothwendigkeit fodert, darf ich mich in Gesellschaft einlassen, wie ein Verbannter muß ich leben, nahe ich mich einer Gesellschaft, so überfällt mich eine heiße Ängstlichkeit, indem ich befürchte in Gefahr gesezt zu werden, meinen Zustand merken zu laßen – so war es denn auch dieses halbe Jahr, was ich auf dem Lande zubrachte, von meinem Vernünftigen Arzte aufgefodert, so viel als möglich mein Gehör zu schonen, kam er mir fast meiner jezigen natürlichen Disposizion entgegen, obschon, Vom Triebe zur Gesellschaft manchmal hingerissen, ich mich dazu verleiten ließ, aber welche Demüthigung wenn jemand neben mir stund und von weitem eine Flöte hörte und ich nichts hörte, oder jemand den Hirten Singen hörte, und ich auch nichts hörte, solche Ereignisse brachten mich nahe an Verzweiflung, es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben – nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück, ach es dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das alles hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte, und so fristete ich dieses elende Leben – wahrhaft elend, einen so reizbaren Körper, daß eine etwas schnelle Verändrung mich aus dem Besten Zustande in den schlechtesten versezen kann – Geduld – so heist es, Sie muß ich nun zur führerin wählen, ich habe es – daurend hoffe ich, soll mein Entschluß seyn, auszuharren, bis es den unerbittlichen Parzen gefällt, den Faden zu brechen, vieleicht geht’s besser, vieleicht nicht, ich bin gefaßt – schon in meinem 28 Jahre gezwungen Philosoph zu werden, es ist nicht leicht, für den Künstler schwerer als für irgend jemand – Gottheit du siehst herab auf mein inneres, du kennst es, du weist, daß menschenliebe und neigung zum Wohlthun drin Hausen, o Menschen, wenn ihr einst dieses leset, so denkt, daß ihr mir unrecht gethan, und der unglückliche, er tröste sich, einen seines gleichen zu finden, der troz allen Hindernissen der Natur, doch noch alles gethan, was in seinem Vermögen stand, um in die Reihe würdiger Künstler und Menschen aufgenommen zu werden – ihr meine Brüder Carl und Johann, sobald ich Tod bin und Professor schmid lebt noch, so bittet ihn in meinem Namen, daß er meine Krankheit beschreibe, und dieses hier geschriebene Blatt füget ihr dieser meiner Krankengeschichte bey, damit wenigstens so viel als möglich die Welt nach meinem Tode mit mir versöhnt werde – zugleich erkläre ich euch beyde hier für die Erben des kleinen Vermögens, (wenn man es so nennen kann) von mir, theilt es redlich, und vertragt und helft euch einander, was ihr mir zuwider gethan, das wist ihr, war euch schon längst verziehen, dir Bruder Carl danke ich noch in’s besondre für deine in dieser leztern spätern Zeit mir bewiesene Anhänglichkeit, Mein Wunsch ist, daß  euch ein bessers sorgenloseres Leben, als mir, werde, emphelt euren Kindern Tugend, sie nur allein kann glücklich machen, nicht Geld, ich spreche aus Erfahrung, sie war es, die mich selbst im Elende gehoben, ihr Danke ich nebst meiner Kunst, daß ich durch keinen selbstmord mein Leben endigte – lebt wohl und liebt euch; – allen Freunden danke ich, besonders fürst Lichnovski und Professor schmidt – die Instrumente von fürst Lichnowsky wünsche ich, daß sie doch mögen aufbewahrt werden bey einem von euch, doch entstehe deswegen kein Streit unter euch, sobald sie euch aber zu was nüzlicherm dienen können, so verkauft sie nur, wie froh bin ich, wenn ich auch noch unter meinem Grabe euch nüzen kann – so wär’s geschehen - mit freuden eil ich dem Tode entgegen – kömmt er früher als ich Gelegenheit gehabt habe, noch alle meine Kunst-Fähigkeiten zu entfalten, so wird er mir troz meinem Harten Schicksaal doch noch zu frühe kommen, und ich würde ihn wohl später wünschen – doch auch dann bin ich zufrieden, befreyt er mich nicht von einem endlosen Leidenden Zustande? – Komm, wann du willst, ich gehe dir muthig entgegen – lebt wohl und Vergeßt mich nicht ganz im Tode, ich habe es um euch verdient, indem ich in meinem Leben oft an euch gedacht, euch glücklich zu machen, seyd es –

(Briefentwurf vom Oktober 1802)

Aus der letzten Komposition (Streichquartett op. 135), Orchesterfassung mit Leonard Bernstein

ZUM TODESTAG DES MUSIKERS

Über den Autor (1770-1827)

Mittwoch, 25. März 2015

Novalis: Monolog

Es ist eigentlich um das Sprechen und Schreiben eine närrische Sache; das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen – sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert, weiß keiner. Darum ist sie ein so wunderbares und fruchtbares Geheimniß, – daß wenn einer blos spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlichsten, originellsten Wahrheiten ausspricht. Will er aber von etwas Bestimmten sprechen, so läßt ihn die launige Sprache das lächerlichste und verkehrteste Zeug sagen. Daraus entsteht auch der Haß, den so manche ernsthafte Leute gegen die Sprache haben. Sie merken ihren Muthwillen, merken aber nicht, daß das verächtliche Schwatzen die unendlich ernsthafte Seite der Sprache ist. Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei - Sie machen eine Welt für sich aus – Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll – eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnißspiel der Dinge. Nur durch ihre Freiheit sind sie Glieder der Natur und nur in ihren freien Bewegungen äußert sich die Weltseele und macht sie zu einem zarten Maaßstab und Grundriß der Dinge. So ist es auch mit der Sprache – wer ein feines Gefühl ihrer Applicatur, ihres Takts, ihres musikalischen Geistes hat, wer in sich das zarte Wirken ihrer innern Natur vernimmt, und danach seine Zunge oder seine Hand bewegt, der wird ein Prophet sein, dagegen wer es wohl weiß, aber nicht Ohr und Sinn genug für sie hat, Wahrheiten wie diese schreiben, aber von der Sprache selbst zum Besten gehalten und von den Menschen, wie Cassandra von den Trojanern, verspottet werden wird. Wenn ich damit das Wesen und Amt der Poesie auf das deutlichste angegeben zu haben glaube, so weiß ich doch, daß es kein Mensch verstehn kann, und ich ganz was albernes gesagt habe, weil ich es habe sagen wollen, und so keine Poesie zu Stande kommt. Wie, wenn ich aber reden müßte? und dieser Sprachtrieb zu sprechen das Kennzeichen der Eingebung der Sprache, der Wirksamkeit der Sprache in mir wäre? und mein Wille nur auch alles wollte, was ich müßte, so könnte dies ja am Ende ohne mein Wissen und Glauben Poesie sein und ein Geheimniß der Sprache verständlich machen? und so wär ich ein berufener Schriftsteller, denn ein Schriftsteller ist wohl nur ein Sprachbegeisterter?


(Fragment von 1798/99)

ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1792-1801)

Dienstag, 24. März 2015

Ferdinand Ernst von Waldstein-Wartenberg: Lieber Beethoven

Sie reisen itzt nach Wien zur Erfüllung ihrer so lange bestrittenen Wünsche. Mozart's Genius trauert noch und beweinet den Tod seines Zöglings. Bey dem unerschöpflichem Hayden fand er Zuflucht, aber keine Beschäftigung; durch ihn wünscht er noch einmal mit jemanden vereinigt zu werden. Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozart's Geist aus Haydens Händen.
Ihr warer Freund Waldstein OT

(Stammbucheintrag vom 29. Oktober 1792)

"Waldstein"-Sonate, gespielt von Sophie Pacini (Herkulessaal 2012)

ZUM GEBURTSTAG DES MÄZENS

Über den Autor (1762-1823)

Montag, 23. März 2015

August Kotzebue: Der Rehbock, oder die schuldlos Schuldbewussten

Baronin in Männerkleidern, tritt von der entgegengesetzten Seite auf
Nr. 3. Arie
 
Auf des Lebens raschen Wogen
Fliegt mein Schifflein leicht dahin,
Keine Wolk' am Himmelsbogen
Trübet mir den heitern Sinn;
Denn mein Heute gleicht dem Gestern,
Fessellos sind Herz und Hand,
Darum, meine trauten Schwestern,
Lob' ich mir den Witwenstand.

Mein Gemahl, Gott hab' ihn selig,
War zuerst so übel nicht,
Fein, galant, jedoch allmählich
Zeigt er sich in anderm Licht.
Stolz, gebietrisch, eifersüchtig,
Liebt' er Pferde nur und Jagd;
Darum hat die kurze Ehe
Wenig Freuden mir gebracht.
Auf des Lebens raschen Wogen usw.

Zwar mag es im Ehstand geben
Oft auch hellen Sonnenschein,
Ja, bei ein'gen soll's ein Leben
Wie im Paradiese sein.
An der Hand des liebenden Gatten
Durchs Leben eilen, die Sorgen teilen
So wie die Lust, an seiner Brust
Das ganze Dasein ihm nur weihn –
Oh, es muß schön, muß herrlich sein!
Herz, gib dich zufrieden, solch Glück wär' zu groß!
Ward mir doch beschieden ein ruhiges Los!
Ja, auf des Lebens raschen Wogen usw.



ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Sonntag, 22. März 2015

Ernst Fabricius: Wahre und falsche Kolonialpolitik

Hochansehnliche Versammlung!

Nur noch 1½ Tage trennen uns von der Entscheidung. Der Wahlkampf hat seinen Höhepunkt erreicht. Man sollte meinen, daß es den kämpfenden Parteien kaum mehr möglich wäre, noch weiter Boden zu gewinnen. Hat nicht jeder Wähler, so fragt man sich, seine Entscheidung bereits für sich getroffen? Außer den Unentwegten, die es ja wohl bei jeder Partei gibt, die von vornherein, noch bevor der Reichstag aufgelöst war, wußten, wie sie bei der nächsten Wahl stimmen würden, die gegen alles, was nicht von der eigenen Partei kommt, die Ohren verstopfen und die Herzen verschließen, die nicht nachdenken, sondern mit dem Urteil fertig sind, bevor sie nur die Gründe und Tatsachen recht erfahren haben – außer diesen Unentwegten, dem besonderen Stolz des Zentrums, haben nicht auch diejenigen unserer Mitbürger, die anderer Erwägung zugänglich sind, bereits alle Stellung genommen? Läßt sich überhaupt noch etwas Neues sagen, Entscheidendes noch vorbringen?

Meine Herren! Diese Fragen drängen sich am Schlusse eines jeden Wahlkampfes auf, und die Heftigkeit, mit der er bis zuletzt fortgesetzt wird, die noch immer wachsende Teilnahme der Wähler zeigt, daß keine Partei die Hoffnung sinken läßt, einen oder den anderen zu bekehren. Und wenn jemals, so ist gerade bei diesem Wahlkampfe die Hoffnung auf unserer Seite berechtigt.

Denn, meine Herren, in den sechs Wochen, die seit der Reichstagsauflösung vergangen sind, hat sich etwas Merkwürdiges, etwas Neues, etwas Großes zugetragen, das, wie mir scheint sogar über die augenblickliche Bedeutung dieses Wahlkampfes weit hinausragt. Keinem, der mit offenen Augen die Vorgänge der letzten Wochen beobachtet hat, kann es entgangen sein, wie sich in dieser kurzen Zeit im ganzen deutschen Volke die Erkenntnis Bahn gebrochen hat von der ungeheuren Bedeutung der Kolonialfrage für unser gesamtes wirtschaftliches und politisches Leben.

Obwohl 14.000 unserer Soldaten seit Jahren in dem südwestafrikanischen Schutzgebiete kämpfen, wer hat sich vor dem 13. Dezember so recht für unsere Kolonien interessiert? Unsere armen Soldaten haben diese Interessenlosigkeit der Heimat, die mit der allgemeinen Gleichgültigkeit den kolonialen Dingen gegenüber zusammenhing, auf das schmerzlichste empfunden.

Und wie steht es nun, meine Herren? Seit dem 13. Dezember ist das Interesse für unsere Kolonien ausgebreitet worden über ganz Deutschland, vom Fels bis zum Meer, hineingetragen in jede Hütte, in den entlegensten Hof unserer Schwarzwaldtäler, in alle Schichten unserer Bevölkerung. Alle haben dabei mitgeholfen, freiwillig oder unfreiwillig, die Presse aller Parteien, die Stimmen der Freunde unserer Kolonialpolitik und ihrer Gegner. Ja die Gegner haben, meinte ich, mit ihrer leidenschaftlichen Heruntersetzung des Wertes unserer Kolonien und ihren übertriebenen Anklagen gegen unsere Kolonialverwaltung und ihre Beamten am allermeisten dazu beigetragen, unserem Volke zum Bewußtsein zu bringen, daß die Kolonialfrage für die Zukunft Deutschlands von ganz erheblicher Bedeutung ist.

Schon dies ist ein großer Gewinn, ein bleibender Erfolg dieses Wahlkampfes! Diese Kolonien, die uns soweit ablagen, durch wochen- und monatelange Reisewege von uns getrennt, auf der anderen Seite unseres Erdballs unter einem anderen Sternenhimmel, die sind mit einem Male uns mächtig nahe gerückt, in unheimliche Nähe gerückt, sie stehen vor uns; vor einem Jeden unter uns, vor der Gesamtheit des Volkes und fragen: „Wollt Ihr uns anerkennen oder wollt Ihr uns verleugnen?“ „Wollt Ihr uns ehrlich auferziehen oder wollt Ihr uns verkümmern lassen?“ „Gehören wir Euch oder gehören wir Euch nicht?“

Und, meine Herren, wie hat sich nun die Gesamtheit der Nation zu diesen Fragen gestellt? Glauben Sie doch nicht, daß sich das erst übermorgen, erst am Wahltage oder durch diese Wahlen überhaupt herausstellen werde. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, so ist in diesen Fragen die Entscheidung bereits so gut wie gefallen.

Denn es hat sich noch etwas weiteres in diesen Wochen zugetragen, das jeder von uns, der nicht in den Vorurteilen befangen war, an sich selbst erfahren und erlebt hat. Bis zum 13. Dezember waren wir alle, der eine mehr, der andere weniger, von der Vorstellung beherrscht, daß der Wert unserer Kolonien im Vergleich mit dem Länderbesitz anderer Nationen arg gering sei; daß es vielleicht kein so großes Unglück für Deutschland wäre, sie wenigstens zum Teil wieder los zu sein; daß sie im besten Falle erst in ferner Zukunft, erst unseren Enkeln und Enkelkindern, wirklichen Gewinn bringen würde. Auch in der Haltung der Reichsregierung den kolonialen Dingen gegenüber war diese Ungewißheit, diese Unsicherheit über den realen Wert der Kolonien bis zu einem gewissen Grade fühlbar. Von ganz wenigen Leuten abgesehen, hat niemand sich so recht getraut, für die Kolonien mit aller Entschiedenheit einzutreten. „Wären wir nur erst wieder heraus aus dem Kolonialsumpf!“ Das war so ziemlich die allgemeine Meinung.

Und heute? Nach diesen wenigen Wochen? Welche merkwürdige Wandlung hat sich vollzogen! Fast jeder Tag brachte uns eine neue Erkenntnis, die zu jener Geringschätzung nicht stimmen wollte, fast jeden Tag erfuhren wir neue Tatsachen, die unsere früheren Anschauungen über den Haufen warfen, die Kolonialfragen wuchsen vor unseren Augen und zwangen uns nachzudenken, zwangen uns ganz von neuem dazu Stellung zu nehmen. Noch niemals haben, wie mich dünkt, in so kurzer Zeit die Anschauungen in so wichtigen Dingen eine solche Umgestaltung erfahren.

Dieser Wandel der Anschauungen begann schon am 13. Dezember selbst. In der allerletzten Sitzung der Budgetmission des Reichstags erklärte der Abg. Dr. Spahn, der bekannte Zentrumsführer, nach den Mitteilungen der Sachverständigen, über Südwestafrika, die Sitzung habe dahin klärend gewirkt, daß ein tatsächlich höherer Wert der Kolonie konstatiert worden sei.

Dann kehrten die Reichsboten nach der Auflösung zurück in ihre Heimatbezirke und berichteten hier von den Einzelheiten, die sie in der Budgetmission und im Reichstage vernommen hatten. Da klang noch vieles anders, als man es sich gedacht hatte. Aus der ungeheuren Sandwüste in Südwestafrika wurde ein Land, das nicht bloß reiche Erzschätze birgt, sondern in den 70er und 80er Jahren, ohne daß damals für seine Kultur etwas geschehen war, 2 Millionen Stück Großvieh ernährt hatte, große Erzschätze birgt und zu Schaf- und Straußenzucht in besonderer Weise geeignet sei.

Die Sachverständigen, die jahrelang in der Kolonie gewesen waren, hatten wohl Bücher darüber geschrieben, aber wer hatte diese Bände und Berichte bei der allgemeinen Interessenlosigkeit gelesen? Jetzt in der Weihnachtszeit rief man sie in die Öffentlichkeit, bat sie zum Vortrage und Berichte? Und was erfahren wir? Daß unser Südwestafrika um nichts besser, aber auch um nichts schlechter sei, als der allergrößte Teil der Kapkolonie, als der Oranjestaat, als Transvaal und der Süden Afrikas überhaupt. „Ja wohnen dort“, so fragten wir, „in der Kapkolonie nicht Hunderttausende von Weißen? Treiben sie nicht einen gewinnbringenden Handel? Wachsen die Städte dort nicht in wunderbarer Schnelligkeit aus dem Boden? Haben die Engländer nicht um den Besitz des Transvaal den erbitterten Krieg mit den Buren geführt, den sie sich 3 Milliarden Mark haben kosten lassen? Und unser Schutzgebiet, sagt Ihr, sei um nichts schlechter?“

„Ja gewiß, so lautet die Antwort, die Engländer haben aber auch bereits 4000 Kilometer Eisenbahnen dort gebaut, breitspurige leistungsfähige Bahnen, und wir besaßen bis vor kurzem nur die elende Schmalspurbahn von Swakopmund nach Windhuk, noch nicht 400 Km. weit. Wie kann da etwas rentieren, wenn die Erzeugnisse sich nicht an die Küste befördern lassen!“ „Und in Ostafrika“, so hörten wir von den Leuten, „da hat man es noch viel törichter gemacht: Kaum der Küstensaum unseres weiten, reichen Gebietes ist erschlossen, und während wir hier zögernd die ersten kurzen Bahnlinien projektierten, haben uns die Engländer auf ihrer Nachbarkolonie hart an der deutschen Grenze entlang die Ugandabahn 1000 Km. weit bis an den Victoria-Niassa getrieben und leiten die Erzeugnisse aus dem Innern des deutschen Schutzgebietes nach englischen Häfen!“

„So hatte also der Kolonialdirektor Dernburg doch ganz recht, als er vor kurzem im Reichstag erklärte, daß wir in unseren Kolonien hätten Eisenbahnen bauen, die ungeheuren Gebiete erst hätten erschließen sollen?“ „Und ob er Recht hatte! Das ist ja eben der große Fehler unserer ganzen Kolonialpolitik, daß wir die Länder in Besitz genommen, aber so gut wie gar nicht entwickelt haben. Kein Acker trägt Früchte, der nicht bestellt wird, kein Grundstück kann sich rentieren, solange es nicht nutzbar gemacht ist, keine Kolonie, die nicht erschlossen wird.“

Wie man es in solchen Dingen machen und wie man es nicht machen soll, das können Sie, meine Herren, hier in Freiburg an einem Beispiel sehen mit erwünschter Deutlichkeit: an den beiden großen Bauplätzen an der Werderstraße. Dort sind die Fundamente gelegt, die Gerüste aufgerichtet, die Krahnen in Betrieb gesetzt, die Bauhütten erstellt, ein Bild energischen Schaffens, und hier noch nicht einmal der Bauzaun hergestellt, um die Blöße zu decken um den feierlich gelegten Grundstein. Welches Grundstück glauben Sie wird sich, wenn das so weiter geht, früher rentieren?

Die Erkenntnis also, meine Herren, hat sich uns nun doch wohl aufgedrängt, wir hätten entweder die Kolonialpolitik gar nicht anfangen sollen, oder sie ordentlich betreiben, zielbewußt, kraftvoll, ausdauernd, wie es eines großen Volkes würdig ist.

Da sagt dann wohl mancher unter uns: „Gewiß, wir hätten die Finger davon lassen sollen. Wozu auch diese Kolonien, die soviel Geld kosten! Hat man denn überhaupt ein Recht dazu, den Bewohnern dieser Länder, selbst wenn es Schwarze sind, ihren ererbten Besitz wegzunehmen?“ Und wir fragen uns selbst: War es nicht vielleicht ein Vorzug von uns Deutschen, daß wir bis vor kurzem uns fremder Länder nicht bemächtigt haben, daß wir friedlich daheim geblieben sind und unseren Kohl gebaut haben?

Die Weltgeschichte gibt auf viele Fragen Antwort. Alle gesitteten Nationen haben seit den Zeiten der alten Griechen und Römer Kolonien gegründet, in moderner Zeit die Engländer, die Spanier, die Franzosen, die Niederländer, die Russen, die ganz Sibirien kolonisiert, und die Dänen, die Skandinavien und Island besiedelt haben. Nur wir Deutschen und die Italiener nicht von den Völkern Europas. Und warum nicht? Nur weil Deutschland und Italien politisch zerrissen waren, weil uns die Kraft dazu gefehlt hat, weil wir Deutsche ein Volk waren der „Dichter und Denker“, aber nicht der praktischen Betätigung. Die ganze koloniale Arbeit der deutschen Hansa ist an unserer Ohnmacht wieder zu Grunde gegangen. Und was haben jene anderen Nationen erreicht? Sehen Sie sich doch die Vereinigten Staaten von Nordamerika an, dies ungeheure Land, einstmals von Wäldern und Steppen bedeckt, in denen die Indianerstämme dem Wild nachjagten, in den ungeheuren, unbewohnten Jagdgründen, einander unablässig bekämpften, dem besiegten Gegner die Kopfhaut herunterschnitten, oder ihn abschlachteten unter scheußlichen Qualen.

Und heute? 80 Millionen gesittete Menschen, ungeheure Städte, ein reich zivilisiertes Land mit hochentwickeltem Ackerbau und einer blühenden Industrie, vor allem Naturkräfte erschlossen, die der ganzen Welt zustatten kommen, die wie das Petroleum heute in keinem Hause mehr fehlen!
Möchte irgend jemand die Wiederherstellung des früheren Zustandes auch nur wünschen? Und sah es nicht in unseren afrikanischen Schutzgebieten vor kurzem ebenso aus wie ehedem in Amerika? Auch dort wurde nichts von dem nutzbar gemacht, was das Land bietet, ungeheure Steppen, im Durchschnitt auf 4 Quadratkilometer ein Bewohner, während in Deutschland die 420fache Zahl auf der gleichen Fläche lebt, und die Bewohner in gegenseitiger Fehde, in unaufhörlichem Kampf unter sich und mit den Feinden der Kultur, den Raubtieren und Krankheiten und verheerenden Tierseuchen.

Die europäischen Völker müssen diesen Ländern die Errungenschaften ihrer Technik, ihrer Wissenschaft, ihrer Gesittung, auch dort wo das Klima dem Europäer den dauernden Aufenthalt unmöglich macht, durch den Missionar, den Arzt, den Ackerbauer, den Ingenieur, müssen die Naturkräfte erschließen zum eigenen Vorteil der Eingeborenen und zum Nutzen der gesamten Menschheit. Wenn wir Deutsche es nicht tun, so tun es die anderen Nationen. Sollen wir mit ansehen, daß die ganze Welt schließlich von den Engländern in Besitz genommen wird, daß sie allein die Vorteile daraus ziehen, daß die englische Rasse schließlich zur allein herrschenden wird auf der Erde?

Sind wir denn wirklich nicht reich genug zu dieser Kulturaufgabe? Drücken die Aufwendungen uns so sehr, daß wir sie nicht zu tragen und leisten vermöchten? Unser Nationalvermögen wächst gegenwärtig alljährlich um beträchtlich mehr als eine Milliarde Mark. Allein die Ersparnisse, die in den öffentlichen Sparkassen in jedem Jahre von den Minderbemittelten angelegt werden, betragen zurzeit etwa 700 Millionen Mark, ebensoviel als uns die ganze Kolonialpolitik in 22 Jahren gekostet hat. Und das ist doch nur ein Teil der Zunahme unseres Nationalvermögens. Ueberlegen Sie einmal, was alljährlich für die unnützesten Dinge, wie für Ansichtspostkarten, in Deutschland ausgegeben wird. Ich habe dieser Tage in einem Berichte der Verwaltung gelesen, daß auf der Saalburg, dem alten Römerkastell im Taunus, im verflossenen Jahr 78200 Ansichtspostkarten verkauft worden sind: an einem einzigen Vergnügungsort. Es wäre ein Rechenexempel für den Herrn Erzberger, einmal festzustellen, wie viel Millionen Mark alljährlich in Deutschland für Ansichtspostkarten ausgegeben werden. Für diesen gedankenlosen Unfug wirft das deutsche Volk das Geld zum Fenster hinaus, aber die Aufwendungen für unsere Schutzgebiete können wir nicht erschwingen!

Allerdings lebt von den Ansichtskarten eine große Industrie mit Tausenden von Arbeitern, denen wir den Verdienst herzlich gönnen. Aber ist es etwa bei den Schutzgebieten anders? Wird unsere industrielle Ausfuhr nach den Kolonien nicht gleichfalls im Inlande hergestellt, kommen die Aufwendungen des Reiches für die Schutzgebiete nicht gleichfalls unserer Industrie, unseren Arbeitern zugute? Schon jetzt leben ja viele Tausende von ihnen bereits ausschließlich von der Herstellung der Fabrikate aller Art für deutsches Kolonialland.

Die Einwohnerzahl Deutschlands wächst gegenwärtig Jahr ein, Jahr aus um beinahe 1 Million Menschen. Das ist ein erfreuliches Zeichen unserer Kraft, der Gesundheit unseres sozialen Körpers. Aber möglich ist diese Zunahme nur durch unseren Handel und unsere Industrie. Schon längst ist die Industrie über die Versorgung des inländischen, heimatlichen Marktes hinausgewachsen, für ihre eigene Erhaltung angewiesen auf das Ausland, auf den Weltmarkt. Vom Ausland kommt die überwiegende Masse der Rohstoffe, die unsere Industrie verarbeitet, ein großer Teil der Nahrungsmittel, von denen sie lebt, nach überseeischen Ländern gehen die Erzeugnisse, deren Herstellung die ungeheure Zahl unserer Industriearbeit ernährt.

Unsere Wirtschaftspolitik ist Weltpolitik geworden, sie muß es sein und muß es bleiben. Diese Entwicklung aufhalten, hieße unserem sozialen Körper die Lebensluft rauben, ihm die notwendige Nahrung entziehen, hieße unser gesundes Wachstum hemmen, Tausende und Abertausende brotlos machen, die Eheschließungen erschweren und verzögern, ein namenloses Unglück bringen über unser ganzes Volk.

Die Not, die augenblicklich eintreten würde, wenn der Absatz unserer Erzeugnisse einen erheblichen Rückgang erfahren sollte, würde in den großen Industriezentren beginnen und sich fortsetzen durch alle Volksschichten und alle Landschaften bis in jedes Dorf hinein und bis in den stillsten Winkel unserer Berge. Denn auch die Existenz unserer Bauern hängt auf das innigste mit der Kaufkraft der übrigen Bevölkerung zusammen.

Steht uns nun der Weltmarkt für alle Zukunft so offen, sind unsere Absatzgebiete nirgends bedroht, besteht nirgends Gefahr, ganz abgesehen von einem Kriege, daß diese notwendige Entwicklung aufgehalten und unterbunden werden könnte, ist die Not, von der ich sprach, für alle Zeit ausgeschlossen? Niemand, der die Vorgänge auf dem Weltmarkt beobachtet, kann diese Frage bejahen. Im Gegenteil, die Gefahren zeigen sich an allen Ecken und Enden, sie wachsen an wie drohendes Unwetter, sie ziehen sich um uns herum zusammen und beginnen bereits sich zu entladen.

Auf der anderen Seite des Erdballes suchen die Japaner den europäischen Nationen die Absatzgebiete im fernen Osten zu entreißen. Nordamerika, bis jetzt noch ein Hauptabnehmer unserer Erzeugnisse und der Hauptlieferant der uns unentbehrlichen Rohprodukte, steigert seine Industrie mit den Arbeitskräften, die wir selbst durch unsere Auswanderung dahin immer noch abgaben, mit jedem Jahr, mit Riesenschritten geht es dem Ziel entgegen, sich unabhängig zu machen vom Auslande, selber das Ausland zu überschwemmen mit seinen Erzeugnissen, uns auch den südamerikanischen Markt wegzunehmen. England ist darauf und daran, sein ungeheures Kolonialgebiet durch eine gemeinsame Zollschranke abzuschließen, um alle fremde Konkurrenz davon auszuschließen. Die Großkapitalisten in London, New York und Chicago gehen mehr und mehr darauf aus, die uns unentbehrlichen Rohprodukte aufzukaufen, Ringe zu bilden zur Zurückhaltung der Produktion und damit zur Steigerung der Preise, zu einer Verteuerung des Materials, die bei uns die Verarbeitung nicht mehr lohnend macht.

Im Inlande können und müssen wir solche Ringbildungen, wie sie von den Kohlebaronen versucht werden, die uns die allernotwendigsten Bedürfnisse verteuern, durch gesetzliche Mittel verhindern, wenn es nicht anders geht durch Verstaatlichung oder Expropriation. Aber die Wirkung unserer Gesetzgebung, der Arm unserer Gerichte reicht nicht über das Weltmeer, reicht nicht einmal bis nach Basel. Gegen die Preistreiberei des Petroleumringes, der uns mit jedem Liter Petroleum einen Tribut abfordert, sind wir machtlos, weil wir selbst diesen noch unentbehrlichen Brennstoff nur in verschwindender Menge produzieren können. Mit dem Kupfer, mit der Baumwolle, die nun einmal bei uns nicht gezogen werden kann, mit Kaffee und Kautschuk versucht man dasselbe. Die künstliche Steigerung der Baumwollenpreise durch die Ringbildung im Ausland kostet uns Deutsche jetzt schon alljährlich 150 Millionen Mark, 5 mal soviel als der durchschnittliche Jahresaufwand für unsere Kolonien. Auch mit diplomatischen Mitteln ist dagegen gar nichts zu machen. Sie erinnern sich, daß der berechtigte Versuch, unserem Handel in Marokko die Gleichberechtigung gegen die Monopolgelüste anderer Staaten zu sichern, fast einen Weltkrieg entfacht haben würde.

Gegen alle diese unseren Fortschritt, unsere Existenz, die Existenz von Millionen unserer Mitbürger bedrohende Gefahren gibt es nur ein einziges Mittel der Abwehr, einen einzigen Schutz: eine zielbewußte energische Kolonialpolitik.

Nur in unseren eigenen Kolonien können wir uns Ersatz schaffen für den sicheren Verlust der Absatzgebiete in anderen Ländern, dauernden Ersatz, der zudem einer ungemessenen Steigerung fähig ist. Wir müssen nur unsere Schutzgebiete, die ein Vielfaches der Größe Deutschlands darstellen, entwickeln, wie es England mit seinen Kolonien tut.

Nur wenn wir die Zulassung oder den Ausschluß fremder Konkurrenz in einem eigenen, ausgedehnten Kolonialgebiet in der Hand behalten, können wir uns gegen die Ausschließung unseres Handels aus dem überseeischen Besitz anderer Nationen erfolgreich wehren.

Nur wenn wir in Ländern, die unter unserer Herrschaft stehen, die uns notwendigen Rohprodukte selbst erzeugen, können wir die Ringbildungen, die gewaltsame Verteuerung dieser Rohstoffe durch das Ausland, erfolgreich bekämpfen.

Nur auf unserem eigenen, neudeutschen Boden sind wir imstande, die Tausende unserer Volksgenossen, die in der Heimat keine sichere und sie befriedigende Existenz finden, die alljährlich der Wagemut in die weite Welt treibt, davor zu bewahren, daß sie und ihre Nachkommen ihr deutsches Volkstum, ihre Sprache, ihre Sitte und ihre Region, die Gemeinschaft mit dem Vaterlande verlieren, und der Heimat durch ihre Arbeit statt zu nützen eine nachteilige Konkurrenz bereiten.

Das alles können unsere Kolonien uns leisten. Wir brauchen keine andere Nation um ihren kolonialen Besitz zu beneiden. Es ist gar nicht wahr, daß wir zu kurz gekommen seien, weil wir erst in zwölfter Stunde gekommen sind, als die übrige Welt schon verteilt war. In unseren Schutzgebieten besitzen wir nutzbares Land, nutzbar zu Plantagenbetrieb oder zu Ansiedlung, das zusammen fünf mal so groß als das Deutsche Reich ist. Dort lassen sich mit der Zeit fast alle Rohprodukte im Ueberschuss herstellen, die unsere heimische Arbeit nötig hat. Auf unabsehbare Zeit reichen die Naturschätze unserer Schutzgebiete wenn wir sie richtig ohne Raubbau zu treiben, heben, wenn wir ihre Nutzbarmachung organisieren, aus, um uns in der Heimat die Möglichkeit der Arbeit zu sichern, auch wenn unser Volkstum noch immer weiter zunimmt. Darüber sind alle Sachverständigen einig, zu denen ich freilich nur die Fachmänner nehme, die in den Kolonien gewesen sind, die Botaniker, die Aerzte, die Ingenieure, die Farmer und Kaufleute, nicht den Herrn Erzberger und seines Gleichen.

* * *

Das sind doch, dächte ich, so einfache, so überzeugende, so schlechthin zwingende Erwägungen, daß es schier unbegreiflich ist, wie es überhaupt noch Gegner einer zielbewußten Kolonialpolitik bei uns geben kann, am unbegreiflichsten, daß gerade die Sozialdemokratie, die so gern die Vertretung unseres Arbeiterstandes für sich allein in Anspruch nehmen möchte, nicht mit aller Gewalt im Interesse des Arbeiterstandes darauf hinarbeitet.

Ich meine, wenn man diese Verhältnisse sich klar macht, so müsse es Einem wie Schuppen von den Augen fallen. Und nur den einen Vorwurf könnten wir erheben: Warum hat man uns das nicht längst gesagt, warum hat man uns das nicht längst klar gemacht?

Meine Herren! Diesen Vorwurf sollten wir nicht so unbedingt gelten lassen. Sind nicht gerade die Männer die Aufklärung über unsere kolonialen Verhältnisse zu verbreiten suchten, als Kolonialschwärmer verspottet, durch diesen Spott mundtot gemacht, haben die Spötter nicht selber sich die Ohren verschlossen gegen alles, was sie uns sagen wollten?

Und wie haben die berufenen Vertreter des deutschen Volkes, die Mitglieder des Reichstages, die kolonialen Fragen behandelt? Sie, die doch vor allem die Aufgabe gehabt hätten, statt unfruchtbare, mißliebige Kritik zu üben, die Ziele unserer nationalen Wirtschaft klar zu erkennen und im Interesse der Allgemeinheit zu vertreten? Wie ein Korrektor, der einen Druckbogen durchliest, nur auf die Fehler des Setzers achtet, auf den oder jenen falschen Buchstaben, aber um Inhalt und Sinn des Textes sich nicht kümmert, so haben sie immer nur die Fehler herausgesucht, und wo sie eine Verfehlung fanden, ein ungeheures Geschrei erhoben.

Seit Jahr und Tag tischt man uns diese Greuelgeschichten auf, als ob bei uns daheim nicht Widerwärtiges gerade genug passierte, endlos werden die Verfehlungen der paar Leute, die sich schlecht benommen haben, breit getreten. Immer sind es dieselben Namen, die dadurch, daß sie ewig wiederholt werden, zu einer traurigen Berühmtheit gelangt sind. Sie haben durch ihre Verfehlungen eine schwere Schuld auf sich geladen und Deutschland einen kolossalen Schaden gegeben. Aber unter dem Schutz der Immunität der Abgeordneten werden auch andere tüchtige, pflichttreue Beamte auf verlogene Berichte hin beschuldigt und verurteilt. Von den Hunderten, die im Dienste des Vaterlands und der Kultur da draußen in den Kolonien ihre Pflicht getan, die ihr Leben und ihre Gesundheit geopfert haben, die zum Teil ausgeharrt haben bis in den Tod, von denen ist nicht die Rede. Kein Wort der Anerkennung, kein Wort des Dankes! Nein, dadurch, daß der Anschein erweckt worden ist, als ob so ziemlich jeder, der in die Kolonien geht, ein Schurke sei, ist die Ehre aller mit in den Kot gezogen worden.

Uns nun ziehen diese Leute noch gar im Lande herum, bringen immer wieder den alten Klatsch vor, rühmen sich sogar noch ihrer Verdienste. Schöne Verdienste!

In schwieriger Zeit, wo in dem Kolonialamt alle Hände mit der Sorge für unsere draußen kämpfenden Truppen, mit der Wiederaufrichtung unseres schwer heimgesuchten Schutzgebietes zu tun hatten, in solcher Zeit der höchsten Anspannung haben sie unsere Kolonialbeamten durch unaufhörliche sogenannte Enthüllungen in Aufregungen versetzt, durch verkehrte Anklagen und Beschuldigungen in Verzweiflung gebracht, die Arbeit, dort wo sie so nötig war, lahm gelegt. Und ihr zweites Verdienst ist, daß sie uns vor dem Auslande bloßgestellt haben, als ob unsere Herrschaft nur in Willkür und Grausamkeit bestände. Mit ihren gewissenlosen, unsinnigen Anklagen haben sie den deutschen Namen und die deutsche Ehre besudelt! Und das Hauptverdienst dabei war, daß sie dem deutschen Volke selbst einen solchen Dunst vor die Augen gemacht haben, daß wir die wahren Verhältnisse und Aufgaben nicht zu erkennen vermochten.

Aber Gott sei Dank! Der Hauch, der sich am 13. Dezember erhoben hat, der ist zum Sturm geworden, und über die schneebedeckten Gaue unseres Vaterlandes hat er den Nebel und den Gestank weggefegt und er hat die Herzen frei gemacht, daß wir wieder mit freudigem Mut in die Zukunft blicken. Mag diese Wahl jetzt ausfallen wie sie will; mögen sie noch weiter reden, was sie wollen. Das wissen wir schon heute: Das Zentrum und seine Leute haben mit ihrer Kolonialstänkerei abgewirtschaftet.

Und diesen Sieg verdanken wir in erster Linie dem jungen Mann, der seit langer Zeit zum ersten Mal wieder von dem Regierungstisch im Reichstag ein freies Wort gewagt hat, der die Fesseln gesprengt hat, in die uns die Herrschsucht des Zentrums geschlagen hatte, der das deutsche Volk aufgeklärt hat über den wahren Wert seines kolonialen Besitzes und über seine nationalen Aufgaben, den Sieg verdanken wir Bernhard Dernburg.

Wie David den Riesen Goliath, so hat der kleine Bernhard den Stumpfsinn hingestreckt und die Unwissenheit und Anmaßung. Wie heißt es doch in dem Studentenlied:

„Er hatte Knochen wie ein Gaul,
Und ein entsetzlich großes Maul,
Doch nur ein kleines Hirn!“

Von diesem Riesen lassen wir uns nicht mehr einschüchtern! Lieber wollen wir auf die Mahnung hören, die Dernburg von München aus dem deutschen Volke zuruft:

„Die Gleichgültigkeit der deutschen Nation gegenüber den Kolonien hat es zuwege gebracht, daß einige eifrige Männer mit Motiven besonderer Art und einseitigen und zum Teil kleinlichen Gesichtspunkten um unser koloniales Wesen große Scheiterhaufen angezündet haben, in denen sie versuchen, unsere Bestrebungen, unsere Beamten, unsere Einrichtungen und unser Wollen in Bausch und Bogen zu verbrennen. Neben diese Scheiterhaufen haben sie die eigenen kleinen selbstsüchtigen Suppentöpfchen gestellt, um dort ein Gebräu gar zu machen, das sie als die Essenz des deutschen kolonialen Wesens und Strebens ausgegeben haben und mit dem sie unsere Nation und, wie ich hoffe, nicht zuletzt sich selbst vor In- und Ausland heruntergesetzt haben. Meine Herren, diesen Scheiterhaufen werfen wir zusammen.“


ZUM TODESTAG DES HISTORIKERS

Samstag, 21. März 2015

Rudolf von Gottschall: Die politischen Attentate im neunzehnten Jahrhundert

Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden,
Und das neue öffnet sich mit Mord.


So sang einst Friedrich Schiller. Er ahnte nicht, daß in diesem neuen Jahrhundert der politische Mord eine grosse Rolle spielen, daß er schließlich in ein System gebracht und die Losung einer ganzen Partei werden würde. Der politische Mord ist so nicht von gestern oder heute. Fürsten und Staatsmänner und Parteiführer sind zu allen Zeiten meuchlerischen Attentaten zum Opfer gefallen. Aber dem neunzehnten Jahrhundert blieb es vorbehalten, eine Partei hervorzubringen, in deren Lehre der politische Mord einen wesentlichen Bestandteil, ein Mittel der Propaganda bildet.

Oft genug hat man für mildernde Umstände bei der moralischen Verurteilung jener Morde und Mordversuche plädiert, welche von der Gesetzgebung gerade mit den härtesten Strafen bedroht werden: man wollte einen Möros, welcher, den Dolch im Gewande, sich zu Dionysios schleicht, um die Stadt vom Tyrannen zu befreien, nicht in eine Linie stellen mit dem gemeinen Mörder: das Gesetz aber bestraft hier schon den Versuch mit dem Tode. Der Mord aus blindem Fanatismus ist stets verurteilt worden; aber ein Mord aus patriotischem Gefühl, um ein politisches Ideal vor schmachvoller Entweihung zu retten, hat doch seine Anwälte gefunden, selbst bei edeldenkenden Geistern. Wir erinnern nur an Charlotte Corbay, zu deren Ehrenrettung sogar ein weichgestimmter deutscher Idealist wie Jean Paul mit begeisterten Hymnen eingetreten ist. Freilich, sie lebte in einer Zeit, in welcher der politische Mord gesetzmaßig organisiert war und eine Schreckensherrschaft mit der stets bereiten Guillotine die widerstrebenden Parteien decimierte. Und von dem blutigen Hintergrunde alltäglich gewordener Greuel hebt sich ihr Bild fast wie eine Idealgestalt ab – die schöne Mörderin neben dem häßlichen widerwärtigen Opfer; und wie oft hat man den blutdürstigen Volksheiligen Marat verdammt und die jungfräulichreine und edle Charlotte Corday gepriesen!

Der Größenwahn eines Herostrat, der sich einen Namen machen wollte, indem er den Tempel der Diana in Ephesus in Flammen steckte, hat vielen das Messer und das Mordgewehr in die Hand gedrückt, um mit dem Untergang gekrönter Häupter ihren Namen zu verknüpfen und ihm Dauer zu verschaffen. Sehr viele, die den Entschluß zu solcher That aus der eigenen Brust schöpften, litten an solchem Größenwahn; aber auch von denjenigen, die nur als Werkzeuge geheimer Verbindungen, als ausgeloste Vollstrecker eines von jenen gefällten Todesurteils zur Mordwaffe griffen, berauschten sich an dem Gedanken eines Nachruhms, der einem solchen verbrecherischen Heldentum ein dauerndes und bei Gleichgesinnten rühmliches Angedenken sichert.

Wenn wir hier die Reihe der politischen Attentate im neunzehnten Jahrhundert vor uns vorüberziehen lassen, so haben wir von vornherein eine Anzahl solcher auszuscheiden, bei denen keinerlei politisches Motiv dem Angreifer die Hand führte und die nur um deswillen unter den politischen Attentaten aufgezählt zu werden pflegen, weil sie eine hervorragende politische Persönlichkeit zum Ziel hatten. Aus Privatrache schoß der ehemalige Bürgermeister Tschech am 26. Juli 1844 auf König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, und der Sattlermeister, der am 26. März 1854 den verlotterten Herzog Karl III. von Parma inmitten vieler Zuschauer mit einem Dolche durchstieß, grollte dem Herzog, weil er von ihm öffentlich eine Ohrfeige erhalten hatte. Jener Gaiteau, der am 2. Juli 1881 den Präsidenten der Vereinigten Staaten James Garfield zu Washington mit seinem Revolver auf den Tod verwundete, war nichts anderes als ein mißvergnügter Stellenjäger, der seine Unzufriedenheit am Staatsoberhaupte ausließ. Vollends außer Betracht fallen die fruchtlosen Versuche einiger Irren, die der Größenwahn auf die Glorie des Königsmörders erpicht machte. Angriffe solcher Art hat insbesondere die Königin Viktoria von England eine ganze Reihe erlebt; auch der ehemalige Unteroffizier Sefeloge, der am 22. Mai 1850 die Hand wider Friedrich Wilhelm IV. erhob, war irrsinnig.

Auch wenn wir diese Fälle beiseite lassen, wenn wir ferner absehen von Mordthaten, die in offenem Aufruhr begangen wurden, wie jene, denen der Graf Latour in Wien, der General Auerswald und der Fürst Lichnowsky in Frankfurt, Graf Rossi, der päpstliche Minister in Rom, im Revolutionsjahre 1848 zum Opfer fielen – so ist die Kette von Attentaten, die sich durch das neunzehnte Jahrhundert hindurchzieht, noch immer erschreckend groß. Frankreich, das Land der politischen Umwälzungen, ist besonders reich daran. Das Attentat auf den ersten Konsul Bonaparte am Weihnachtsabend des Jahres 1800 eröffnete den Reigen. Wegen seiner Folgen gehört es mit in unser Jahrhundert. Seine Anstifter sind unter den königstreuen Chouans zu suchen, unter den Landsleuten und Gesinnungsgenossen George Cadoudals, der aber selbst an diesem Attentat nicht beteiligt scheint. Ein früherer Marineoffizier namens St. Rejant fertigte mit zwei Genossen eine Höllenmaschine an, die aus einem mit Kartätschenkugeln geladenen Pulverfaß bestand. Am Weihnachtsabend, als Bonaparte in die Oper fuhr, um Haydns „Schöpfung“ zu hören, führten die Verschworenen das Faß auf einem mit einem Pferde bespannten Karren an die engste Stelle der Straße St. Nicaire, durch welche der Wagen des Konsuls durchfahren mußte. St. Rejant blieb allein zurück und beging noch die empörende Grausamkeit, das Pferd von einem fünfzehnjährigen Mädchen halten zu lassen. Als der Wagen Bonapartes sich näherte, zündete St. Rejant die Lunte an und entfloh. Doch die Lunte brannte zu langsam und der zufällig betrunkene Kutscher des Konsuls fuhr zu rasch, so daß, als die Explosion erfolgte, der Wagen schon vorbei und durch eine Umbiegung der Straße gedeckt war; nur die Fenster der Karosse zersprangen, das Mädchen und das Pferd aber sowie die nächsten Häuser flogen in die Luft. St. Rejant und der eine seiner Genossen mußten das Schafott besteigen; nur der andere entkam.
Den Versuch, der 1800 mißlungen war, wiederholte Cadoudal persönlich einige Jahre darauf mit ebensowenig Erfolg. Im Jahre 1803 hielt er sich verkleidet in Paris auf, wohin er mit gleichgesinnten Edelleuten und Chouans gekommen war. In seiner Begleitung befand sich Pichegru, ein General der Republik, und auch Bonapartes Nebenbuhler, Moreau, nach jenem der gefeiertste Kriegsheld Frankreichs, wußte von der Verschwörung. Allein Fouche, obschon damals nicht Chef der Polizei und beiseite geschoben, weil er in den Augen vieler anständigen Leute mißliebig war, entdeckte durch seine Agenten die neue Verschwörung, die von einigen eingeschüchterten Genossen verraten wurde. Cadoudal wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet (26. Juni 1804); General Pichegru erdrosselte sich selbst im Gefängnis.

So groß später der Haß war, den der siegreiche Imperator bei den besiegten und unterdrückten Völkern gegen sich entflammte, so nahte sich ihm doch nur ein einziges Mal die Gefahr, ermordet zu werden. Es war nach den blutigen Schlachten von Aspern und Wagram im Jahre 1809; Napoleon leitete in Schönbrunn die Friedensunterhandlungen mit Oesterreich; da suchte am 13. Oktober ein Deutscher aus Naumburg, der Predigersohn Friedrich Stapß, ein achtzehnjähriger Jüngling, sich in verdächtiger Weise der Person des Imperators zu nähern; man nahm ihn fest und er gestand, er habe Napoleon als den Verderber des deutschen Vaterlandes umbringen wollen. Der Kaiser fragte ihn, ob er ein Narr oder ein Illuminat sei; er erklärte, er sei kein Narr und wisse nicht, was ein Illuminat sei. Napoleon wollte ihm verzeihen und ihm das Leben schenken. „Ich will keine Verzeihung,“ sagte Stapß. „Würden Sie mir nicht danken, wenn ich Sie begnadigte?“ „Ich würde Sie doch zu töten suchen,“ versetzte der Jüngling. Erbittert über diesen Trotz, ließ ihn der Kaiser erschießen.
Während im Westen Napoleons Stern noch im Aufsteigen begriffen war, ward im Osten Europas ein Beherrscher des mächtigen russischen Reiches das Opfer einer Palastverschwörung. Der Zar Paul I. war, obwohl nicht ohne gute Anlagen, unter dem Druck furchtbarer Lebenserfahrungen zu einem Despoten schlimmster Sorte ausgeartet. Jene Mischung von Großmut und Mißtrauen, von hochherzigen Anwandlungen und asiatischen Sultanslaunen, die seine innere und äußere Politik so schwankend und unberechenbar machte, prägte sich am allerpeinlichsten im persönlichen Verkehr aus. Infolgedessen bildete sich eine Verschwörung, deren Haupt Graf Peter Pahlen, damals der einflußreichste Mann in des Kaisers Umgebung, war und deren Fäden bis in die kaiserliche Familie sich erstreckten. In der Nacht des 23. März 1801 drangen die Verschworenen in den Michailowschen Palast, wo der Zar damals residierte, überraschten ihn in seinem Schlafgemach, schienen aber anfangs nur entschlossen, ihn zur Abdankung zu zwingen, bis entweder der Widerstand Pauls ober die Furcht und der persönliche Haß einzelner Verschworenen eine tragische Wendung herbeiführten.

Als nach den Befreiungskriegen, nach dem Sturze der Napoleonischen Herrschaft, die deutsche Jugend der Universitäten sich auflehnte gegen die freiheitsfeindlichen Beschlüsse der Kabinette und gegen die Ueberwachung durch auswärtige diplomatische Sendlinge, da war die Bewegung der Geister so mächtig geworden, daß ein religiös schwärmerischer und patriotisch begeisterter Student zum Dolche griff, um die Achterklärung, die auf einen dieser Agenten geschleudert worden war, zu vollziehen. Wie in früheren Jahrhunderten ein Abgesandter der Feme sein Opfer aufsuchte, um ihm den Todesstoß zu geben, so wanderte der junge Theologe Karl Ludwig Sand von Jena nach Mannheim, wohin sich der russische Staatsrat August von Kotzebue kurz vorher begeben hatte, und stieß ihn dort am 23. März nieder. Die That erregte ungeheueres Aufsehen, man verurteilte den Thäter, aber man bemitleidete ihn. Kotzebue hatte sich in der letzten Zeit als besoldeter russischer Agent im höchsten Grabe verhaßt gemacht. Schon beim Wartburgfest hatten die Studenten Kotzebuesche Schriften dem Scheiterhaufen überantwortet, auf dem mißliebige und geächtete Werke verbrannt wurden. Sand stieß sich gleich nach der That den Dolch in die Brust, erlag aber der schweren Verwundung nicht; am 20. Mai 1829 endigte er zu Mannheim auf dem Schafott.

In demselben Jahre wurde in Frankreich ein politischer Mord begangen, welcher geeignet schien, der ganzen Dynastie der Bourbons, die seit 1815 wieder die Krone dieses Landes trug, den Todesstreich zu versetzen. König Ludwig XVIII. hatte keine Kinder, sein Bruder, der spätere König Karl X., zwei Söhne, von denen der älteste, der Herzog von Augoulême, kinderlos war, so daß die ganze Hoffnung der Dynastie auf dem zweiten, dem Herzog von Berry, ruhte, der nur eine Tochter hatte. Als der Herzog am l3. Februar 1820 aus der Oper kam, wurde er von einem gewissen Louvel, einem Sattler des königlichen Marstalls, mit einem großen Messer erstochen. Der Mörder hatte die That aus fanatischem Haß gegen das bourbonische Regiment vollbracht. Louvels Berechnung erwies sich übrigens als verfehlt; die Herzogin von Berry gebar nach dem Tode ihres Gatten einen Thronerben, Heinrich V., der allerdings nie den Thron besteigen sollte.

Wo sich wie in Frankreich Revolutionen und Staatsstreiche in rascher Folge ablösten, da mußten auch die Attentate auf die Staatsleiter sich öfters wiederholen. Am meisten war das unter der friedlichen Regierung Louis Philipps der Fall, die eine größere Masse von Zündstoff aufhäufte als selbst die Regierungen der volksfeindlichen Bourbonen. Nicht weniger als acht Mordanfälle sind auf den „Bürgerkönig“ gemacht worden, ohne daß ein einziger sein Ziel erreicht hätte.

Am raffiniertesten durch die Art der dabei verwendeten Höllenmaschine und am furchtbarsten in seiner Wirkung war das Attentat Fieschis am 28. Juli 1835. Bei der fünften Feier des Julifestes ritt der König zur Musterung der Nationalgarde und der regulären Truppen mit großem Gefolge die Boulevards entlang, als aus einem kleinen Hause sich eine Explosion entlud, ein ganzer Hagel von Flintenkugeln, welche dicht hinter dem König den Marschall Mortier und eine ganze Anzahl weiterer Personen des Gefolges – im ganzen 18 – töteten und über 20 verwundeten. Dem König streifte eine Kugel die Stirne, eine zweite verursachte eine Quetschung des linken Arms, eine dritte durchbohrte den Hals seines Pferdes. Die neue Höllenmaschine bestand aus einer Verbindung von angeblich mehr als hundert Flinten (nach anderen Zeugnissen sollen es nur 24 gewesen sein), die hinter einem Fensterlanden angebracht waren und gleichzeitig losgefeuert wurden. Der Urheber des Attentats war der Korsikaner Fieschi, ein ziemlich verkommener Abenteurer, der bei dem unglücklichen Landungsversuch Murats an der neapolitanischen Küste sich beteiligt hatte, dafür zum Tode verurteilt, aber wieder begnadigt worden war, später wegen Urkundenfälschung zehn Jahre im Zuchthaus gesessen hatte und zuletzt aus einer Anstellung bei der Polizei wegen Veruntreuungen entlassen worden war. Er wurde sofort ergriffen und dann samt zwei Spießgesellen hingerichtet.

Fast ebenso häufig wie Louis Philipp wurde der dritte Napoleon von mörderischen Angriffen bedroht, besonders im Anfange seiner Regierung. Der „Mann des 2. Dezember“ war in seiner Jugend ein Schwärmer für die Freiheit und Einheit Italiens gewesen, ganz wie später die Anhänger Mazzinis, und als der Kaiser nicht hielt, was einst der Prinz verheißen, da galt er in den Augen der früheren Brüder als strafwürdiger Abtrünniger; mancher mochte auch wohl noch hoffen, daß Bedrohung seines Lebens ihn zu einem entscheidenden Schritt zu gunsten des „jungen Italiens“ drängen könnte. Kurz, die Zahl der italienischen Femboten ist keine geringe. Keiner aber hat so schreckliche Arbeit gemacht wie der Graf Orsini – auch er freilich traf das gesuchte Opfer selbst nicht, wie er gewünscht hatte. Das Bombenattentat Orsinis vom 14. Januar 1858 ist das blutigste, das je gegen ein gekröntes Haupt verübt worben ist. Man zählte 141 Tote und Verwundete, darunter von der Polizei. Einer der Verwundeten hatte sich in eine Apotheke begeben und dieselbe rasch wieder verlassen; bald darauf fragte ein Fremder ängstlich nach ihm – es war Gomez, der Diener des Grafen Felice Orsini, der sich inzwischen in sein Versteck zurückbegeben hatte, dort aber verhaftet wurde. Orsini zeigte eine so edle Begeisterung für die Freiheit seines Vaterlandes, daß man den Mörder, der über hundert Unschuldige dem Tode geweiht hatte, fast darüber vergaß.

Aus der italienischen Einheits- und Freiheitsbewegung war dieses Attentat hervorgegangen, und wie es in der Natur solcher Zeiten staatlicher Umwälzungen liegt, hat auch in Italien selbst der politische Mord seine blutige Rolle gespielt. Von dem Ende des Grafen Rossi zu Rom und dem des Herzogs Karl III. von Parma ist schon oben in anderem Zusammenhange die Rede gewesen. Rein politischer Natur war das Attentat des Soldaten Milano auf König Ferdinand II. von Neapel am 8. Dezember 1856. Hier sollte ein tief verhaßter Gegner der Einheitsbestrebungen getroffen werden. Milano, der den König nur am Schenkel verwundete, erreichte mittelbar doch seinen Zweck. Ferdinand wollte von der Wunde kein Aufhebens machen, und durch ihre Vernachlässigung zog er sich ein schweres Leiden zu, dem er nicht ganz 21/2 Jahre nachher erlag.

Mit der italienischen Bewegung hing auch das Attentat auf Kaiser Franz Josef von Oesterreich am 18. Februar 1853 zusammen. Kurz vorher waren dem großen Komplott in Mailand viele österreichische Soldaten zu Opfer gefallen; es waren revolutionäre Aufrufe Mazzinis und Kossuths erschienen, und aufgehetzt von diesem gemeinsamen Ansturm auf die schwarzgelbe Monarchie, war der junge Ungar Libenyi auf den Kaiser, der auf dem innern Wall der Stadt Wien spazieren ging, mit einem großen Messer eingedrungen und hatte ihn im Nacken verwundet. Der Mörder wurde von dem Adjutanten des Kaisers und einem zufällig hinzukommenden Wiener Bürger zu Boden geworfen. Die Wunde war nicht ganz ungefährlich. Der Mörder wurde zum Tode verurteilt und gehenkt.

Als die italienische Einheit schon fest begründet und auf ihren Gründer, König Viktor Emanuel II., dessen Sohn Humbert gefolgt war, machte ein radikaler Fanatiker, der Koch Passanante, am 17. November 1878 in Neapel einen Mordanfall auf den König; doch der mit im königlichen Wagen sitzende Minister Cairoli lenkte den Dolch des Mörders ab, so daß der König nur eine leichte Verletzung erhielt, Cairoli aber schwerer am Beine verletzt wurde. Passanante wurde zu Tode verurteilt, aber zu lebenslänglicher Zwangsarbeit begnadigt.

Die deutsche Revolution von 1848 hat zwar blutige Aufstände, Kämpfe, Belagerungen und militärische Hinrichtungen in großer Zahl aufzuweisen, doch kein politisches Attentat im eigentlichen Sinne. Erst als König Wilhelm I. den preußischen Thron bestiegen, entsprang aus der Enttäuschung eines überspannten Gemüts ein Mordplan. Der junge Student Oskar Becker glaubte eine weltgeschichtliche Sendung zu erfüllen, als er am 14. Juli 1861 in der Lichtenthaler Allee in Baden-Baden auf den König beide Läufe eines scharfgeladenen Terzerols aus nächster Nähe abfeuerte, wobei der Fürst nur unbedeutend verwundet wurde; Becker wollte die That mit seiner Ueberzeugung begründen, der König sei den Umständen nicht gewachsen und nicht fähig, die Einigung Deutschlands herbeizuführen. Er wurde zu zwanzigjährigem Zuchthaus verurteilt, 1866 aber auf Fürsprache des Königs von Preußen von der badischen Regierung begnadigt.

Als dann König Wilhelm nach unvergänglichen Großthaten die deutsche Kaiserkrone trug, da schoß der Klempnergeselle Hoedel am 11. Mai 1878 einen Revolver auf ihn ab, glücklicherweise ohne zu treffen. Hoedel war früher ein Kolporteur sozialdemokratischer Blätter gewesen, dann aber von der Sozialdemokratie selbst von ihren Rockschößen abgeschüttelt worden; er wurde hingerichtet. Inwieweit dann das Attentat, das Dr. Karl Eduard Nobiling am 2. Juni 1878 auf den greisen Kaiser verübte, mit bestimmten politischen Motiven zusammenhing, konnte nicht ermittelt werden, da derselbe sich gleich darauf mit einem Revolver in den Hinterkopf schoß und später nur ganz kurze Zeit vernehmungsfähig wurde. Auf den Mitbegründer des Deutschen Reichs, den Ministerpräsidenten von Bismarck, wurde, als er an der Schwelle jener großen Ereignisse stand, welche die politische Weltlage gänzlich wandeln sollten, in Berlin am 7. Mai 1866 ein Attentat verübt. Ferdinand Cohen-Blind schoß „unter den Linden“ in Berlin auf den Minister. An demselben Tage noch öffnete sich Blind im Gefängnis zu Potsdam die Pulsadern. Bismarck war damals der bestgehaßte Mann in Preußen; der Konflikt mit dem Landtag hatte seinen Höhepunkt erreicht; Adressen aus allen preußischen Städten bestürmten den König, er möchte ein neues Ministerium wählen. Da glaubte sich offenbar der junge Blind berufen die Achtserklärung der öffentlichen Meinung zu vollziehen, den „Feind der Freiheit und des Friedens“ zu vernichten. Etwa acht Jahre später, nach des Deutschen Reiches Gründung, in der Zeit des Kulturkampfes, schoß der Böttchergeselle Kullmann zu Kissingen am 13. Juli auf den Reichskanzler, „um der Kirchengesetze willen“, und verwundete ihn leicht an der Hand.

Auch in den andern europäischen Ländern fehlte es keineswegs an verwegenen Köpfen, die politische Wirrnisse mit der Mordwaffe im eigenen Sinne zu lösen suchten. Insbesondere häuften sich im revolutionsreichen Spanien die Anschläge gegen Könige und Staatsmänner. Schon 1852 war die Königin Isabella von dem fanatischen Priester Merino angefallen worden; General Prim, der allmächtige Ministerpräsident, erlag im schicksalsreichen Jahre 1870 den Wunden, die ihm von meuchlerischen Händen beigebracht waren, König Amadeus sowohl wie König Alfons waren wiederholt bedroht.

Der große amerikanische Bürgerkrieg, der mit der Niederlage der Südstaaten endete, hatte ein blutiges Nachspiel in der Ermordung des würdigen Präsidenten Abraham Lincoln durch John Wilkes Booth, der ihn am 14. April 1865 im Theater in Washington erschoß. Der Mörder, ein Bruder des berühmten Schauspielers Edwin Booth und selbst Schauspieler, ein fanatischer Anhänger der unterlegenen Sklavenhalterpartei, entkam auf seiner Flucht bis Virginien, wurde aber dort entdeckt und von seinen Verfolgern erschossen.

In der Geschichte des politischen Mordes trat aber eine bezeichnende und bedeutsame Wendung ein, als derselbe in ein System gebracht und geheimbündlerischen Bestrebungen dienstbar gemacht wurde. Dies geschah in den letzten Jahrzehnten durch den Nihilismus und den Anarchismus, die beide gegenwärtig als furchtbare im Hintergrund lauernde Mächte die politische Weltlage beunruhigen und bedrohen. Die gemeinsamen Wurzeln beider sind in Rußland nachzuweisen. Der Stammvater des einen wie des andern ist Michael Bakunin der in deutschen, österreichischen und russischen Kerkern gesessen, aus Sibirien über Japan entkommen, mit den Revolutionären in aller Herren Ländern die nächste Fühlung genommen hat und die Brandfackel schwang, die Vernichtung alles Bestehenden predigend; er ging sogar der Internationalen zu weit, die sich von ihm lossagte. Sein Schüler Retschajew zog dann die letzten Folgerungen seines Systems; er lehrte die „Propaganda der That“, die sich um ihre Opfer nicht kümmert, und pries alle Gewaltmittel, die dem Werke der Zerstörung dienten.

Es würde zu weit führen, wollten wir alle nihilistischen Anschläge, die sich durch die letzten Jahrzehnte der russische Geschichte hindurchziehen, hier einzeln aufzählen – von dem Attentat eines Dimitrij Karakasow gegen Alexander II. (16. April 1866) bis zu den ausgerissenen Schienen bei Borki, welche den Bahnzug mit Kaiser Alexander III. zur Entgleisung brachte (29. Oktober 1888), ja bis herab zu dem teuflischen und glücklicherweise rechtzeitig vereitelten Plane, die Einweihung der Gedächtniskirche in Borki zu einem neuen Attentat zu benutzen (Juni 1894), bilden sie eine furchtbare Kette, der Regierenden Leben mit steter Todesdrohung verdüsternd, aller Ueberwachung und blutigen Unterdrückung spottend. Und am 13. März 1881 hat denn auch der Nihilismus einen traurigen Triumph erlebt – an diesem Tage endigte Alexander II., von einer platzenden Bombe schwer verstümmelt, sein Märtyrerdasein. Es war das sechste Attentat, das gegen den Kaiser persönlich gerichtet war.

Wenn der Nihilismus im Osten das Erbe Bakunins gleichsam nur mit Vorbehalt angetreten hat, so hat der Anarchismus das Evangelium der Zerstörung um jeden Preis, wie es Bakunins Schüler verkündigte, rückhaltlos angenommen. Die Nihilisten haben noch ein politisch-sociales Programm, die Anarchisten bekämpfen jedes Programm, in welchem noch das „Gespenst einer gesetzgeberischen Macht spukt“; sie verwerfen jede Herrschaft. Nicht bloß die Lenker der Staaten, auch die friedlichen Bürger, die ein Besitzrecht haben und damit eine Herrschaft ausüben, sind ihrem Hasse verfallen. Wohin die Mordwaffe treffen mag, sie mordet im Dienst der „guten“ Sache.

Trotz dieser Lehre waren die anarchistischen Mordanschläge in den romanischen Ländern nicht alle ohne einen bestimmten Zweck; Ravachols erstes Dynamit-Attentat am 11. März 1892 richtete sich gegen den Präsidenten eines Schwurgerichtshofes, der Anarchisten verurteilt hatte, ein zweites am 28. März galt dem Uutersuchungsrichter Buloz. Und als Ravachol am 25. April 1892 vor Gericht gestellt werden sollte, da erfolgte, um dieses einzuschüchtern, am 25. April die Explosion im Restaurant Bery wo Ravachol verhaftet worden war. Es handelt sich also hier um die Verfolgung ganz bestimmter verhaßter Personen, um ganz bestimmte Racheakte. Der Bombenwurf des Anarchisten Pallas gegen den spanischen General Martinez Campos am 24. September 1893, die Unthat Baillants, der am 9. Dezember 1893 seine Bombe in den gefüllten Sitzungssaal der französischen Abgeordnetenkammer schleuderte, um die französischen Gesetzgeber zu zerschmettern, der Revolverangriff Paolo Legas auf den italienischen Ministerpräsidenten Crispi am 16. Juni 1894 und endlich der ruchlose Dolchstoß Caserios, der am 24. Juni 1894 den unglücklichen Präsidenteu Carnot durchbohrte, wie jener andere zu Livoruo, der am 1. Juli den Zeitungsverleger Bandi tötete zum Lohne dafür, daß er in seinem Blatte gegen Carnots Mörder geeifert, – sie tragen noch die Spuren einer Art von Zweckgedanken an sich. Ein vollkommen sinnloses Bubenstück aber war das Atteutat Henrys im Terminus-Hotel (12. Februar 1894) und ebenso dasjeige von Pauwels in der Madeleinekirche (14. März 1894) zu Paris, wie die Schandthat Salvators, der im Teatro Liceo zu Barcelona am 7. November 1893 gegen hundert Personen tötete und verwundete.

Wenn man behauptet, der Anarchismus sei in Deutschland bisher noch nicht zur „Propaganda der That“ geschritten, so vergißt man den entsetzlichsten aller anarchistischen Mordversuche, dem gegenüber die Kaffeehausbomben der Pariser Mordgesellen als Kinderei erscheinen: das beabsichtigte Attentat am Niederwald. Von dem deutschen Anarchisten Reinsdorf ging der furchtbare Plan aus, bei der Einweihung des Denkmals auf dem Niederwalde am 28. September 1883 den Kaiser und seine Paladine, zahlreiche deutsche Fürsten und Generale, den Vorstand des Reichstags, alle hervorragenden Träger des Reichsgedankens mit einem Schlage in die Luft zu sprengen. Der Regen bewirkte, daß die Zündschur der Dynamitlegung versagte. Erst später wurden diese neuen Herostrate, die Schriftsetzer Reinsdorf und Küchler und der Sattler Rupsch, dingfest gemacht, von dem Reichsgericht verurteilt und die beiden ersten am 13. Februar 1885 in Halle enthauptet. Auch die Ermordung des Polizeirats Rumpf zu Frankfurt a. M. durch Lieske (Januar 1885) ist eine anarchistische Greuelthat auf deutschem Boden. In der That haben die Theorien Bakunins den Weg von Rußland nach dem Westen über Deutschland genommen und leider hier – wir verweisen nur auf den Buchbinder Joh. Most – fanatische Apostel gefunden.

Von Stapß zu Caserio – welch ein Abstand! Dort der schwärmerische Predigersohn, der auszieht, die Seufzer und Thränen von Millionen zu rächen, das heilige Vaterland vom fremden Unterdrücker zu befreien, – hier der vaterlandslose Geselle, der ein durchaus friedlich gesinntes Staatsoberhaupt ersticht, nur um die Welt, soweit sie in staatlicher Ordnung sich wohl fühlt, aufzuscheuchen in jähem Schreck. Welch abgerundtiefe Kluft anscheinend zwischen beiben! Und doch steht nur der eine am Anfang, der andere am Ende einer verhängnisvollen schiefen Ebene, einer sittlichen Entartung, in deren Verlauf sich das schwärmerische Jünglingsantlitz in eine höhnisch grinsende Grimasse verwandelt.

(Artikel im 'Gartenlaube'-Heft 44 von 1894)

ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1823-1909)