Dienstag, 30. September 2014

Franz Oppenheimer: Der Staat

Wir haben die Entwicklung des Staates in ihren Hauptzügen aufzudecken versucht von der fernsten Vergangenheit bis zur Gegenwart, dem Erdforscher ähnlich, der einen Strom von seinen Quellen abwärts verfolgt bis zum Austritt in die Ebene. Breit und gewaltig rollt er seine Wogen an ihm vorbei, bis er im Dunst des Horizontes verschwindet ins Unbekannte, noch nicht Erforschte, für ihn Unerforschliche.

Breit und gewaltig rollt auch der Strom der Geschichte - und alle Geschichte bis heute ist Staatengeschichte - an uns vorbei, und sein Lauf entschwindet uns in den Nebeln der Zukunft. Dürfen wir es wagen, Vermutungen über seinen ferneren Lauf anzustellen, bis er, »dem erwartenden Erzeuger freudebrausend an das Herz« sinkt? Ist eine wissenschaftlich begründete Prognose der künftigen Staatsentwicklung möglich?

Ich glaube, daß sie möglich ist. Die Tendenz der Entwicklung des Staates führt unverkennbar dazu, ihn seinem Wesen nach aufzuheben: er wird aufhören, das »entfaltete politische Mittel« zu sein, und wird »Freibürgerschaft« werden. Das heißt: die äußere Form wird im wesentlichen die vom Verfassungsstaate ausgebildete bleiben, die Verwaltung durch ein Beamtentum: aber der Inhalt des bisherigen Staatslebens wird verschwunden sein; die wirtschaftliche Ausbeutung einer Klasse durch die andere. Und da es somit weder Klassen noch Klasseninteressen mehr geben wird, wird die Bürokratie des Staates der Zukunft jenes Ideal des unparteiischen Wahrers des Gemeininteresses wirklich erreicht haben, dem die heutige sich mühsam anzunähern versucht. Der »Staat« der Zukunft wird die durch Selbstverwaltung geleitete »Gesellschaft« sein.

Man hat Bibliotheken geschrieben über die Abgrenzung der Begriffe Staat und Gesellschaft. Von unserem Standpunkt aus läßt sich das Problem leicht beantworten. Der »Staat« ist der Inbegriff aller durch das politische, die »Gesellschaft« der Inbegriff aller durch das ökonomische Mittel geknüpften Beziehungen von Mensch zu Mensch. Bisher waren Staat und Gesellschaft in eins verschlungen: in der »Freibürgerschaft« wird es keinen »Staat«, nur noch »Gesellschaft« geben.

Diese Prognose der Staatsentwicklung ist eine Ineinsfassung aller der berühmten Formeln, in denen die großen Geschichtsphilosophen das »Wertresultat« der Weltgeschichte zu geben versuchten. Sie enthält den »Fortschritt von kriegerischer Tätigkeit zur friedlichen Arbeit« Saint-Simons ebenso wie die »Entwicklung von der Unfreiheit zur Freiheit« Hegels; die »Entfaltung der Humanität« Herders ebenso wie das »Hindurchdringen der Vernunft durch die Natur« Schleiermachers.

(Aus dem Schlusskapitel der erstmals 1909 erschienenen Schrift)

ZUM TODESTAG DES SOZIOLOGEN

Über den Autor (1864-1943)

Montag, 29. September 2014

Rudolf Diesel: Solidarismus. Natürliche wirtschaftliche Erlösung des Menschen

Ihr seid in Deutschland 50 Millionen Menschen, die von Gehalt, Lohn, Salär abhängen [...]. So habt ihr [mit wöchentlich nur einem Pfennig Volkskassenbeitrag] pro Jahr 182 Millionen und in zehn Jahren schon zwei Milliarden Mark zu eurer wirtschaftlichen Erhöhung zur Verfügung. [...] [Das bedeutet eine] vollkommene Gleichsetzung des Einzelinteresses mit dem Gesamtinteresse [...], die freie Vereinbarung der Menschen zu gegenseitiger Gerechtigkeit durch Arbeit, Einigkeit und Liebe. [...] Der Solidarismus ist die Sonne, welche gleichmäßig über alle scheinend durch ihre milde Wärme und ihr glänzendes Licht die Menschheit aus ihrem Winterschlaf zu ihrer wirtschaftlichen Erlösung erwecken wird. [...] Die wahre Genossenschaft tritt gar nicht in die allgemeine Konkurrenz ein, weder für die Produktion noch für den Konsum, sie arbeitet lediglich für ihren eigenen Bedarf. [Sie betätigt sich] im Rahmen bestehender Gesetze, in friedlicher Entwicklung bei vollkommener individueller Freiheit.

(Aus der 1903 veröffentlichten Schrift; zitiert in dem VDI-Nachrichten-Artikel "Die Utopie des Solidarismus von Rudolf Diesel")

ZUM TODESTAG DES INGENIEURS

Über den Autor (1858-1913)

Sonntag, 28. September 2014

Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart

Inzwischen haben sich die alten Formen der Religion noch keineswegs überlebt, und es wird schwerlich dahin kommen, dass es mit ihrem idealen Gehalt jemals völlig vorbei ist, wie mit einer ausgepressten Zitrone, bevor neue Formen des ethischen Idealismus auftreten. So einfach und unverworren geht es im Wechsel irdischer Meinungen und Bestrebungen nicht zu. Der Kultus Apollos und Jupiters war noch nicht ganz bedeutungslos geworden, als das Christentum hereinbrach, und der Katholizismus barg noch einen reichen Schatz von Geist und Leben in seinem Innern, als Luther losschlug. So könnte auch heute wieder eine neue Religionsgemeinschaft durch die Gewalt der Ideen und den Zauber ihrer genossenschaftlichen Grundsätze eine Welt im Sturm erobern, während noch mancher Stamm der alten Pflanzung in voller Lebenskraft dasteht und seine Früchte bringt; die bloße Negation aber prallt ab, wo das Gebiet des Überlebten und Abgestorbenen aufhört, welches ihr verfallen ist. – Ob auch aus den alten Bekenntnissen ein solcher Strom neuen Lebens hervorgehen könnte, oder ob umgekehrt eine religionslose Genossenschaft ein Feuer von so verzehrender Gewalt entzünden könnte, wissen wir nicht; eins aber ist sicher: wenn ein Neues werden und das Alte vergehen soll, müssen sich zwei große Dinge vereinigen: eine weltentflammende ethische Idee und eine soziale Leistung, welche mächtig genug ist, die niedergedrückten Massen um eine große Stufe emporzuheben. Mit dem nüchternen Verstande, mit künstlichen Systemen wird dies nicht geschaffen. Den Sieg über den zersplitternden Egoismus und die ertötende Kälte der Herzen wird nur ein großes Ideal erringen, welches wie ein »Fremdling aus der andern Welt« unter die staunenden Völker tritt und mit der Forderung des Unmöglichen die Wirklichkeit aus ihren Angeln reißt.

Solange dieser Sieg nicht errungen ist, solange keine neue Lebensgemeinschaft den Armen und Elenden fühlen lässt, dass er Mensch unter Menschen ist, sollte man nicht so eilfertig damit sein, den Glauben zu bekämpfen, damit nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Man verbreite die Wissenschaft, man rufe die Wahrheit auf allen Gassen und in allen Sprachen und lasse daraus werden, was daraus wird; den Kampf der Befreiung aber, den absichtlichen und unversöhnlichen Kampf richte man gegen die Punkte, wo die Bedrohung der Freiheit, die Hemmung der Wahrheit und Gerechtigkeit ihre Wurzel hat: gegen die weltlichen und bürgerlichen Einrichtungen, durch welche die Kirchengesellschaften einen depravierenden  [verderblichen] Einfluss erlangen, und gegen die unterjochende Gewalt einer perfiden, die Freiheit der Völker systematisch untergrabenden Hierarchie. Werden diese Einrichtungen beseitigt, wird der Terrorismus der Hierarchie gebrochen, so können die extremsten Meinungen sich nebeneinander bewegen, ohne dass fanatische Übergriffe entstehen, und ohne dass der stetige Fortschritt der Einsicht gehemmt wird. Es ist wahr, dass dieser Fortschritt die abergläubische Furcht zerstören wird, eine Zerstörung, die großenteils schon, selbst unter den untersten Schichten des Volkes, vollzogen ist. Fällt die Religion mit dieser abergläubischen Furcht dahin, so mag sie fallen; fällt sie nicht, so hat ihr idealer Inhalt sich bewährt, und er mag dann auch ferner in dieser Form bewahrt bleiben, bis die Zeit ein Neues schafft. Es ist dann nicht einmal sehr zu beklagen, wenn der Inhalt der Religion von den meisten Gläubigen, ja selbst von einem Teil der Geistlichen noch als buchstäblich wahr betrachtet wird; denn jener völlig tote und inhaltsleere Buchstabenglaube, der immer verderblich wirkt, ist kaum noch möglich, wo jeder Zwang hinwegfällt.


ZUM GEBURTSTAG DES PHILOSOPHEN

Samstag, 27. September 2014

Karl Christian Friedrich Krause: Die reine das ist allgemeine Lebenslehre und Philosophie der Geschichte zu Begründung der Lebenskunstwissenschaft

Der Mensch, als Vernunftwesen, ist fähig und bestimmt, in Freiheit nach Ideen das Gute zu schaffen; er vermag es, Das, wovon er im innersten Geist und Gemüt überzeugt ist, dass es geschehen soll, mit Weisheit als Lebenskünstler ins Werk zu setzen. - Auch Gott denken wir als das unendliche, uinbedingte Vernunftwesen, welches das Eine Leben, nach der Idee des Einen Guten, in unendlicher, unbedingter Freiheit gestaltet. Das endliche vernünftige Wirken des Menschen ist daher mit dem unendlichen vernünftigen Wirken Gottes der Art nach gleich und in Übereinstimmung. Mithin ist der Mensch und die Menschheit in dem freien Bilden des Lebens nach den Ideen des Guten und Schönen Gotte selbst ähnlich. Das Gute und das Schöne ist das Göttlich-Wesentliche selbst; es wird wirklich durch Gott in aller Welt mit unendlicher Vollkommenheit, durch den Menschen aber und die Menschheit auf endliche Weise an einem endlichen Teile.

Der Mensch und die Menschheit sind von Gott selbst dazu bestimmt und berufen, das Gute nach Ideen in sittlicher Freiheit zu verwirklichen, - das Göttlich-Wesentliche in die Geschichte einzubilden. Gottes Geist selbst wirkt und waltet in der Geschichte, und nur Wer dies erkennt, vermag es, auf gottähnliche Weise mitzuwirken in dem ewigen, stetwerdenden Gedichte des unendlichen Künstlers. Ist das Eine Leben Gottes Gedicht, so ist der Mensch eine Person des Gedichtes, welche selbst an der Dichtung endlichen untergeordneten Anteil nimmt.

(Aus den Vorlesungen)

ZUM TODESTAG DES PHILOSOPHEN

Über den Autor (1781-1832)

Freitag, 26. September 2014

Georg Simmel: Schulpädagogik

Es gibt kaum einen jungen Menschen von 17 Jahren, der alles philosophische Interesse von sich ablehnte, auch wenn er zu der eigentlichen Fachphilosophie keinerlei Verhältnis gewinnen kann. Es ist unvermeidlich, dass der geistige Wachstumsprozess dieser Jahre, mit seinem funktionellen sehnsüchtigen Streben ins Weite, Ungemessene, Ungewisse, sich in dem Interesse an substantiellen Vorstellungen von Sinn und Art des Ganzen von Welt und Leben niederschlüge. Der Schüler, bei dem das absolut nicht der Fall ist, gehört mindestens nicht ins Gymnasium. Obgleich ich also das Vortragen von philosophischen Systemen für ungeeignet halte, suche der Lehrer doch stets die Gelegenheit, die einzelnen Erkenntnisse und Probleme in die Tiefe und Allgemeinheit zu verfolgen, den philosophischen Weg zu gehen, wenn auch nicht zu einem dogmatischen Ziele, die Richtungen zu zeigen, in die das philosophische Senkblei, von der Oberfläche weg, ausgeworfen werden kann. Das Wort Philosophie braucht dabei gar nicht zu fallen.

(Aus dem Kapitel "Vom deutschen Aufsatz" der 1915/16 in Straßburg gehaltenen Vorlesungen)

ZUM TODESTAG DES SOZIOLOGEN

Über den Autor (1858-1918)

Donnerstag, 25. September 2014

Rudolf Otto: Das Heilige

Etwas als 'heilig' erkennen und anerkennen, ist in erster Linie eine eigentümliche Bewertung, die so nur auf religiösem Gebiete vorkommt. Sie greift zwar alsbald auf anderes, z.B. auf die Ethik, über, aber sie entspringt nicht selbst aus anderem. Sie hat als solches ein völlig artbesonderes Moment in sich [...].

Diese Behauptung wäre nun von vornherein falsch, wenn das Heilige das wäre, als was es in manchem Sprachgebrauche, im philosophischen und gewöhnlich auch im theologischen, genommen wird. Wir haben uns nämlich gewöhnt, 'heilig' in einem Sinne zu gebrauchen, der ein durchaus übertragener, keineswegs sein ursprünglicher ist. Wir verstehen es nämlich gewöhnlich als das absolute sittliche Prädikat, als vollendet gut. So nennt Kant einen heiligen Willen den Willen, der aus Antrieb der Pflicht ohne Wanken dem moralischen Gesetz gehorcht: das würde aber einfach der vollkommene moralische Wille sein. So redet man auch von der Heiligkeit der Pflicht oder des Gesetzes, wenn man nichts anderes meint als eben ihre praktische Notwendigkeit, ihre allgemeingültige Verbindlichkeit. Aber ein solcher Gebrauch des Wortes heilig ist nicht streng. Heilig schließt zwar alles dieses mit ein, enthält aber, auch noch für unser Gefühl, einen deutlichen Überschuss, den es hier zunächst zu besondern gilt. Ja, die Sache liegt vielmehr so, dass Wort heilig und seine sprachlichen Gleichwerte im Semitischen, Lateinischen, Griechischen und in anderen alten Sprachen zunächst und vorwiegend nur diesen Überschuss bezeichneten und das Moment des Moralischen überhaupt nicht oder nicht von vornherein und niemals ausschließlich befassten. Da unser Sprachgefühl heute zweifellos immer das Sittliche unter Heilig einbezieht, so wird es dienlich sein, bei Aufsuchung jenes eigentümlichen Sonderbestandteiles, wenigstens für den vorübergehenden Gebrauch unserer Untersuchung selbst, einen besonderen Namen dafür zu erfinden, der dann bezeichnen soll das Heilige minus seines sittlichen Momentes und, wie wir nun gleich hinzufügen, minus seines rationalen Momentes überhaupt. / Das, wovon wir reden und was wir versuchen wollen, einigermaßen anzugeben, nämlich zu Gefühl zu bringen, lebt in allen Religionen als ihr eigentlich Innerstes, und ohne es wären sie gar nicht Religion. Aber mit ausgezeichneter Kräftigkeit lebt es in den semitischen Religionen und ganz vorzüglich hier wieder in der biblischen. Es hat hier auch einen eigenen Namen: nämlich qadosch, dem hagios und sanctus und noch genauer sacer entsprechen. Dass diese Namen in allen drei Sprachen das 'Gute' und schlechthin Gute mitbefassen, nämlich auf der höchsten Stufe der Entwicklung und Reife der Idee, ist gewiss, und dann übersetzen wir sie mit 'heilig'. Aber dieses 'heilig' ist dann erst die allmähliche ethische Schematisierung und Auffüllung eines eigentümlichen ursprünglichen Momentes, das an sich selber gegen das Ethische auch gleichgültig sein und für sich erwogen werden kann. Und in den Anfängen der Entwicklung dieses Momentes bedeuten alle jene Ausdrücke fraglos zunächst etwas ganz anderes als das Gute. Das ist von den heutigen Auslegern wohl allgemein zugestanden. Man erklärt es mit Recht für eine rationalistische Umdeutung, wenn qadosch einfach mit Gott gedeutet wird.

Es gilt also, für dieses Moment in seiner Vereinzelung einen Namen zu finden, der erstens es in seiner Besonderheit festhält, und der zweitens ermöglicht, die etwaigen Unterarten oder Entwicklungsstufen desselben mitzubefassen und mitzubezeichnen. Ich bilde hierfür zunächst das Wort 'das Numinöse' (wenn man von 'omen' 'ominös' bilden kann, dann auch von 'numen' 'numinös') und rede von einer eigentümlichen numinosen Deutungs- und Bewertungskategorie und ebenso von einer numinosen Gemütsgestimmtheit, die allemal da eintritt, wo jene angewandt, das heißt da, wo ein Objekt als numinoses vermeint worden ist. Da diese Kategorie vollkommen sui generis [von eigener Art] ist, so ist sie wie jedes ursprüngliche und Grunddatum nicht definierbar im strengen Sinne, sondern nur erörterbar. Man kann dem Hörer nur dadurch zu ihrem Verständnis helfen, dass man versucht, ihn durch Erörterung zu dem Punkte seines eigenen Gemütes zu leiten, wo sie ihm dann selber sich regen, entspringen und bewusst werden muss. Man kann dieses Verfahren unterstützen, indem man ihr Ähnliches oder auch ihr charakteristisch Entgegengesetztes, das in anderen bereits bekannten und vertrauten Gemütsbereichen vorkommt, angibt und dann hinzufügt: 'Unser X ist dieses nicht, ist aber diesem verwandt, jenem entgegengesetzt. Wird es dir nun nicht selber einfallen?' Das heißt: unser X ist nicht im strengen Sinne lehrbar, sondern nur anregbar, erweckbar - wie alles, was 'aus dem Geiste' kommt.

(Aus dem erstmals 1917 erschienen Werk 'über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen')

ZUM GEBURTSTAG DES RELIGIONSWISSENSCHAFTLERS

Über den Autor (1869-1937)

Mittwoch, 24. September 2014

Paracelsus: Das Buch Paragranum

Nachdem ich aus erzwungner Not etliche Bücher in der Arznei, nämlich von den pustulius das ist Franzosen, habe ausgehen lassen, ist mir das zu Argem ausgelegt worden, das ich mit höchstem Fleiß und größter Erfahrenheit geschrieben und eröffnet, und Nutz und Guts der Kranken betrachtet habe, – aus welchem Schreiben mir eine Ursache gegeben worden ist, den Betrug und die Irrung derer, die hierin nichts verstanden haben noch können und doch alle andere hierin verachten wollen, anzuzeigen.

Nun hab ich geschrieben, (was sie zu viel heißen, heiß ich zu wenig), vom Holz (Guayako) und die drei Bücher der Imposturen (das sind eitrige Beulen), oder Verfälschungen; worüber ich wohl mit guter Wahrheit hätte ein länger Buch machen können, das habe ich in Kürze gefaßt, das meiste und viele Schande, der Doktoren Torheit und Einfalt, auch der Meister, zu vermeiden. So ich das nun kurz abgemacht habe, klagen sie, es sei zu wenig, niemand könne es verstehen. Wenn es nun zu wenig ist, so werde ich gezwungen mehr zu schreiben, und längere Bücher zu machen, weil sie beichten, ich schriebe viel zu wenig. Ich erachte, sie wollen, daß ihre Torheit und Gelehrtheit gar an den Tag komme; – dazu will ich ihnen verhelfen.

Wiewohl sie zu verstehen geben, um mit der Wahrheit an den Tag zu kommen, es sei betreffs ihrer Frommheit, Gelehrtheit und Kunst genug geschrieben, allein meiner Lehr wollen sie mehr Unterricht, – es kann aber keins vom andern geschieden werden, sondern sie müssen beide mit einander vorgenommen werden, auf daß nit eins allein, sondern beide gar wohl verstanden werden, – wiewohl ihre Meinung allein auf das eine gerichtet ist und auf das andere nit.

Daß sie es mir verargen, daß ich schreibe, geschieht aus ihrem Unverstand, denn ich habe, wie meine Schriften beweisen, nichts außerhalb des Grundes und der Erfahrenheit geschrieben. Daß sie aber über mich schreien, dessen ist die Ursach, daß ich ihnen in dem, das den Ärzten zusteht, und das sie nicht wissen noch verstehn, das Herzbändel treffe. Darum, daß ich nicht aus ihren Schulen komme und aus ihnen rede, soll es unrecht sein, dieweil mich das dazu zwingt, daß sie falsch in die Arznei hineingeleitet werden.

Weil ich nun solches soll und muß schreiben, kann ich die Wahrheit weder durch die Alten noch die Jungen bestätigen, woraus ich nun gezwungen werde, wider sie zu sein und nit mit ihnen, wenn ich anders die Wahrheit der Arznei beschreiben und vor mich nehmen will, und nicht allein die Schüler, sondern Meister und Schüler und der Meister und Schüler Lehrer insgemein zusammenkoppeln und ihnen, weil sie solche Schreier sind, vorhalten will, was die Arznei sei, und darnach, was sie sind. Denn es ist ebenso not, ihr Geschrei wie ihre Kunst aufzudecken.

Will ich nun den Grund in der Arznei beschreiben, so muß ich die Dinge vornehmen, die den Grund geben. Dadurch werde ich gezwungen, allen Grund aus der Philosophie, Astronomie und Alchemie zu setzen, ihn dort zu nehmen und darauf zu fußen. Sie aber sind nun Verächter dieser drei Fundamente, nämlich Verächter der Philosophie, Verächter der Astronomie, Verächter der Alchemie, bellen wider diese Künste wegen nichts anderem, als daß sie sie nit können und schämen sich dess'. Damit sie auf ihrem Teil mit Ehren bestehen, überreden sie den Armen, den Gemeinen, den Einfältigen, sie seien Narrenwerk und es sei nichts; und sie selbst sind Narren und Esel und nichts, gleichen den Juden und den Pharsäern, die meinten, der Himmel wäre ihr und den, dess er war, das ist Christum, verachteten sie. Also sind die Ärzte der Hohen Schulen auch, und die Bader und Scherer. Drum vergleiche ich sie den Barfüßern und Holzschuhern; die selbigen wissen nichts als schreien, schänden, lästern ohne Furcht; also sind diese Ärzte auch clamanten, das ist Schreier.

Nun aber, um es aus dem Grunde zu betrachten, welcher kann ein Arzt sein ohne die drei? Der da nit sei ein philosophus, ein astronomus, ein Alchemist? Keiner, sondern er muß in den drei Dingen erfahren sein, denn in ihnen steht die Wahrheit der Arznei. Was Astronomie sei, das wissen sie nicht; was Philosophie sei, das wissen sie auch nicht; was Alchemie sei, das wissen sie auch nit. Diese drei höchsten Dinge wissen sie nit, drum so müssen sie sie verachten, und deshalb, weil ich sie brauche, muß ich von ihnen verworfen werden. Mich verwarf keiner, er war denn ein gehörnter, das ist junger Bachant, – was ihr alle seid. Denn die Bachanten wissen nichts von den Dingen und ihr auch nit, darum seid ihr einander gleich. Ihr seid gemalte Ärzte, auswändig, in euern Kleidern, und inwändig seid ihr schelmige Juden, Cadaver und conterfeite Ölgötzen.

Daß ihr mich versteht, wie ich den Grund der Arznei erkenne und worauf ich bleibe, – nämlich in der Philosophie, darnach in der Astronomie und zuletzt in der Alchemie, und hört mich gar genau, denn ihr müßt auch hier hinein und darin erfahren sein, oder ihr müßt allen Bauern auf den Dörfern offenbar werden, daß ihr ohne die drei Bescheißer seid, und nichts als Betrüger der Fürsten, Herren, Städte und Länder, und daß alle die Zucht und Ehre, so euch bewiesen wird, Narren geschieht und Gleisnern und Tellerleckern. Wie ich mir aber die drei vornehme, das merkt, und anders könnt ihr es nit vor euch nehmen, sondern ihr müßt mir nach mit euerm Avicenna, Galen, Rhases usw. und ich nit euch nach; ihr mir nach, ihr von Paris, von Montpellier, von Salerno, von Wien, von Köln, von Wittenberg und all ihr in der summa, und keiner kann ausgenommen sein, nicht im hintersten Badewinkel bleiben; dess' bin ich monarcha, und ich führ die Monarchei und gürte euch noch eure Lenden.

Wie wird es euch Cornuten anstehn, daß Theophrastus wird der Fürst der Monarchie sein? Und ihr calefactores, das ist Ofenheizer? Wie dünkt es euch, wenn ihr werdet in meine Philosophie müssen und auf euern Plinius, Aristoteles scheißen werdet, auf euern Albertus, Thomas, Scotus usw. seichen werdet und werdet sprechen: die konnten schön und subtil lügen. Wie große Narren sind wir und unsere Vorderen gewese, daß sie und wir es nie gemerkt haben. Wie dünkt es euch, wenn ich euch den Himmel zurichten werde, daß (die Constellation) Drachenschwanz euern Avicenna und Galen fressen wird? Denn sie wissen nichts im Himmel, und ihr auch nichts. O, wie löblich ist das, daß ihr Narren doctores seid, und ihr Meister: Narren! Wie übel wird es euch auf den Buckel drücken, wenn ihr Ohren, sechs Ellen lang, tragen werdet, denn Johannes hat in der Apokalypse seltsamere und ungeschaffenere Tiere, als ihr seid, nie gesehen. Wie groß wird eure Schande werden, daß ihr bisher die Kranken gearzneit habt und groß Gut von ihnen genommen, und habt noch nie kochen können und habt ihnen Ungekochtes gegeben, wodurch bewiesen wird, daß ihr damit viele erwürgt habt, das wird euch alchimia sagen. Da müßt ihr hinein, oder ihr und eure Frauen, Kinder und Freunde werden an euch Laster sehen.

Wenn ich keinen Behelf wider euch hätte als allein die Zeugnisse, daß ihr falsch seid und nichts wißt, wie groß würde ich noch in der Monarchei sein, darum daß ich solche Lügen entdeckte, und ihr bewährt eure Lügnerei nit in einem allein, sondern in allen euern Büchern und der lausigen Bader und Scherer Bescheißerei. Weil ich aber noch mehr tue und lehre euch, und ihr mich nit, und was ich von euch habe, nahm das Feuer hinweg und ist dahin; was ich aber lehre, wird kein Feuer fressen, wird aber euch fressen, – nun schaut, wess' die Monarchei sei! Euer oder mein? Ich verseh es mich wohl, ihr werdet Narren und Cornuten haben, die euch beistehen werden; dieselben und ihr werdet einander noch selbst fressen. Ihr macht euch beliebt mit Neigen, Bücken, »gnad Herr«, »lieber Herr«, »wiedersehen Herr«, »wieder Herr«, und wenn die Herrschaft in das (Kranken-)Bett kommt und ihr Freundschaft zeigen sollt, so steht ihr da wie ein Dutenkolb, tut nichts als bescheißen und berußen. Sollten die Kranken, die ihr erwürgt, wieder aufstehen, und euch weiter im Leben Zucht und Ehr erweisen, – sie würden euch auf die Nase scheißen, und ebenso in euern Fürsten Aboali Abinschini. Pfui der Schand, daß ihr in den lausigen Männern sechs Tage lest, ihr Phantasten!

Laßt euch diese Vorrede nicht hindern oder verdrossen machen; am letzten will ich noch den Leipzigern die Suppe salzen und mit dem Salz in das Holz (Guayako) legen.


ZUM TODESTAG DES ARZTES

Dienstag, 23. September 2014

Sigmund Freud: Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens

Wir haben seit langem gemerkt, dass jede Neurose die Folge, also wahrscheinlich die Tendenz habe, den Kranken aus dem realen Leben herauszudrängen, ihn der Wirklichkeit zu entfremden. Eine derartige Tatsache konnte auch der Beobachtung P. Janets nicht entgehen; er sprach von einem Verluste "de la joction de réel" [der Verbindung zum Realen] als von einem besonderen Charakter der Neurotiker, ohne aber den Zusammenhang dieser Störung mit den Grundbedingungen der Neurose aufzudecken.

Die Einführung des Verdrängungsprozesses in die Genese [Entstehungsgeschichte] der Neurose hat uns gestattet, in diesen Zusammenhang Einsicht zu nehmen. Der Neuro­tiker wendet sich von der Wirklichkeit ab, weil er sie - ihr Ganzes oder Stücke derselben - unerträglich findet. Den extremsten Typus dieser Abwen­dung von der Realität zeigen uns gewisse Fälle von halluzinatorischer Psychose, in denen jenes Ereignis verleugnet werden soll, welches den Wahnsinn hervorgerufen hat (Griesinger). Eigentlich tut aber jeder Neurotiker mit einem Stückchen der Realität das gleiche. Es erwächst uns nun die Aufgabe, die Beziehung des Neurotikers und des Menschen überhaupt zur Realität auf ihre Entwicklung zu untersuchen und so die psychologische Be­deutung der realen Außenwelt in das Gefüge unserer Lehren aufzuneh­men. Wir haben uns in der auf Psychoanalyse begründeten Psychologie gewöhnt, die unbewussten seelischen Vorgänge zum Ausgange zu nehmen, deren Eigentümlichkeiten uns durch die Analyse bekannt worden sind. Wir halten diese für die älteren, primären, für Überreste aus einer Entwick­lungsphase, in welcher sie die einzige Art von seelischen Vorgängen waren. Die oberste Tendenz, welcher diese primären Vorgänge gehorchen, ist leicht zu erken­nen; sie wird als das Lust-Unlust-Prinzip (oder kürzer als das Lustprinzip) bezeichnet. Diese Vorgänge streben danach, Lust zu gewinnen; von solchen Akten, welche Unlust erregen können, zieht sich die psychische Tätigkeit zurück (Verdrängung). Unser nächtliches Träumen, unsere Wachtendenz, uns von peinlichen Eindrücken loszureißen, sind Reste von der Herrschaft dieses Prinzips und Beweise für dessen Mächtigkeit.

Ich greife auf Gedankengänge zurück, die ich an anderer Stelle (im allge­meinen Abschnitt der 'Traumdeutung' entwickelt habe, wenn ich supponiere [voraussetze], dass der psychische Ruhezustand anfänglich durch die gebieterischen Forde­rungen der inneren Bedürfnisse gestört wurde. In diesem Falle wurde das Gedachte (Gewünschte) einfach halluzinatorisch gesetzt, wie es heute noch allnächtlich mit unseren Traumgedanken geschieht. Erst das Ausbleiben der erwarteten Befriedigung, die Enttäuschung, hatte zur Folge, dass dieser Versuch der Befriedigung auf halluzinatorischem Wege aufgegeben wurde. Anstatt seiner musste sich der psychische Apparat entschließen, die realen Verhältnisse der Außenwelt vorzustellen und die reale Veränderung anzu­streben. Damit war ein neues Prinzip der seelischen Tätigkeit eingeführt; es wurde nicht mehr vorgestellt, was angenehm, sondern was real war, auch wenn es unangenehm sein sollte. Diese Einsetzung des 'Realitätsprinzips' erwies sich als ein folgenschwerer Schritt.

1) Zunächst machten die neuen Anforderungen eine Reihe von Adaptie­rungen des psychischen Apparats nötig, die wir infolge von ungenügender oder unsicherer Einsicht nur ganz beiläufig aufführen können. / Die erhöhte Bedeutung der äußeren Realität hob auch die Bedeutung der jener Außenwelt zugewendeten Sinnesorgane und des an sie geknüpften Bewusstseins, welches außer den bisher allein interessanten Lust- und Unlustqualitäten die Sinnesqualitäten auffassen lernte. Es wurde eine beson­dere Funktion eingerichtet, welche die Außenwelt periodisch abzusuchen hatte, damit die Daten derselben im vorhinein bekannt wären, wenn sich ein unaufschiebbares inneres Bedürfnis einstellte, die Aufmerksamkeit. Diese Tätigkeit geht den Sinneseindrücken entgegen, anstatt ihr Auftreten abzu­warten. Wahrscheinlich wurde gleichzeitig damit ein System von Merken eingesetzt, welches die Ergebnisse dieser periodischen Bewusstseinstätigkeit zu deponieren hatte, ein Teil von dem, was wir Gedächtnis heißen. / An Stelle der Verdrängung, welche einen Teil der auftauchenden Vorstel­lungen als unlusterzeugend von der Besetzung ausschloss, trat die unpartei­ische 'Urteilsfällung', welche entscheiden sollte, ob eine bestimmte Vorstellung wahr oder falsch, das heißt im Einklang mit der Realität sei oder nicht, und durch Vergleichung mit den Erinnerungsspuren der Realität darüber entschied. / Die motorische Abfuhr, die während der Herrschaft des Lustprinzips zur Entlastung des seelischen Apparats von Reizzuwächsen gedient hatte und dieser Aufgabe durch ins Innere des Körpers gesandte Innervationen (Mimik, Affektäußerungen) nachgekommen war, erhielt jetzt eine neue Funktion, indem sie zur zweckmäßigen Veränderung der Realität verwendet wurde. Sie wandelte sich zum 'Handeln'. / Die notwendig gewordene Aufhaltung der motorischen Abfuhr (des Han­delns) wurde durch den 'Denkprozess' besorgt, welcher sich aus dem Vorstellen herausbildete. Das Denken wurde mit Eigenschaften ausgestattet, welche dem seelischen Apparat das Ertragen der erhöhten Reizspannung während des Aufschubs der Abfuhr ermöglichten. Es ist im wesentlichen ein Probe­handeln mit Verschiebung kleinerer Besetzungsquantitäten, unter geringer Verausgabung (Abfuhr) derselben. Dazu war eine Überführung der frei ver­schiebbaren Besetzungen in gebundene erforderlich, und eine solche wurde mittels einer Niveauerhöhung des ganzen Besetzungsvorganges erreicht. Das Denken war wahrscheinlich ursprünglich unbewusst, insoweit es sich über das bloße Vorstellen erhob und sich den Relationen der Objekteindrücke zu­wendete, und erhielt weitere für das Bewusstsein wahrnehmbare Qualitäten erst durch die Bindung an die Wortreste.

2) Eine allgemeine Tendenz unseres seelischen Apparats, die man auf das ökonomische Prinzip der Aufwandersparnis zurückführen kann, scheint sich in der Zähigkeit des Festhaltens an den zur Verfügung stehenden Lustquel­len und in der Schwierigkeit des Verzichts auf dieselben zu äußern. Mit der Einsetzung des Realitätsprinzips wurde eine Art Denktätigkeit abgespalten, die von der Realitätsprüfung frei gehalten und allein dem Lustprinzip unter­worfen blieb. Es ist dies das 'Phantasieren', welches bereits mit dem Spielen der Kinder beginnt und später als 'Tagträumen' fortgesetzt die Anlehnung an reale Objekte aufgibt.

3) Die Ablösung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip mit den aus ihr hervorgehenden psychischen Folgen, die hier in einer schematisierenden Darstellung in einen einzigen Satz gebannt ist, vollzieht sich in Wirklichkeit nicht auf einmal und nicht gleichzeitig auf der ganzen Linie. Während aber diese Entwicklung an den Ichtrieben vor sich geht, lösen sich die Sexualtriebe in sehr bedeutsamer Weise von ihnen ab. Die Sexualtriebe benehmen sich zunächst autoerotisch, sie finden ihre Befriedigung am eigenen Leib und ge­langen daher nicht in die Situation der Versagung, welche die Einsetzung des Realitätsprinzips erzwungen hat. Wenn dann später bei ihnen der Prozess der Objektfindung beginnt, erfährt er alsbald eine lange Unterbrechung durch die Latenzzeit, welche die Sexualentwicklung bis zur Pubertät verzögert. Diese beiden Momente - Autoerotismus und Latenzperiode - haben zur Folge, dass der Sexualtrieb in seiner psychischen Ausbildung aufgehalten wird und weit länger unter der Herrschaft des Lustprinzips verbleibt, welcher er sich bei vielen Personen überhaupt niemals zu entziehen vermag. / Infolge dieser Verhältnisse stellt sich eine nähere Beziehung her zwischen dem Sexualtrieb und der Phantasie einerseits, den Ichtrieben und den Bewusstseinstätigkeiten anderseits. Diese Beziehung tritt uns bei Gesunden wie Neurotikern als eine sehr innige entgegen, wenngleich sie durch diese Erwägungen aus der genetischen Psychologie als eine 'sekundäre' erkannt wird. Der fortwirkende Autoerotismus macht es möglich, dass die leichtere momentane und phantastische Befriedigung am Sexualobjekte so lange an Stelle der realen, aber Mühe und Aufschub erfordernden festgehalten wird. Die Verdrängung bleibt im Reiche des Phantasierens allmächtig; sie bringt es zustande, Vorstellungen 'in statu nascendi' [im ursprünglichen Zustand], ehe sie dem Bewußtsein auffallen können, zu hemmen, wenn deren Besetzung zur Unlustentbindung Anlass ge­ben kann. Dies ist die schwache Stelle unserer psychischen Organisation, die dazu benutzt werden kann, um bereits rationell gewordene Denkvorgänge wieder unter die Herrschaft des Lustprinzips zu bringen. Ein wesentliches Stück der psychischen Disposition zur Neurose ist demnach durch die ver­spätete Erziehung des Sexualtriebs zur Beachtung der Realität und des weiteren durch die Bedingungen, welche diese Verspätung ermöglichen, gegeben.

4) Wie das Lust-Ich nichts anderes kann als wünschen, nach Lustgewinn arbeiten und der Unlust ausweichen, so braucht das Real-Ich nichts anderes zu tun, als nach Nutzen zu streben und sich gegen Schaden zu sichern. In Wirklichkeit bedeutet die Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitäts­prinzip keine Absetzung des Lustprinzips, sondern nur eine Sicherung dessel­ben. Eine momentane, in ihren Folgen unsichere Lust wird aufgegeben, aber nur darum, um auf dem neuen Wege eine später kommende, gesicherte zu gewinnen. Doch ist der endopsychische [innerseelische] Eindruck dieser Ersetzung ein so mächtiger gewesen, dass er sich in einem besonderen religiösen Mythus spiegelt. Die Lehre von der Belohnung im Jenseits für den - freiwilligen oder aufgezwungenen - Verzicht auf irdische Lüste ist nichts anderes als die mythische Projektion dieser psychischen Umwälzung. Die 'Religionen' haben in konsequenter Verfolgung dieses Vorbildes den absoluten Lustverzicht im Leben gegen Versprechen einer Entschädigung in einem künftigen Dasein durchsetzen können; eine Überwindung des Lustprinzips haben sie auf diesem Wege nicht erreicht. Am ehesten gelingt diese Überwindung der 'Wissenschaft', die aber auch intellektuelle Lust während der Arbeit bietet und endlichen praktischen Gewinn verspricht.

5) Die 'Erziehung' kann ohne weitere Bedenken als Anregung zur Überwin­dung des Lustprinzips, zur Ersetzung desselben durch das Realitätsprinzip beschrieben werden; sie will also jenem das Ich betreffenden Entwicklungs­prozess eine Nachhilfe bieten, bedient sich zu diesem Zwecke der Liebesprä­mien von Seiten der Erzieher und schlägt darum fehl, wenn das verwöhnte Kind glaubt, dass es diese Liebe ohnedies besitzt und ihrer unter keinen Umständen verlustig werden kann.

6) Die 'Kunst' bringt auf einem eigentümlichen Weg eine Versöhnung der beiden Prinzipien zustande. Der Künstler ist ursprünglich ein Mensch, welcher sich von der Realität abwendet, weil er sich mit dem von ihr zunächst gefor­derten Verzicht auf Triebbefriedigung nicht befreunden kann und seine erotischen und ehrgeizigen Wünsche im Phantasieleben gewähren lässt. Er findet aber den Rückweg aus dieser Phantasiewelt zur Realität, indem er dank besonderer Begabungen seine Phantasien zu einer neuen Art von Wirklichkeiten gestaltet, die von den Menschen als wertvolle Abbilder der Realität zur Geltung zugelassen werden. Er wird so auf eine gewisse Weise wirklich der Held, König, Schöpfer, Liebling, der er werden wollte, ohne den gewaltigen Umweg über die wirkliche Veränderung der Außenwelt einzu­schlagen. Er kann dies aber nur darum erreichen, weil die anderen Menschen die nämliche Unzufriedenheit mit dem real erforderlichen Verzicht verspüren wie er selbst, weil diese bei der Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip resultierende Unzufriedenheit selbst ein Stück der Realität ist.

7) Während das Ich die Umwandlung vom 'Lust-Ich' zum 'Real-Ich' durch­macht, erfahren die Sexualtriebe jene Veränderungen, die sie vom anfängli­chen Autoerotismus durch verschiedene Zwischenphasen zur Objektliebe im Dienste der Fortpflanzungsfunktion führen. Wenn es richtig ist, dass jede Stufe dieser beiden Entwicklungsgänge zum Sitz einer Disposition für spätere neurotische Erkrankung werden kann, liegt es nahe, die Entscheidung über die Form der späteren Erkrankung (die 'Neurosenwahl') davon abhängig zu machen, in welcher Phase der Ich- und der Libidoentwicklung die disponie­rende Entwicklungshemmung eingetroffen ist. Die noch nicht studierten zeitli­chen Charaktere der beiden Entwicklungen, deren mögliche Verschiebung gegeneinander, kommen so zu unvermuteter Bedeutung.

8) Der befremdendste Charakter der unbewussten (verdrängten) Vorgän­ge, an den sich jeder Untersucher nur mit großer Selbstüberwindung gewöhnt, ergibt sich daraus, dass bei ihnen die Realitätsprüfung nichts gilt, die Denkrealität gleichgesetzt wird der äußeren Wirklichkeit, der Wunsch der Erfüllung, dem Ereignis, wie es sich aus der Herrschaft des alten Lustprinzips ohne weiteres ableitet. Darum wird es auch so schwer, unbewusste Phantasien von unbewusst gewordenen Erinnerungen zu unterscheiden. Man lasse sich aber nie dazu verleiten, die Realitätswertung in die verdrängten psychischen Bildungen einzutragen und etwa Phantasien darum für die Symptombildung geringzuschätzen, weil sie eben keine Wirklichkeiten sind, oder ein neurotisches Schuldgefühl anderswoher abzuleiten, weil sich kein wirklich ausgeführtes Verbrechen nachweisen lässt. Man hat die Verpflichtung, sich jener Währung zu bedienen, die in dem Lande, das man durchforscht, eben die herrschende ist, in unserem Falle der 'neurotischen Währung'. Man versuche z.B., einen Traum wie den folgenden zu lösen. Ein Mann, der einst seinen Vater während seiner langen und qualvollen Todeskrankheit gepflegt, berichtet, dass er in den nächsten Monaten nach dessen Ableben wiederholt geträumt habe: 'der Vater sei wieder am Leben und er spreche mit ihm wie sonst. Dabei habe er es aber äußerst schmerzlich empfunden, dass der Vater doch schon gestorben war und es nur nicht wusste'. Kein anderer Weg führt zum Verständnis des widersinnig klingenden Traumes als die Anfügung "nach seinem Wunsch" oder "infolge seines Wunsches" nach den Worten "dass der Vater doch gestorben war" und der Zusatz "dass er (der Träumer) es wünschte" zu den letzten Worten. Der Traumgedanke lautet dann: Es sei eine schmerzliche Erinnerung für ihn, dass er dem Vater den Tod (als Erlösung) wünschen musste, als er noch lebte, und wie schrecklich, wenn der Vater dies geahnt hätte. Es handelt sich dann um den bekannten Fall der Selbstvorwürfe nach dem Verlust einer geliebten Person, und der Vorwurf greift in diesem Beispiel auf die infantile Bedeutung des Todeswunsches gegen den Vater zurück.

Die Mängel dieses kleinen, mehr vorbereitenden als ausführenden Aufsatzes sind vielleicht nur zum geringen Anteil entschuldigt, wenn ich sie für unvermeidlich ausgebe. In den wenigen Sätzen über die psychischen Folgen der Adaptierung an das Realitätsprinzip musste ich Meinungen andeuten, die ich lieber noch zurückgehalten hätte und deren Rechtfertigung gewiss keine kleine Mühe kosten wird. Doch will ich hoffen, dass es wohlwollenden Lesern nicht entgehen wird, wo auch in dieser Arbeit die Herrschaft des Realitätsprinzips beginnt.

(Beitrag im Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen, Band 3, 1910; dort auch sieben Fußnoten)

ZUM TODESTAG DES NERVENARZTES

Über den Autor (1856-1939)

Montag, 22. September 2014

Anita Augspurg: Die Frau im Staat

Frauen sind, nur weil sie Frauen sind, gegen jede brutale Gewalt, die nutzlos zerstören will, was gewachsen, was geworden ist, sie wollen aufbauen, schützen, neu schaffen, neu beleben. Viele Frauen haben sich durch die ihnen im Männerstaate aufgezwungene Erziehung und Art, die Dinge nur vom männlichen Standpunkte aus zu betrachten, weit von ihrem ursprünglichen Wesen entfernt, sie mit ihrem ursprünglichen, eigenen alten-neuen Geist wieder zu erfüllen, ist eine der vornehmsten Aufgaben der Zukunft.

Die grundlegenden Forderungen der Völkerverständigung und des dauernden Friedens müssen Gemeingut, tiefe lebendige Überzeugung der Frauen werden, die in diesem Geiste allumfassender Menschlichkeit, allumfassender Gemeinsamkeit, die kommende Generation zu kraftvollen, freien, selbstbewussten Menschen, zu Persönlichkeiten erziehen sollen.

(Aus dem Editorial des im Februar 1919 erschienenen ersten Heftes der Monatsschrift - verfasst zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Lida Gustava Heymann)

ZUM GEBURTSTAG DER JURISTIN

Über die Autorin (1857-1943)

Sonntag, 21. September 2014

Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena

Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Winterrage recht nah zusammen, um sich durch die gegenseitige Wärme vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln, welches sie dann wieder von einander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so dass sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten.

So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder voneinander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden, und bei welcher ein Beisammensein bestehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält, ruft man in England zu: keep your distance! - Vermöge derselben wird zwar das Bedürfnis gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden.

Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen.

(Eine Parabel aus der 1851 erschienenen Sammlung "kleiner philosophischer Schriften")

ZUM TODESTAG DES PHILOSOPHEN

Über den Autor (1788-1860)

Samstag, 20. September 2014

Theodor Fontane: Ja, das möcht' ich noch erleben

Eigentlich ist mir alles gleich,
Der eine wird arm, der andre wird reich,
Aber mit Bismarck – was wird das noch geben?
Das mit Bismarck, das möcht' ich noch erleben.

Eigentlich ist alles soso,
Heute traurig, morgen froh,
Frühling, Sommer, Herbst und Winter,
Ach, es ist nicht viel dahinter.

Aber mein Enkel, so viel ist richtig,
Wird mit nächstem vorschulpflichtig,
Und in etwa vierzehn Tagen
Wird er eine Mappe tragen,
Löschblätter will ich ins Heft ihm kleben –
Ja, das möcht' ich noch erleben.

Eigentlich ist alles nichts,
Heute hält's, und morgen bricht's,
Hin stirbt alles, ganz geringe
Wird der Wert der ird'schen Dinge;
Doch wie tief herabgestimmt
Auch das Wünschen Abschied nimmt,
Immer klingt es noch daneben:
Ja, das möcht' ich noch erleben.

(Aus der Sammlung "Lieder und Sprüche" des im Todesjahr 1898 erschienenen Gedichtbandes)

ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1819-1898)

Freitag, 19. September 2014

Georg Schweinfurth: Im Herzen von Afrika

Das Völklein der Ssere hat sich weit und breit um Dem-Adlan herum besonders dicht angesiedelt. In ihrer äußern Erscheinung erinnern die Ssere auffallend an die Niamniam, nur tätowieren sie sich nicht. Ursprünglich ein den benachbarten Niamniamfürsten unterworfener Sklavenstamm, sind sie erst in neuester Zeit nach Norden ausgewandert, wahrscheinlich verlockt durch die Entvölkerung des Landes infolge des Sklavenraubes. Zahlreiche Ssere sind indes unter den Niamniam zurückgeblieben. Viele Ihrer Einrichtungen sind völlig den Niamniamsitten angepasst; sie haben sich aber ihre eigne Sprache erhalten. Es ist eine kräftige, wohlgestaltete Rasse. Ihre sorgfältig gebauten Hütten verraten, dass sie auf den Besitz Wert zu legen wissen. Am eigentümlichsten nahmen sich die kleinen Kornspeicher der Ssere aus. Der becherförmige aus Ton geformte Sammelraum, der oft kunstvoll mit Gesimsen und stufenweise übereinanderfolgenden Ringleisten und Hohlkehlen verziert ist, ruht stets auf einem einzigen hohen Pfahl, so dass man am Stamm hinaufklettern muss, um das deckelartig überhängende Strohdach abheben zu können. / Die schon erwähnte Vorliebe für Grashalme, die durch die vielfältig durchbohrten Nasenflügel gesteckt werden, kennzeichnet auch die Ssereweiber; selbst Männer folgen Ihrem Beispiel. Manche Weiber hatten durch die Unterlippe einen langen Bleistab gesteckt, der mehrere Zentimeter lang herunterbaumelte. / Die Jagd in den benachbarten Wildnissen muss sehr ergiebig sein. Nirgends fand ich derartige Massen von Jagdtrophäen angehäuft wie in den Weilern der Ssere. Sie errichten aus gegenseitig sich stützenden Baumästen hohe Gestelle, um daran Hunderte von Büffelhörnern und Schädeln zu befestigen. Man trifft diese fast vor jeder Hütte. Sehr häufig waren auch die Hornkronen verschiedener Antilopenarten, dann Schädel von Warzenschweinen und Pavianen, selbst Löwenschädel fehlten nicht.

Von Dem-Adlan ging es nach Osten zum Bongoland zurück, drei Tage lang durch eine böse wasserarme Wildnis. Der Pongofluß bildet fast genau die Grenze zwischen quellreichem und quellosem Gelände. Die letzten Hütten mit dem letzten Wasser waren bereits sieben Kilometer hinter dem Pongo erreicht. Weiterhin konnten vereinzelte Wasserlachen immer nur nach langem Suchen ausfindig gemacht werden, um Trinkwasser zu gewinnen. / Die erste Strecke in der Wildnis führte ununterbrochen durch Wald, ohne einen einzigen Wasserzug. Nach vielem Suchen fand man eine Pfütze, aus der behutsam die Oberfläche abgeschöpft werden mußte, wollte man überhaupt ein wenig Wasser erhalten. Es war ein ekelhafter Suhlplatz von wilden Büffeln und Ebern, voll von den Losungen dieser Tiere, ein Gemisch von Sumpfmoder und ammoniakhaltigem Wasser. Man ließ die Schlammmasse durch Tücher laufen; durch Kochen verlor sich ihr scharfer Geruch. Erst fünf Kilometer weiter stießen wir auf einen von dichtem Buschwerk umstandenen Wasserlauf mit ziemlich klarem Wasser. Eine obdachlose, andauernd regnerische Nacht machte nach den vorangegangenen heftigen Regengüssen das Maß meines Elends auf dieser an Entbehrungen aller Art überreichen Reise voll. Da alle Versuche, ein Lagerfeuer anzuzünden, misslangen, musste ich am folgenden Morgen, halb erstarrt und immer noch im Regen, den jetzt schlüpfrig gewordenen Weg fortsetzen.

Nirgends aber habe ich ein so lustiges Völklein kennen gelernt wie die Ssere, die mir als Träger beigegeben waren, und die mich aufheiterten. Kein Missgeschick, keine Müdigkeit, weder Hunger noch Durst vermochten etwas über den unverwüstlichen Humor dieser Neger. Wurde unterwegs gerastet, so begann das Scherzen erst recht. Sie spielten miteinander wie ausgelassene Kinder. Bald stellte der eine oder der andere ein wildes Tier vor, das die übrigen jagten, bald neckten sie sich mit allerhand Schabernack. Besonders belustigend war die Darstellung der Schildkröte, deren unbeholfene Bewegungen sie auf allen Vieren nachahmten. Derart vergnügten sich die Ssere mit leerem Magen. »Wenn wir Hunger haben,« so sprachen sie, »dann singen wir, um ihn zu vergessen.« / Die folgende Woche verlief ohne Zwischenfälle, und am 19. Februar begrüßte ich nach neunundvierzigtägiger Abwesenheit und einer Wanderung von 876.000 Schritten wieder meinen alten Freund Chalil, der mich und die Meinigen in schönen neuen Hütten unterbrachte.

("Ein lustiges Völklein" aus dem 1874 erschienen Werk)

ZUM TODESTAG DES FORSCHUNGSREISENDEN

Über den Autor (1836-1925)

Donnerstag, 18. September 2014

Leonhard Euler: Vollständige Anleitung zur Algebra

1. Zuvörderst wird alles dasjenige eine Größe genannt, was einer Vermehrung oder einer Verminderung fähig ist, oder wozu sich noch etwas hinzusetzen oder wovon sich etwas hinwegnehmen lässt. / Demnach ist eine Summe Geldes eine Größe, weil sich hinzusetzen oder hinwegnehmen lässt. / Ebenso ist auch ein Gewicht eine Größe und dergleichen mehr.
2. Es gibt sehr viele verschiedene Arten von Größen, welche sich nicht wohl aufzählen lassen; und daher entstehen die verschiedenen Teile der Mathematik, deren jeder mit einer besonderen Art von Größen beschäftigt ist. Die Mathematik ist überhaupt nichts anderes als eine Wissenschaft der Größen, welche Mittel ausfindig macht, wie man letztere ausmessen kann.
3. Es lässt sich aber eine Größe nicht anders bestimmen oder ausmessen, als dass man eine andere Größe derselben Art als bekannt annimmt und das Verhältnis angibt, in dem diese zu jener steht. / Also wenn die Größe einer Summe Geldes bestimmt werden soll, so wird ein gewisses Stück Geld (wie z.B. ein Gulden, ein Rubel, ein Taler oder ein Dukaten) als bekannt angenommen und angegeben, wieviel solcher Stücke in jener Summe Geldes enthalten sind. / Ebenso, wenn die Größe eines Gewichts bestimmt werden soll, wird ein gewisses Gewicht (wie z.B. ein Pfund, ein Zentner oder ein Lot) als bekannt angenommen und angegeben, wieviel derselben in dem vorigen Gewichte enthalten sind. / Soll aber eine Länge oder eine Weite ausgemessen werden, so pflegt man sich dazu einer gewissen bekannten Länge (welche ein Fuß genannt wird) zu bedienen.
4. Bei Bestimmungen oder Ausmessungen der Größen von allen Arten kommt es also darauf an, dass erstlich eine gewisse bekannte Größe von gleicher Art festgesetzt werde, welche das Maß oder die Einheit genannt wird und lediglich von unserer Willkür abhängt; alsdann, dass man bestimme, in welchem Verhältnis die gegebene Größe zu diesem Maße stehe, welches stets durch Zahlen angegeben wird, so dass eine Zahl nichts anderes ist als das Verhältnis, in dem eine Größe zu einer anderen steht, welche als Einheit angenommen wird.
5. Hieraus geht hervor, dass sich alle Größen durch Zahlen ausdrücken lassen und also der Grund aller mathematischen Wissenschaften darin gesetzt werden muss, dass man die Lehre von den Zahlen und alle Rechnungsarten, die dabei vorkommen können, genau in Erwägung ziehe und vollständig behandele. / Dieser Grundteil der Mathematik wird die Analytik oder Algebra genannt.
6. In der Analytik werden also Zahlen allein betrachtet, durch welche die Größen angegeben werden, ohne dass man sich um die besondere Art der Größen bekümmert, was in den übrigen Teilen der Mathematik geschieht.
7. Von den Zahlen besonders handelt die Arithmetik oder Rechenkunst; allein dieselbe erstreckt sich nur auf gewisse Rechnungsarten, welche im gewöhnlichen Leben häufig vorkommen; hingegen begreift die Analytik auf allgemeine Art alles dasjenige in sich, was bei den Zahlen und der Berechnung derselben vorfallen mag.

(Beginn des 1770 erschienenen zweibändigen Werkes: "Von den mathematischen Wissenschaften überhaupt")

ZUM TODESTAG DES MATHEMATIKERS

Über den Autor (1707-1783)

Mittwoch, 17. September 2014

Bernhard Riemann: Partielle Differentialgleichungen und deren Anwendung auf physikalische Fragen

Eine wissenschaftliche Physik existiert bekanntlich erst seit der Erfindung der Differentialrechnung. Erst seitdem man gelernt hat, dem Lauf der Naturereignisse stetig zu folgen, sind die Versuche, den Zusammenhang der Erscheinungen in abstrakten Begriffen nachzukonstruieren, von Erfolg gewesen. Hierzu gehörte zweierlei: erstens einfache Grundbegriffe, mit denen man konstruiert, und zweitens eine Methode, um aus den einfachen Grundgesetzen dieser Konstruktion, welche sich auf Zeitpunkte und Raumpunkte beziehen, die Gesetze für endliche Zwischenzeiten und Abstände, welche allein der Beobachtung zugänglich sind (mit der Erfahrung verglichen werden können), abzuleiten. / Den ersten Schritt in Bezug auf die Grundbegriffe tat Galilei, als er die Gesetze des freien Falls der Körper aus der Einwirkung der Schwere in allen einzelnen Zeitpunkten konstruierte; er fand den Begriff der beschleunigenden Kraft, den Begriff einer einfachen Bewegungsursache. Diesem Schritte fügte Newton einen zweiten hinzu: er fand den Begriff eines anziehenden [oder abstoßenden] Zentrums, den Begriff einer einfachen Kraftursache.

(Aus dem Beginn des Manuskripts zur Vorlesung von 1854/55)

ZUM GEBURTSTAG DES MATHEMATIKERS

Über den Autor (1826-1866)

Dienstag, 16. September 2014

Herwarth Walden: Das Begriffliche in der Dichtung

Das Material der Dichtung ist das Wort. Die Form der Dichtung ist der Rhythmus.

In keiner Kunst sind die Elemente so wenig erkannt worden. Der Schriftsteller stellt die Schrift, statt das Wort zu setzen. Schrift ist die Zusammenstellung der Wörter zu Begriffen. Mit diesen Begriffen arbeiten Schriftsteller und Dichter. Der Begriff aber ist etwas Gewonnenes. Die Kunst jedoch muss sich jedes Wort neu gewinnen. Man kann kein Gebäude aus Mauern aufrichten. Stein muss zu Stein gefügt werden. Wort muss zu Wort gefügt werden, wenn ein Wort­gebäude entstehen soll, das man Dichtung nennt. Die Sichtbarkeit jeder Kunst ist die Form. Form ist die äußere Ge­staltung der Gesichte als Ausdruck ihres inneren Lebens. Jedes Gesicht hat seine eigene Form. Nicht zwei Gesichter sind gleich, um so weniger zwei Gesichte. Ein Kunstwerk gestalten heißt ein Gesicht sichtbar machen. Nicht aber, sich über das Gesicht zu verständigen. Kein Mensch wirkt auf den andern gleich. Wie darf man diese Gleichheit von dem Übermensch­lichen, von dem Unmenschlichen fordern. Nichts darf vom Kunstwerk gefordert werden, aber das Kunstwerk selbst for­dert. Jedes Kunstwerk fordert seinen Ausdruck. Der äußere Ausdruck ist die innere Geschlossenheit. Die innere Geschlossenheit ist die Schönheit des Kunstwerks. Die innere Geschlossenheit wird durch die logischen Be­ziehungen der Wortkörper und der Wortlinien zuein­ander geschaffen. Sie sind in den bildenden Künsten räum­lich sichtbar, in der Musik und der Dichtkunst zeitlich hörbar. Man nennt sie Rhythmus. Jede Bewegung entsteht durch Be­wegen, nicht durch Bewegtsein. Die Dichter sind gewöhnlich bewegt über sich oder über andere oder über anderes, aber sie bewegen nicht. Sie sind gerührt aber sie rühren nicht. Sie fühlen Gedachtes, statt Fühlendes zu denken. Sie nehmen Formen statt Formen zu geben. Der Vergleich wird hingestellt statt dass ein Gleichnis steht. Diese Dichter betrachten statt zu schauen. Sie berichten Übersinnliches unsinnlich, statt Übersinnliches den Sinnen sichtbar zu machen. Aussagen sind unkünstlerisch, weil sie nicht zum Glauben zwingen können. Aussprachen sind unkünstlerisch, weil sie nicht einmal etwas aussagen. Das künstlerische Verstehen ist keine Verständigung. Das künstlerische Verstehen ist das Fühlen. Nur das Fühlen ist Begreifen. Wir geben uns die Hand und wir fühlen, wir wissen das Fühlen, wir geben uns den Mund und wir fühlen, wir wissen das Fühlen. Wir brauchen nichts zu sagen. Das ist das Wissen um die Kunst. Das ist das Wissen der Kunst. Die Kunst begreift das Unbegreifliche, nicht aber das Begriff­liche.
Kind! Es wäre Dein Verderben,
Und ich geb' mir selber Mühe,
Dass Dein liebes Herz in Liebe
Nimmermehr für mich erglühe.

Höhne meine sanfte Plage!
Einmal muss ich doch gestehen
Dass ich Dich im Traum gesehen
Und seitdem im Busen trage.

Ihr verblühet, süße Rosen,
Meine Liebe trug Euch nicht,
Blühtet ach! dem Hoffnungslosen,
Dem der Gram die Seele bricht.
Der Rhythmus dieses Gedichtes ist durchaus einheitlich. Nur ist es kein Rhythmus. Das Einheitliche ist das Metrum, das Maß. Der Rhythmus, die Bewegung ist gemessen, und zwar nach der Betonung. Der Ton bestimmt, damit die Stimme betont. Die Stimme betont:
Kind   Höhne   Ihr
Und Einmal Meine
Dass Dass Blühtet
Nimmermehr Und Dem
Der Ton bestimmt und der Wille des Dichters offenbart sich. Er wird sinnfällig. Schon in der Beschränkung zeigt sich jeder Meister. Keine wilde maßlose Rhythmik. Alles milde maßvolle Metrik. Geschlossenheit der Form. Jede Zeile be­kommt ihre wohlgezählten vier Betonungen zugemessen. Was ist Wort. Das Wort hat sich nach der Betonung zu richten. Dafür geben die Wörter auch einen Sinn. Der Dichter begreift das Sinnliche unsinnlich. Und zwar mit Hilfe des Begrifflichen. Er sagt aus, dass er sich selber Mühe gibt. Das liebe Herz darf nimmermehr in Liebe für ihn erglühen, weil das Kind vor dem Verderben geschützt werden muss. Er trägt es deshalb im Busen, nachdem er es im Traum gesehen hat. Er konnte es aber nicht tragen, weshalb ihm der bekannte Gram die Seele bricht. Das Gedicht ist ohne weiteres zu verstehen. Es ist also ein Gedicht. Denn es ist logisch. Da der Dichter aber aussagt, habe ich das Recht, seine Aussagen zu prüfen. Ich möchte es noch dahingestellt sein lassen, ob es für das Kind ein Verderben wäre. Bei der betonten Sorge wäre es doch möglich, dass er es doch etwa heiraten könnte, wenn er sich Mühe gäbe und dass auf diese einfache Weise die ganze An­gelegenheit tonlos geregelt werden könnte. Oder aber ich glaube das Geständnis nicht, dass er das Kind im Traum gesehen hat. Wenn Dichten Träumen heißt, ist jeder Träumer ein Dichter. Hingegen geht dieser Dichter schon in das Unnatür­liche hinüber, wenn er das Kind im Busen trägt. Das Unnatür­liche scheint also doch schon auf die Meister einen gewissen Reiz ausgeübt zu haben. Es ist ebenso natürlich, dass Rosen verblühen, wenn man sie in die Liebe pflanzt. Bei dieser Un­natur ist es dem Gram nicht zu verdenken, dass er die Seele bricht. Die Wortverfechter meisterlicher Kunst werden um sich schlagen. Was ist das Wort. Man darf das Wort eben nicht wörtlich nehmen. Ist es nicht ein tieferer Sinn, dass der Gram die Seele bricht oder dass das Herz nimmermehr erglüht. Was kann man sich nicht alles unter einer brechenden Seele vor­stellen oder unter einem glühenden Herzen, einem nimmer­mehr glühenden Herzen. Die Seele ist schon an sich poetisch und das Brechen auch, wenn die Seele der leidtragende Teil ist. Der Beinbruch ist unpoetisch, weil man ihn sehen kann, der Seelenbruch poetisch, weil man sich ihn denken muss. Was man sich denken kann, ist geistig, also künstlerisch. Wer kann sich einen Beinbruch denken.

Man sieht, die Meister kommen ganz gut ohne Wort und Rhythmus aus. Und wer dieses Gedicht etwa noch nicht für ein Gedicht gehalten hat, wird sofort seine Haltung wieder­gewinnen, wenn ich die Namen der drei Meister nenne, die ich gebeten habe, sich zu einem Gedicht zu vereinigen. Wir danken die erste Strophe Heinrich Heine, die zweite Stefan George und die dritte keinem Geringeren als Johann Wolfgang von Goethe. Sie alle zeigen sich genau auf der gleichen Höhe der Meister­schaft. Sie sind zum Verwechseln ähnlich. Meisterschaftsringer der deutschen Lyrik, die man durch Nummern unterscheiden müsste, wenn man sie durchaus unterscheiden will. Mit andern Worten: Nur das Wort, jedes Wort ist Material der Dichtung, nicht der Begriff, der das Wort verstellt. Oder: Der Beinbruch ist sichtbar, der Seelenbruch nicht. Und auf die Sichtbarkeit kommt es an. Es entsteht kein Bild, wenn Sichtbares mit Unsichtbarem verbunden wird. Das Leben des Sichtbaren oder des Unsichtbaren ist der Rhythmus. Nur Bewegung ist Leben. Die sachliche Aussage sogar wird künstlerisch, sogar ohne die sogenannten dichterischen Hilfsmittel, wenn das einzelne Wort lebt und die Wörter in ihren Beziehungen zueinander durch ihren Rhythmus leben.
Es war eine schöne Jüdin,
Ein wunderschönes Weib.
Sie hat eine schöne Tochter
Ihr Haar war schön geflochten.
Zum Tanz war sie bereit.

Ach Mutter liebste Mutter
Mir tut das Herz so weh
ach lass mich eine Weile
spazieren auf grüner Heide
bis dass mir besser wird.

Die Mutter wandt den Rücken
Die Tochter sprang in die Gass'
Wo alle Schreiber saßen
Ach Schreiber lieber Schreiber
Was tut mir mein Herz so weh

Wenn Du Dich lässest taufen
Luisa sollst Du heißen
Mein Weibchen sollst Du sein

Eh ich mich lasse taufen
Lieber will ich mich versaufen
ins tiefe, tiefe Meer

Gut Nacht mein Vater und Mutter
wie auch mein stolzer Bruder
Ihr seht mich nimmermehr.
Die Sonne ist untergegangen
im tiefen tiefen Meer
Das ist von Goethe nicht, von Schiller kein Gedicht. Es ist ein sogenanntes Volkslied. Veröffentlicht in der Samm­lung 'Des Knaben Wunderhorn'. Aber der Dichter ist mehr Künstler als diese Meister, die kaum Dichter, viel weniger also noch Künstler, nämlich Gestalter sind. In diesem Gedicht ist nichts bemessen, aber alles bewegt. Nichts gedacht, aber alles gefühlt. Es ist ganz schlicht natürlich. Das Herz bricht nicht, es tut nur so weh. Es ist nicht das Höchste der Kunst, es steht aber auf der Höhe der Kunst. Denn das Gesicht ist sichtbar. Es ist nicht das Höchste der Kunst, weil es noch einen Ge­danken voraussetzt. Kunst aber ist ohne jede Voraussetzung. Kunst ist gegenwärtig, nichts darf voraus sein, wenn Kunst gesetzt wird. Nur was das Auge sieht, das Äußere oder das Innere ist sichtbar. Die Jüdin ist nicht zu sehen.

Die gegenständliche Dichtung ist also dann Kunstwerk, wenn das zu Fühlende durch sachliche und logische Gegen­ständlichkeit sichtbar und begreifbar gemacht wird. Wird aber das Mittel, das Gegenständliche, mit dem Zweck, dem Gefühl, für das es Gleichnis ist, in derselben Dichtung ange­wandt, so wird der Zweck unvermittelt neben das Mittel ge­stellt, das Mittel selbst also zwecklos. Es ist überflüssig, weil es den Fluss, den Rhythmus, hemmt.

      Die gegenständliche Dichtung ist also mittelbar,
      Die ungegenständliche Dichtung ist unmittelbar. 

Jede Dichtung ist aber alogisch. Die Dichtung als Kunst­werk hat nichts mit der Logik zu tun, die aus der Erfahrung hergeleitet wird, aus der Erfahrung der Sinne oder aus der Erfahrung der Tatsachen. Jede Erfahrung entsteht aus der Wiederholung des Erfahrenen. Aus der Kunst holen wir, was unerfahren ist. Deshalb hat der Unerfahrene nicht die Hemmungen bei der Kunst, weil er noch erfahren kann. Nur wer die Erfahrung aufgibt, kann Kunst aufnehmen, denn jede Er­fahrung ist nur ein Mittel, nicht ein Zweck.
Das Gegenständliche in der Dichtung ist stets Gleichnis und darf nie Vergleich sein. Der Vergleich hängt von dem Vergleichenden ab, er ist also persönlich gebunden. Das Gleich­nis aber ist unpersönlich und ungebunden. Sichtbar wird es nur durch seine innere Bindung. Die Bindung der Kunst ist aber ihre Bewegung. Der Rhythmus.

Jede Verständigung ist willkürlich. Jede Dichtung unwill­kürlich. Oder ist es nicht willkürlich, dass der B sagen muss, wer A sagt. Oder ist es nicht willkürlich, dass ein Hauptwort ein Zeitwort bedingt. Ist das Haupt nicht ohne Zeit. Oder ist die Zeit nicht nur im Haupt. Oder was zwingt das Haupt, eine Eigenschaft zu haben. Oder was hat das Wort mit dem Ge­schlecht zu tun. Oder warum sieht man für ein Neutrum an, was man nicht deklinieren kann. Oder ist es nicht Willkür, wenn man die Sonne in Deutschland für eine Dame und in Frankreich für einen Herrn hält. Oder warum sind Zeitwörter manchmal regelmäßig und manchmal unregelmäßig. Oder warum ist keine Regel ohne Ausnahme, aber jede Ausnahme ohne Regel. Diese Grammatik ist so regellos, weil ihre Regeln Willkür sind. Gewollt aus der Erfahrung. Wiederholungen. Kunst kann die Grammatik verwenden, wenn ihre Regeln durch die Kunst ihre Bestätigung finden. Kunst ist aber keine Grammatik. Und noch weniger ist Grammatik Kunst. Warum soll nur der Satz zu begreifen sein und nicht das Wort. Da doch der Satz erst das Begriffliche des Wortes ist. Nur die Wörter greifen den Satz zusammen.

Wenn das einzelne Wort so steht, dass es unmittelbar zu fassen ist, so braucht man eben nicht viele Worte zu machen. Man darf es dann sogar nicht, weil man sonst das Wort um­stellt, unsichtbar macht. Die Kunst aber ist es, das sichtbare Wort sichtbar oder wieder sichtbar zu machen. Welchem Künstler ist es je eingefallen, ein Gebäude aus edlen Steinen zu bemalen. Man bemalt, um edle Steine vorzutäuschen. Und doch ist jeder Stein edel, wenn er Stein ist. Und jedes Wort ist edel, wenn es Wort ist. Und diese Dichter bemalen diese edlen Wörter, oder sie stimmen sie nach ihren Verstimmungen ab. Dem einen passt die Liebe, dem andern passt sie nicht, dem einen passt die Sonne, dem andern passt der Regen. Und alle diese endlichen Verstimmungen werden als unendliche Stimmungen vorgesagt und eingeredet. Was geht das Wort die Stimmung an. Was geht das Wort die Persönlichkeit an. Die Persönlichkeit bedient sich des Wortes. Das Wort wehrt sich, indem es der Persönlichkeit nicht dient. Das Wort herrscht, das Wort beherrscht die Dichter. Und weil die Dichter herr­schen wollen, machen sie gleich einen Satz über das Wort hinweg. Aber das Wort herrscht. Das Wort zerreißt den Satz, und die Dichtung ist Stückwerk. Nur Wörter binden. Sätze sind stets aufgelesen.

Die Sätze werden in Absätze aufgeteilt und der Rhythmus ist fertig. Nur ist es kein Rhythmus; denn diese Verse sind willkürlich. Der Dichter misst sie und bricht sie ab wie es ihm passt. Er macht die Zeilen gleich. Und der Versfuß hinkt. Man kann eben nichts Wesentliches gestalten, wenn man nur mit Füßen arbeitet und den Versen wohl gezählt auf die Füße tritt. Man kann den Fuß nicht stellen, wenn man sich bewegt. Kunst aber ist Bewegung. Rhythmus.

Jedes Wort hat seine Bewegung in sich. Es wird durch die Bewegung sichtbar. Die einzelnen Wörter werden nur durch ihre Bewegung zueinander, aufeinander, nacheinander gebunden. Nichts steht, was sich nicht bewegt. Kreist doch selbst die Erde. Kreist doch die Welt. Das ist die innere Sicht­barkeit. Die ungegenständliche Dichtung.

Auch die innere Sichtbarkeit ist sinnlich sichtbar. Auch sie hat eine Oberfläche, die man fassen, also fühlen kann. Aber sie bewegt sich unter dem Stehenden. Sie steht, wenn man nicht verstehen will. Sie greift, wenn man sich nicht vergreift. Denn nicht der die das Mensch greift die Kunst. Kunst greift über Menschheit hinaus, ballt Menschheit zusammen.

Kunst kreist die Menschheit in ihrem All.

(Im August 1918 erschienener Beitrag zur Monatsschrift "Der Sturm" - weitere Angaben hier)

ZUM GEBURTSTAG DES VERLEGERS

Über den Autor (1878-1941)

Montag, 15. September 2014

Ina von Grumbkow: Ísafold - Reisebilder aus Island

Fern im Norden erhebt sich aus den Wogen des Atlantic, der in ungebrochener Gewalt ihre schroffen Küsten umschäumt, die Insel Island, Isafold, die Eisumschlungene. / Zwei Elemente kämpfen hier seit Jahrtausenden um die Oberherrschaft, Feuer und Eis. In mannigfaltigster Weise verlieh die umbildende und verheerende Kraft des Vulkanismus den 104.000 Quadratkilometern des Landes ihr eigenartig wechselvolles Gepräge. / Die Gewalt der ewig stillen, ewig fließenden. Gletscher, deren Werden und Wachsen die hohe geographische Lage der Insel so begünstigt, arbeitete in gleich menschenfeindlicher Weise. Die Gletscher fügten zu den von Lava übergossenen meilenweiten Gebieten der Vulkane ähnlich große Flächen glazialer Gerolle; sie verheerten durch Gletscherflüsse und Schlammströme weite Strecken, erstickten Pflanzenwuchs und Tierleben. / Dem unwirtlichen Innern, zirka 70.000 Quadratkilometer fehlen alle Bedingungen der Besiedelungsmöglichkeit, nur die Küsten sind von achtzigtausend Isländern bewohnt, die in dem durch Einfluß des Golfstroms gemilderten Klima ein genügsames Leben führen. / Im Zentrum der Insel erhebt sich, mitten aus der Lavawüste Odáðahraun (Lavawüste der Untaten), dieselbe um 1200 m überragend, das Gebirge der Dyngjufjöll. Erreichbar ist es nur nach anstrengenden Tagesritten, die letzten zwölf Stunden über völlig unwegsame, schwer passierbare Gebiete, jedes animalischen Lebens, jeder Vegetation bar. 

In diesem Gebirge verunglückte am 10. Juli 1907, als Opfer seiner Wissenschaft mein Verlobter, der Privatdozent der Geologie, Dr. phil. Walther von Knebel, mit seinem Gefährten, dem hoffnungsvollen Maler Max Rudloff. / Nach einer aus eigenen Mitteln im Jahre 1905 nach Island unternommenen, in jeder Beziehung als geglückt zu bezeichnenden Forschungsreise gewann er reiche Unterstützung aus dem Humboldt-Fond für Naturforschung und Reisen der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin für seine im Jahre 1907 begonnene Expedition in den Vulkankessel der Askja im obenerwähnten Gebirge Dyngjufjöll. Mit einer ausgezeichneten Ausrüstung wurde Ende Mai 1907 von Berlin aus, über Kopenhagen die Reise angetreten. / Da in Island starke Schneeüberdeckung, um Mitte Juni noch, den Landweg mit vielen Packpferden als gewagtes Unternehmen erscheinen ließ, fuhren Dr. von Knebel und Herr Rudioff zu Schiff mit allem Gepäck, Proviant etc. zur Hauptstadt des Nordlandes Akureyri, dem Ausgangspunkt der Expedition in die Askja. / Unterdessen brachte der erfahrene Führer Ögmundur Sigurdssón die ledigen, in Reykjavík großenteils käuflich erworbenen, zur Expedition nötigen Pferde auf der Poststraße von Reykjavík nach Akureyri. Schon im Jahre 1905 war Ögmundur, der in der Hafenstadt Hafnarfjorður bei Reykjavík die angesehene Stellung eines Seminar-Lehrers bekleidet, der treue Führer und Freund von Walther von Knebel gewesen. / In Akureyri fand sich dann noch Herr cand. geol. H. Spethmann, der mit einem anderen Schiff Kopenhagen verlassen, als dritter Teilnehmer der Expedition ein. / Nach den nötigen Vorbereitungen (die Mehrzahl der die Expedition 1907 betreffenden Daten sind den mündlichen und schriftlichen Mitteilungen Herrn Dr. Spethmanns entnommen) wurde in den letzten Junitagen Akureyri verlassen und nach mehreren, sehr anstrengenden Rittagen der Kessel der Askja in den Dyngjufjöll am l. Juli nachts erreicht. / Der Führer mußte mit den Pferden, die mitgenommenes Heu gefressen, nach sehr kurzem Aufenthalt wieder das Gebiet verlassen. Nicht ein Halm Gras bietet in dem auf tausende von Quadratkilometern mit Lava bedeckten Boden den Pferden Nahrung. Der Führer war es auch, welcher die letzten schriftlichen Nachrichten von ihnen mitnahm; vierzehn Tage später sollte er ihnen aus Deutschland eingegangene Post überbringen. / Somit blieben Dr. von Knebel, Herr Spethmann und Herr Rudioff allein. / Ein großes Manöverzelt diente zu ihrer Unterkunft, Schlafsäcke zum Schutz gegen die Nachtkälte, ein reicher Proviant verhütete jeglichen Mangel. Die mannigfaltige Ausrüstung mit wissenschaftlichen Instrumenten ließ sie mit warmem Eifer ihre hochinteressante Arbeit beginnen. / Die Knebel'sche Expedition beabsichtigte während mindestens vier Wochen nach allen Richtungen das für den Geologen hochinteressante, nahezu unerforschte Gebiet, zu untersuchen. / Der Führer Ögmundur Sigurdssón war schon im Jahre 1884 mit Professor Thoroddsen in der Askja gewesen. Damals befand sich eine kleine Ansammlung heißen Wassers im südöstlichen Teil des Askja-Kessels. Wie groß war Sigurdssóns Erstaunen jetzt, einen großen See dort zu sehen, dessen grünliche Fluten zum Teil noch von einer Eisdecke überspannt waren. / Die Erforschung dieses Sees war von vornherein in den Arbeitsplan gezogen und zu diesem Zweck aus Deutschland ein Leinenfaltboot mitgebracht worden. / Mannigfache Einwendungen sind vor und nach der Katastrophe des 10. Juli gegen die Güte des Bootes, selbst von Leuten, die dasselbe nie zu Gesicht bekommen, in etwas unüberlegter Weise erhoben worden. / Als Tatsache ist dem entgegenzustellen, dass es ein aus zwei Teilen zusammengesetztes Faltboot war, vom Typus jener Boote, die seit Jahren bei der englischen Marine, bei unserer Schutztruppe in Afrika und bei mancher kühnen Forscherfahrt, auf völlig unbekannten Gewässern, mit Erfolg benutzt werden. / Aber auch die vollkommsten Erzeugnisse menschlicher Technik waren bisher nicht ohne Ausnahme im Stande, der schrankenlosen Gewalt der Elemente zu trotzen. Es dürfte an der Zeit sein, die Diskussion über die Güte des Bootes abzuschließen, indem der Schwerpunkt des Unglücks in die gewaltig und unumschränkt wirkenden Naturkräfte Islands verlegt wird. Dieses Boot nun wurde, in den ersten Tagen des Aufenthaltes der Expeditionsmitglieder in der Askja, mit sehr großer Mühe zu der einzig dem Wasserspiegel zugänglichen Stelle des Sees gebracht und zusammengesetzt, um dann benutzt zu werden zu der ersten Fahrt, die auf den Fluten des geheimnisvollen Kratersees unternommen werden sollte. /Herr Spethmann hatte sich zu wissenschaftlicher Arbeit am 10. Juli in den nördlichen Teil des Gebirges begeben, von wo er nach zehn Stunden zurückkehrend seine Gefährten nicht am Zelt fand. Er hatte sie nicht abfahren sehen, er wußte nur, dass für diesen Tag die Fahrt auf dem See geplant war, die Fahrt, von welcher sie nie wieder zu uns zurückkehren sollten. Von den beiden Verunglückten selbst oder dem Faltboot wurde keine Spur gefunden. / Im August desselben Jahres wurde eine Such-Expedition von Isländern unternommen. Dieselben brachten unter ungeheuren Schwierigkeiten ein Holzboot, zum Befahren des Sees, von der Küste durch das furchtbare Lava-Gebiet. Das Absuchen des Sees führte aber zu keinem weiteren Resultat als der Auffindung eines hölzernen Instrumenten-Deckels nahe dem Ufer des Sees. 

Für uns, die wir Island nicht kannten, schien ein so spurloses Verschwinden unfassbar. Wir wussten nichts von den unbetretbaren Ufern des fraglichen Sees, von der unergründlichen Tiefe desselben, von dem drohenden Steinschlag, der Tag und Nacht an den Wänden zum See niedergeht. Es fehlte uns jegliche praktische Kenntnis der meilenweit kaum passierbaren zentralen Teile der Insel. Wir hofften dagegen zuversichtlich, dass eine erneute Expedition, die sich auf längere Zeit zum Suchen nach den Verunglückten in die Askja begäbe, Aufklärung schaffen könne. / Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften unterstützte auf mein Gesuch in reichem Maße meine geplante Such-Expedition und ein Freund meines Verlobten, Dr. phil. Hans Reck, übernahm die Führung derselben. / In den Wintermonaten 1907-08 arbeiteten wir zusammen den Reiseplan aus, und traten am 12. Juni 1908 von Berlin aus unsere Reise nach Island an. / Es war uns bekannt, dass Island, dessen geringe Bevölkerung nur die Küsten bewohnt, ein Land nicht nur ohne Eisenbahnen, sondern sogar ohne Wege ist. Wir waren daher auf die Leitung eines erfahrenen Isländers angewiesen, der in der anstrengenden Führung der Karawane von Pferden durch die weglosen Wüsten, von einem zweiten Führer unterstützt werden musste. Auch wussten wir, dass es in Island fast nie Brücken über die gefährlichen Gletscherflüsse gibt und wir oft Lokalführer zur Durchfurtung brauchen würden. Wir wussten ferner, dass wir Gebiete durchreisen würden, in denen es auf viele Tage weite Entfernung keine menschlichen Ansiedlungen gab, wir also für unsere Unterkunft in Zelten, für unseren Unterhalt durch mitgenommene Konserven jeglicher Art zu sorgen hatten. / Ebenso war uns bekannt, dass die zierlichen, sehr ausdauernden isländischen Ponies das einzige Transportmittel auf der ganzen Insel bilden, und zwar nicht nur für den Menschen selbst, sondern auch für dessen ganzes Gepäck, Zelte, Proviant, wissenschaftliche Instrumente etc. Jedes der Packpferde, das im Stande ist, Tag für Tag, während der Sommerwochen, zehn bis zwölf Stunden seine Kisten zu tragen, kann daher nicht mit mehr als l/2 Zentner belastet werden. Jeder Reisende braucht für sich zwei Reitpferde. Es ergab sich hieraus für einen längeren Ritt durch die Insel mit dementsprechendem Proviant eine beträchtliche Anzahl von Pferden, wir haben die meiste Zeit zwanzig gehabt. / Die isländischen Pferdchen fressen vorzugsweise frisches Gras. Die Mitnahme von Futter für dieselben fällt somit weg, nur in einzelnen Fällen müssen Säcke mit Heu zur Fütterung in der Wüste mitgenommen werden. Andererseits muss die Reise so eingerichtet sein, dass an jedem Abend ein Grasfleck erreicht wird. Da aber in dem unbesiedelten, fast unbekannten Inneren Islands Grasoasen vielfach nur in. der Überlieferung bestehen, zwingt der Mangel an Gras bisweilen die ganze Karawane zur Umkehr, zum Aufgeben des ursprünglichen Reiseplanes. / Von diesen Einzelheiten der Reisemanier in Island wussten wir im Voraus nur wenig. Ebenso machten wir uns ein unklares Bild von der schwachen Vegetation der Insel, die durch das absolute Fehlen von Bäumen ein sehr fremdartiges Gepräge erhält. Die Notwendigkeit von zehn- bis fünfzehnstündigen Tagesritten hatten wir in Deutschland auch nicht voraussehen können. / Nachdem ich dann in Island auf einer Probe-Expedition durch die Halbinsel Reykjanes bewiesen hatte, dass ich längeren Ritten gewachsen sei, traten wir die Reise durch die Insel an. / Wir beabsichtigten von Reykjavík aus, durch das Südland reitend, Akureyri die Hauptstadt des Nordlandes zu erreichen. Akureyri ist der bei weitem geeignetste Ausgangspunkt für eine Expedition zum Askja-Kessel in den Dyngjufjöll. Wir durften nicht zu früh in diesem Gebirge eintreffen, da alle unsere Versuche zur Auffindung von Spuren scheitern mussten, solange dort noch alles von Schnee bedeckt war. Besonders waren wir von den Herren Etatsrat Havsteen in Akureyri, Konsul Thomsen in Reykjavík, Ögmundur Sigurdssón und Kpt. Daniel Bruun auf diesen wichtigen Punkt aufmerksam gemacht worden. Es lassen sich in Island nie vorher bestimmte Behauptungen darüber aufstellen, von welchem Umfang und von wie langer Dauer die Schneebedeckung in den fast nie betretenen zentralen Teilen der Insel ist, darum mussten wir einen Zeitpunkt wählen, in dem menschlicher Voraussicht nach aller Schnee getaut war. Die hellen Sommernächte, deren große Vorzüge wir in den ersten Wochen unseres Rittes genossen, machten allerdings Mitte August der ungefähr um 9 Uhr eintretenden Dunkelheit wieder Platz. Am Standquartier am Knebel-See, wo wir bestimmte Pläne, unabhängig von den Pferden, machen konnten, war dies aber weniger empfindlich. / Ebensowenig als bezüglich der Schneebedeckung lassen sich Schlüsse ziehen, wie man bei einem längeren Ritt ins Innere das Wetter, die Bodenverhältnisse in den weglosen Wüsten, die Gletscherflüsse und den Stand des Grases für die Pferde finden wird. Wir waren hier völlig vom Zufall abhängig, müssen aber voll Dank anerkennen, dass fast ausnahmslos in all diesen Punkten die Verhältnisse uns außerordentlich günstig waren. / Nachdem wir für den Ritt durchs Südland genügend Proviant zurückbehalten, sandten wir, zwei Tage nach unserer Ankunft in Reykjavík, die übrigen Vorräte mit der „Ceres" nach Akureyri, der Hauptstadt des Nordlandes. /Bei unserem Hauptritt fügten sich dem direkten Wege über die Hekla und den Sprengisandur nach Akureyri einige Abstecher im Interesse Herrn Recks an. Die beiden nach Laki und dem Tungnafellsjökull verliefen programmäßig, jener zu dem völlig unerforschten Gebiet der Fiskivötn (Fischseen) scheiterte bedauerlicherweise. Von Akureyri ritten wir auf bisher noch nie benutztem Wege in die Askja. / Je mehr wir von Island sahen, umso deutlicher mussten wir aber erkennen, dass es eine Unmöglichkeit sei, in diesen grenzenlosen Gebieten aufs Geratewohl ungewissen Spuren nachzugehen. Wir kehrten mit einem negativen Resultat bezüglich der Auffindung von Spuren aus der Askja nach Akureyri zurück. / Von hier ritten wir, anstatt die Heimreise schon von Akureyri aus zu Schiff anzutreten, auf der Poststraße noch einmal durch die ganze Insel nach Reykjavík. Die Pferde hatten wir gekauft, der Führer war für den ganzen Sommer engagiert, über reichlichen Proviant verfügten wir und abwechslungsreicher war ohne Frage dieser Ritt als die siebentägige Schiffsreise an der vielfach nebligen Nordküste. / Derselbe Dampfer, der uns nach Island gebracht, die „Ceres" der Forenede Damps. Selsk. führte uns am 9. September wieder von Reykjavík fort.
 

Sonntag, 14. September 2014

Alexander von Humboldt: An Bruder Wilhelm

Am 9. Juni 1802 brachen wir von Quito auf, um uns in den Südteil der Provinz zu begeben, wo wir den Chimborazo und den Tunguragua untersuchen und vermessen sowie die gesamten Landstriche aufnehmen wollten, die von der großen Katastrophe von 1797 erschüttert worden waren. Uns gelang es, um bis auf ungefähr 250 Toisen [knapp 500 Meter] der Spitze des ungeheuren Kolosses des Chimborazo zu nähern. Ein Grat vom Schnee nicht bedeckter vulkanischer Gesteine erleichterte uns den Aufstieg; wir stiegen bis zu einer Höhe von von 3031 Toisen [knapp 6000 Metern] auf und fühlten uns ebenso unwohl wie auf dem Gipfel des Antisana. Selbst noch zwei oder drei Tage nach unserer Rückkehr in die Ebene empfanden wir ein Unwohlsein, das wir in diesen hohen Regionen nur der Wirkung der Luft zuschreiben konnten, deren Analyse 20 Prozent Sauerstoff ergeben hatte. Die uns begleitenden Indianer hatten uns bereits vor dem Erreichen dieser Höhe verlassen, wobei sie sagten, dass wir die Absicht hätten, sie zu töten. Wir blieben folglich allein, Bonpland, Varlos Montúfar, ich und einer meiner Bediensteten, der einen Teil meiner Instrumente trug, gleichwohl hätten wir unseren Weg bis auf die Spitze fortgesetzt, hätte uns nicht eine Spalte daran gehindert, die zu tief war, um sie überwinden zu können. Wir taten daher gut daran, wieder abzusteigen. Auf unserem Rückweg fiel soviel Schnee, dass wir Mühe hatten, uns zu orientieren. Wenig geschützt vor der in diesen Höhen schneidenden Kälte, litten wir schrecklich, und ich hatte meinerseits dazu die Unannehmlichkeit, von einem Sturz wenige Tage zuvor einen wunden Fuß zu haben; und dies behinderte mich schrecklich auf einem Weg, wo man jeden Augenblick gegen einen spitzen Stein stieß und wo man jeden Schritt genau berechnen musste. La Condamine fand den Chimborazo an die 3217 Toisen hoch. Die trigonometrische Messung, die ich zweinal verschiedentlich durchführte, ergab bei mir einen Wert den 3267, und ich habe einigen Grund meinen Operationen zu trauen. Dieser ganze ungeheure Koloss ist (wie alle hohen Berge in den Anden) nicht aus Granit, sondern vom Fuß bis zur Spitze aus Porphyr, und dieser Porphyr ist hier 1900 Toisen dick. Der kurze Aufenthalt in der ungeheuren Höhe, zu der wir aufgestiegen sind, war höchst trist und furchterregend; wir waren von einem Nebel umhüllt, der uns nur von Zeit zu Zeit die fürchterlichen Abgründe erahnen ließ, die uns umgaben. Kein lebendiges Wesen, auch nicht der Kondor, der auf dem [gut 5700 Meter hohen] Antisana beständig über unseren Köpfen schwebte, belebte die Lüfte. Moosflecken waren die einzigen organischen Wesen, die uns daran erinnerten, dass wir uns noch auf der bewohnten Erde befanden.

Es ist wohl wahrscheinlich, dass der Chimborazo, wie der Pichincha und der Antisana, vulkanischer Natur ist. Der Grat, auf dem wir hinaufgestiegen waren, besteht aus einem verbrannten und verschlackten, mit Bimsstein gemengten Gestein; er gleicht allen Lavaströmen dieses Landes und setzt sich über den Punkt, an dem ich meine Untersuchungen einstellen musste, in Richtung der Spitze des Berges hinauf fort. Es ist möglich, dass diese Spitze der Krater eines erloschenen Vulkans ist, und dies darf gar als wahrscheinlich gelten; doch lässt schon der bloße Gedanke an diese Möglichkeit mit Recht erschaudern: Denn wenn sich der Vulkan wieder entzündete, so würde dieser Koloss die gesamte Provinz zerstören.

(Brief aus Lima vom 25. November 1802; abgedruckt in der 2006 bei Eichborn erschienenen Ausgabe "Über einen Versuch, den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen")

ZUM GEBURTSTAG DES NATURFORSCHERS

Über den Autor (1769-1859)

Samstag, 13. September 2014

Marie von Ebner-Eschenbach: Aphorismen

Einen Gedanken verfolgen – wie bezeichnend dies Wort! Wir eilen ihm nach, erhaschen ihn, er entwindet sich uns, und die Jagd beginnt von neuem. Der Sieg bleibt zuletzt dem Stärkeren. Ist es der Gedanke, dann lässt er uns nicht ruhen, immer wieder taucht er auf – neckend, quälend, unserer Ohnmacht, ihn zu fassen, spottend. Gelingt es aber der Kraft unseres Geistes, ihn zu bewältigen, dann folgt dem heißen Ringkampf ein beseligendes, unwiderstehliches Bündnis auf Leben und Tod, und die Kinder, die ihm entspringen, erobern die Welt.

(Aus der 1880 erstmals erschienenen, später erweiterten Sammlung)

ZUM GEBURTSTAG DER SCHRIFTSTELLERIN

Über die Autorin (1830-1916)

Freitag, 12. September 2014

Christian Dietrich Grabbe: Herzog Theodor von Gothland

BERDOA [Oberbefehlshaber der Finnen im Krieg gegen die Schweden]
Trompeter, blast den Kampf zu neuen Flammen,
Den Mut der Finnen blaset wieder an!

ROSSAN [Finnischer Feldherr]
Das hilft Euch nichts. Das Volk ist zu verzagt.
Zweimal wards nun an diesem Tag geschlagen.

BERDOA
So will ich denn zum letzten Mittel greifen:
Ich lasse sie verzweifeln! Finnen! Wir
Sind hoffnungslos verloren! (Wehgeheul.) Nimmer seht
Ihr eurer Heimat Küsten, nimmer seht
Ihr eure Weiber, eure Kinder wieder;
Auf dieser fremden Erd, wo heute schon
So viele Kameraden fielen, werdet
Ihr unbeweint verwesen!

DIE FINNEN
Rette uns!
Errette uns!

BERDOA
Die Schweden treiben uns
Wie 'n Rudel Wild zusammen, – rings sind wir
Umzingelt; auf dem Meere (länger darf
Ichs nicht verschweigen) kreuzt die Feindesflotte
Und droht mit einer Landung unsren Rücken; auf
Dem Lande dringen, wie vier fürchterliche Schnitter,
Der König Olaf, der Graf Holm, der Graf
Arboga, dem der Pferdeschweif den Helm
Umflattert, und der alte Herzog Gothland,
Mit ihren Schwertern Finnlands Jugend un-
Barmherzig niedermähend, auf uns ein!
Schon harren über uns die Krähn Auf unsren Tod,
(nahende Trommeln und Geschrei) schon nahn mit Siegsgejauchz
Die Schweden –

DIE FINNEN
Rette! rette uns!

BERDOA
und nichts
Als nur Verzweiflung kann uns retten!


(Aus der ersten Szene des dritten Akts der 1822 abgeschlossenen Tragödie)

ZUM TODESTAG DES DRAMATIKERS

Über den Autor (1801-1835)

Donnerstag, 11. September 2014

Johann Bernhard Basedow: Das in Dessau errichtete Philanthropinum

Die Wissenschaften, die man hier lernen und üben kann, sind ohne Ausnahme alle, welche für die gesitteten Stände und für die Studierenden, wenn ihre künftige besondere Lebensart noch nicht bestimmt ist, gemeinnützig sind. Folglich muss man ausnehmen die eigentliche Gelehrtheit in der Theologie, in den bürgerlichen besonderen Rechten und in der Arzneiwissenschaft, ebensowohl als dasjenige, was nur für einen künftigen Offizier, Stallmeister, Jägermeister, Finanzrat, Handelsmann, Baumeister usw. der Jugend zu lernen nützlich wäre. Aber Lehre und Übung in allen Teilen der Philosophie, auch der Naturkunde, Mathematik und der Wohlredenheit kann man hier so vollkommen verlangen und erwarten, als der Nutzen der Lernenden, sogar bis ins männliche Alter hin, erfordert.

(Aus dem Kapitel "Von Pensionisten des Philanthropinums" der 1774 erschienenen Schrift zur Eröffnung der Reformschule)

ZUM GEBURTSTAG DES PÄDAGOGEN

Über den Autor (1724-1790)

Mittwoch, 10. September 2014

Elisabeth von Österreich-Ungarn: An meinen Meister

Es schluchzt meine Seele, sie jauchzt und sie weint,
Sie war heute Nacht mit der Deinen vereint;
Sie hielt Dich umschlungen so innig und fest,
Du hast sie an Deine mit Inbrunst gepresst.
Du hast sie befruchtet, Du hast sie beglückt,
Sie schauert und bebt noch, doch ist sie erquickt.
O könnten nach Monden aus ihr auch erblühn
So wonnige Lieder, wie Dir einst gediehn! –
Wie würde sie hegen, die Du ihr geschenkt,
Die Kinder, die Du, Deine Seele, getränkt.

(Gedicht für Heinrich Heine, aus den Winterliedern von 1887)

ZUM TODESTAG DER KAISERIN

Über die Autorin (1837-1898)

Dienstag, 9. September 2014

Clemens Brentano: Rückblick

Ich wohnte unter vielen, vielen Leuten,
Und sah sie alle tot und stille stehn,
Sie sprachen viel von hohen Lebensfreuden
Und liebten, sich im kleinsten Kreis zu drehn;
So war mein Kommen schon ein ewig Scheiden,
Und jeden hab ich einmal nur gesehn,
Denn nimmer hielt mich’s; flüchtiges Geschicke
Trieb wild mich fort, sehnt ich mich gleich zurücke!

Und manchem habe ich die Hand gedrücket,
Der freundlich meinem Schritt entgegensah,
Hab in mir selbst die Kränze all gepflücket,
Denn keine Blume war, kein Frühling da,
Und hab im Flug die Unschuld mit geschmücket,
War sie verlassen meinem Wege nah;
Doch ewig, ewig trieb mich’s schnell zu eilen,
Konnt niemals meines Werkes Freude teilen!

Rund um mich war die Landschaft wild und öde,
Kein Morgenrot, kein goldner Abendschein,
Kein kühler Wind durch dunkle Wipfel wehte,
Es grüßte mich kein Sänger in dem Hain.
Auch aus dem Tal schallt’ keines Hirten Flöte,
Die Welt schien mir in sich erstarrt zu sein.
Ich hörte in des Stromes wildem Brausen
Nur eignen Fluges Flügelschläge sausen!

Nur in mir selbst die Tiefe zu ergründen,
Senkt ich ins Herz mit Geistesmacht den Blick;
Doch hier auch konnt es eigne Ruh nicht finden,
Kehrt friedlos stets zur Außenwelt zurück;
Es sah wie Traum das Leben unten schwinden,
Las in den Sternen ewiges Geschick;
Und rings um mich eiskalte Stimmen sprachen:
"Das Herz, es will vor Wonne schier verzagen!"

Ich sah sie nicht, die großen Süßigkeiten
Vom Überfluss der Welt; sie schien mir schal,
Ich musst hinweg mit schnellem Fittich gleiten.
Hinabgedrückt von unerkannter Qual,
Konnt nimmer ich Frucht und Genuss erbeuten,
Und zählte stumm der Flügelschläge Zahl,
Von ewigen, unfühlbar mächt’gen Wogen
In weite, weite Ferne hingezogen!

Und so noch jetzt! Wohl muss ich es gestehen,
Dass Dinge mich umscheinen, menschengleich;
Zu hören sie, ja leibhaft sie zu sehen
Kann ich nicht leugnen; doch bleibt mir dies Reich
Der Welt so fremd und hohl
, dass all ihr Drehen
So viel nicht schafft, dass mir der Zweifel weich’,
Ob Sein, ob Nichtsein seinen Spuk hier treibe,
Ob solcher Welt auch Seele wohn’ im Leibe!

(Gedicht aus dem Jahre 1803)

ZUM GEBURTSTAG DES DICHTERS

Über den Autor (1778-1842)

Montag, 8. September 2014

Eduard Mörike: Auf eine Lampe

Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du,
An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier,
Die Decke des nun fast vergessnen Lustgemachs.
Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand
Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht,
Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn.
Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist
Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form –
Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein?
Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.

(1846 entstandenes Gedicht)

ZUM GEBURTSTAG DES DICHTERS

Über den Autor (1804-1875)