Donnerstag, 25. September 2014

Rudolf Otto: Das Heilige

Etwas als 'heilig' erkennen und anerkennen, ist in erster Linie eine eigentümliche Bewertung, die so nur auf religiösem Gebiete vorkommt. Sie greift zwar alsbald auf anderes, z.B. auf die Ethik, über, aber sie entspringt nicht selbst aus anderem. Sie hat als solches ein völlig artbesonderes Moment in sich [...].

Diese Behauptung wäre nun von vornherein falsch, wenn das Heilige das wäre, als was es in manchem Sprachgebrauche, im philosophischen und gewöhnlich auch im theologischen, genommen wird. Wir haben uns nämlich gewöhnt, 'heilig' in einem Sinne zu gebrauchen, der ein durchaus übertragener, keineswegs sein ursprünglicher ist. Wir verstehen es nämlich gewöhnlich als das absolute sittliche Prädikat, als vollendet gut. So nennt Kant einen heiligen Willen den Willen, der aus Antrieb der Pflicht ohne Wanken dem moralischen Gesetz gehorcht: das würde aber einfach der vollkommene moralische Wille sein. So redet man auch von der Heiligkeit der Pflicht oder des Gesetzes, wenn man nichts anderes meint als eben ihre praktische Notwendigkeit, ihre allgemeingültige Verbindlichkeit. Aber ein solcher Gebrauch des Wortes heilig ist nicht streng. Heilig schließt zwar alles dieses mit ein, enthält aber, auch noch für unser Gefühl, einen deutlichen Überschuss, den es hier zunächst zu besondern gilt. Ja, die Sache liegt vielmehr so, dass Wort heilig und seine sprachlichen Gleichwerte im Semitischen, Lateinischen, Griechischen und in anderen alten Sprachen zunächst und vorwiegend nur diesen Überschuss bezeichneten und das Moment des Moralischen überhaupt nicht oder nicht von vornherein und niemals ausschließlich befassten. Da unser Sprachgefühl heute zweifellos immer das Sittliche unter Heilig einbezieht, so wird es dienlich sein, bei Aufsuchung jenes eigentümlichen Sonderbestandteiles, wenigstens für den vorübergehenden Gebrauch unserer Untersuchung selbst, einen besonderen Namen dafür zu erfinden, der dann bezeichnen soll das Heilige minus seines sittlichen Momentes und, wie wir nun gleich hinzufügen, minus seines rationalen Momentes überhaupt. / Das, wovon wir reden und was wir versuchen wollen, einigermaßen anzugeben, nämlich zu Gefühl zu bringen, lebt in allen Religionen als ihr eigentlich Innerstes, und ohne es wären sie gar nicht Religion. Aber mit ausgezeichneter Kräftigkeit lebt es in den semitischen Religionen und ganz vorzüglich hier wieder in der biblischen. Es hat hier auch einen eigenen Namen: nämlich qadosch, dem hagios und sanctus und noch genauer sacer entsprechen. Dass diese Namen in allen drei Sprachen das 'Gute' und schlechthin Gute mitbefassen, nämlich auf der höchsten Stufe der Entwicklung und Reife der Idee, ist gewiss, und dann übersetzen wir sie mit 'heilig'. Aber dieses 'heilig' ist dann erst die allmähliche ethische Schematisierung und Auffüllung eines eigentümlichen ursprünglichen Momentes, das an sich selber gegen das Ethische auch gleichgültig sein und für sich erwogen werden kann. Und in den Anfängen der Entwicklung dieses Momentes bedeuten alle jene Ausdrücke fraglos zunächst etwas ganz anderes als das Gute. Das ist von den heutigen Auslegern wohl allgemein zugestanden. Man erklärt es mit Recht für eine rationalistische Umdeutung, wenn qadosch einfach mit Gott gedeutet wird.

Es gilt also, für dieses Moment in seiner Vereinzelung einen Namen zu finden, der erstens es in seiner Besonderheit festhält, und der zweitens ermöglicht, die etwaigen Unterarten oder Entwicklungsstufen desselben mitzubefassen und mitzubezeichnen. Ich bilde hierfür zunächst das Wort 'das Numinöse' (wenn man von 'omen' 'ominös' bilden kann, dann auch von 'numen' 'numinös') und rede von einer eigentümlichen numinosen Deutungs- und Bewertungskategorie und ebenso von einer numinosen Gemütsgestimmtheit, die allemal da eintritt, wo jene angewandt, das heißt da, wo ein Objekt als numinoses vermeint worden ist. Da diese Kategorie vollkommen sui generis [von eigener Art] ist, so ist sie wie jedes ursprüngliche und Grunddatum nicht definierbar im strengen Sinne, sondern nur erörterbar. Man kann dem Hörer nur dadurch zu ihrem Verständnis helfen, dass man versucht, ihn durch Erörterung zu dem Punkte seines eigenen Gemütes zu leiten, wo sie ihm dann selber sich regen, entspringen und bewusst werden muss. Man kann dieses Verfahren unterstützen, indem man ihr Ähnliches oder auch ihr charakteristisch Entgegengesetztes, das in anderen bereits bekannten und vertrauten Gemütsbereichen vorkommt, angibt und dann hinzufügt: 'Unser X ist dieses nicht, ist aber diesem verwandt, jenem entgegengesetzt. Wird es dir nun nicht selber einfallen?' Das heißt: unser X ist nicht im strengen Sinne lehrbar, sondern nur anregbar, erweckbar - wie alles, was 'aus dem Geiste' kommt.

(Aus dem erstmals 1917 erschienen Werk 'über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen')

ZUM GEBURTSTAG DES RELIGIONSWISSENSCHAFTLERS

Über den Autor (1869-1937)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen