Inzwischen haben sich die alten Formen der
Religion noch keineswegs überlebt, und es wird schwerlich dahin kommen,
dass es mit ihrem idealen Gehalt jemals völlig vorbei ist, wie mit einer
ausgepressten Zitrone, bevor neue Formen des ethischen Idealismus
auftreten. So einfach und unverworren geht es im Wechsel irdischer
Meinungen und Bestrebungen nicht zu. Der Kultus Apollos und Jupiters war
noch nicht ganz bedeutungslos geworden, als das Christentum hereinbrach,
und der Katholizismus barg noch einen reichen Schatz von Geist und
Leben in seinem Innern, als Luther losschlug. So könnte auch heute
wieder eine neue Religionsgemeinschaft durch die Gewalt der Ideen und
den Zauber ihrer genossenschaftlichen Grundsätze eine Welt im Sturm
erobern, während noch mancher Stamm der alten Pflanzung in voller
Lebenskraft dasteht und seine Früchte bringt; die bloße Negation aber
prallt ab, wo das Gebiet des Überlebten und Abgestorbenen aufhört,
welches ihr verfallen ist. – Ob auch aus den alten Bekenntnissen ein
solcher Strom neuen Lebens hervorgehen könnte, oder ob umgekehrt eine
religionslose Genossenschaft ein Feuer von so verzehrender Gewalt
entzünden könnte, wissen wir nicht; eins aber ist sicher: wenn ein Neues
werden und das Alte vergehen soll, müssen sich zwei große Dinge
vereinigen: eine weltentflammende ethische Idee und eine soziale Leistung, welche mächtig genug ist, die niedergedrückten Massen um eine große
Stufe emporzuheben. Mit dem nüchternen Verstande, mit künstlichen
Systemen wird dies nicht geschaffen. Den Sieg über den zersplitternden
Egoismus und die ertötende Kälte der Herzen wird nur ein großes Ideal
erringen, welches wie ein »Fremdling aus der andern Welt« unter die
staunenden Völker tritt und mit der Forderung des Unmöglichen die
Wirklichkeit aus ihren Angeln reißt.
Solange dieser Sieg nicht errungen ist, solange
keine neue Lebensgemeinschaft den Armen und Elenden fühlen lässt, dass er
Mensch unter Menschen ist, sollte man nicht so eilfertig damit sein, den
Glauben zu bekämpfen, damit nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet
wird. Man verbreite die Wissenschaft, man rufe die Wahrheit auf allen
Gassen und in allen Sprachen und lasse daraus werden, was daraus wird;
den Kampf der Befreiung aber, den absichtlichen und unversöhnlichen
Kampf richte man gegen die Punkte, wo die Bedrohung der Freiheit, die
Hemmung der Wahrheit und Gerechtigkeit ihre Wurzel hat: gegen die weltlichen und bürgerlichen Einrichtungen,
durch welche die Kirchengesellschaften einen depravierenden [verderblichen] Einfluss
erlangen, und gegen die unterjochende Gewalt einer perfiden, die
Freiheit der Völker systematisch untergrabenden Hierarchie. Werden diese
Einrichtungen beseitigt, wird der Terrorismus der Hierarchie gebrochen,
so können die extremsten Meinungen sich nebeneinander bewegen, ohne dass
fanatische Übergriffe entstehen, und ohne dass der stetige Fortschritt
der Einsicht gehemmt wird. Es ist wahr, dass dieser Fortschritt die
abergläubische Furcht zerstören wird, eine Zerstörung, die großenteils
schon, selbst unter den untersten Schichten des Volkes, vollzogen ist.
Fällt die Religion mit dieser abergläubischen Furcht dahin, so mag sie
fallen; fällt sie nicht, so hat ihr idealer Inhalt sich bewährt, und er
mag dann auch ferner in dieser Form bewahrt bleiben, bis die Zeit ein
Neues schafft. Es ist dann nicht einmal sehr zu beklagen, wenn der
Inhalt der Religion von den meisten Gläubigen, ja selbst von einem Teil
der Geistlichen noch als buchstäblich wahr betrachtet wird; denn jener
völlig tote und inhaltsleere Buchstabenglaube, der immer verderblich
wirkt, ist kaum noch möglich, wo jeder Zwang hinwegfällt.
ZUM GEBURTSTAG DES PHILOSOPHEN
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