Sonntag, 28. September 2014

Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart

Inzwischen haben sich die alten Formen der Religion noch keineswegs überlebt, und es wird schwerlich dahin kommen, dass es mit ihrem idealen Gehalt jemals völlig vorbei ist, wie mit einer ausgepressten Zitrone, bevor neue Formen des ethischen Idealismus auftreten. So einfach und unverworren geht es im Wechsel irdischer Meinungen und Bestrebungen nicht zu. Der Kultus Apollos und Jupiters war noch nicht ganz bedeutungslos geworden, als das Christentum hereinbrach, und der Katholizismus barg noch einen reichen Schatz von Geist und Leben in seinem Innern, als Luther losschlug. So könnte auch heute wieder eine neue Religionsgemeinschaft durch die Gewalt der Ideen und den Zauber ihrer genossenschaftlichen Grundsätze eine Welt im Sturm erobern, während noch mancher Stamm der alten Pflanzung in voller Lebenskraft dasteht und seine Früchte bringt; die bloße Negation aber prallt ab, wo das Gebiet des Überlebten und Abgestorbenen aufhört, welches ihr verfallen ist. – Ob auch aus den alten Bekenntnissen ein solcher Strom neuen Lebens hervorgehen könnte, oder ob umgekehrt eine religionslose Genossenschaft ein Feuer von so verzehrender Gewalt entzünden könnte, wissen wir nicht; eins aber ist sicher: wenn ein Neues werden und das Alte vergehen soll, müssen sich zwei große Dinge vereinigen: eine weltentflammende ethische Idee und eine soziale Leistung, welche mächtig genug ist, die niedergedrückten Massen um eine große Stufe emporzuheben. Mit dem nüchternen Verstande, mit künstlichen Systemen wird dies nicht geschaffen. Den Sieg über den zersplitternden Egoismus und die ertötende Kälte der Herzen wird nur ein großes Ideal erringen, welches wie ein »Fremdling aus der andern Welt« unter die staunenden Völker tritt und mit der Forderung des Unmöglichen die Wirklichkeit aus ihren Angeln reißt.

Solange dieser Sieg nicht errungen ist, solange keine neue Lebensgemeinschaft den Armen und Elenden fühlen lässt, dass er Mensch unter Menschen ist, sollte man nicht so eilfertig damit sein, den Glauben zu bekämpfen, damit nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Man verbreite die Wissenschaft, man rufe die Wahrheit auf allen Gassen und in allen Sprachen und lasse daraus werden, was daraus wird; den Kampf der Befreiung aber, den absichtlichen und unversöhnlichen Kampf richte man gegen die Punkte, wo die Bedrohung der Freiheit, die Hemmung der Wahrheit und Gerechtigkeit ihre Wurzel hat: gegen die weltlichen und bürgerlichen Einrichtungen, durch welche die Kirchengesellschaften einen depravierenden  [verderblichen] Einfluss erlangen, und gegen die unterjochende Gewalt einer perfiden, die Freiheit der Völker systematisch untergrabenden Hierarchie. Werden diese Einrichtungen beseitigt, wird der Terrorismus der Hierarchie gebrochen, so können die extremsten Meinungen sich nebeneinander bewegen, ohne dass fanatische Übergriffe entstehen, und ohne dass der stetige Fortschritt der Einsicht gehemmt wird. Es ist wahr, dass dieser Fortschritt die abergläubische Furcht zerstören wird, eine Zerstörung, die großenteils schon, selbst unter den untersten Schichten des Volkes, vollzogen ist. Fällt die Religion mit dieser abergläubischen Furcht dahin, so mag sie fallen; fällt sie nicht, so hat ihr idealer Inhalt sich bewährt, und er mag dann auch ferner in dieser Form bewahrt bleiben, bis die Zeit ein Neues schafft. Es ist dann nicht einmal sehr zu beklagen, wenn der Inhalt der Religion von den meisten Gläubigen, ja selbst von einem Teil der Geistlichen noch als buchstäblich wahr betrachtet wird; denn jener völlig tote und inhaltsleere Buchstabenglaube, der immer verderblich wirkt, ist kaum noch möglich, wo jeder Zwang hinwegfällt.


ZUM GEBURTSTAG DES PHILOSOPHEN

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen