Sonntag, 31. August 2014

Theodor Lessing: Über einen Ausspruch von Dr. Goebbels

Ein Naturforscher aus der Goethezeit, Carl Gustav Carus, gibt in seinen "Denkwürdigkeiten" das folgende Beispiel für die Unentwirrbarkeit der menschlichen Erinnerung. Der Bildhauer Friedrich Tieck sollte in Dresden eine Auszeichnung empfangen und wurde zur königlichen Hoftafel eingeladen. Bei der Tafel wurde er dem Hofmarschall gegenübergesetzt, dem der König den Auftrag erteilt hatte, etwas den Künstler Ehrendes bei Tische vorzubringen. Dessen eingedenk, erhebt sich die alte Exzellenz während des Tafelns und trinkt seinem Gegenüber zu, mit den Worten "Prost Oranien!" Dieser versteht nicht den Sinn des Trinkspruchs, sondern merkt nur, dass es eine Ehrung sein sollte. Er beschließt, den Zusammenhang herauszubringen. Und es stellt sich folgendes heraus:
 
Der Hofmarschall hatte den Bildhauer Friedrich Tieck verwechselt mit seinem Vater, dem Bildhauer Friedrich Christian Tieck, weil dieser ebenfalls in Dresden wohnte. Diesen aber hatte er verwechselt mit seinem berühmteren Bruder, dem Dichter Ludwig Tieck, weil auch dieser einst seinen Wohnsitz in Dresden hatte. Diesen Ludwig Tieck aber verwechselte er mit einem noch älteren Dichter, welcher ebenfalls in Dresden gewohnt hatte, dem Dichter Ludwig Tiedge. Dieser Ludwig Tiedge aber hatte seinerzeit ein berühmtes Epos geschrieben, das in den Literaturgeschichten erwähnt wird. Dieses Epos hatte den Titel "Urania". Diesen Titel hatte die alte Exzellenz nicht genau behalten, sondern verwechselte ihn mit dem Haus Oranien, welches Goethe im Egmont besungen hat. Aus dem Wunsch, etwas Bedeutungsreiches und zur Sache Gehöriges als Kunstmäzen von sich zu geben, formte sich ihm dann der Trinkspruch: "Prost Oranien!" ...
 
Ein Gegenstück, wenn auch weniger freundlich, bildet der folgende Passus aus einer Rede, die der Führer der Nationalsozialisten, Herr Dr. Goebbels, in Leipzig hielt, als er sich wegen Beleidigung des Reichspräsidenten zu verteidigen hatte: "Der jüdische Geschichtsprofessor Lessing hat den Herrn Reichspräsidenten in ausländischen Blättern mit dem Massenmörder Haarmann verglichen, wofür ihn die nationale Studentenschaft züchtigte, aber das marxistische Ministerium mit einem Forschungsauftrag belohnte." Gesetzt, ich wollte diesen Rattenkönig entwirren, wie könnte ich das? Erstens, ich bin nicht Geschichtsprofessor (er verwechselt mich entweder mit dem Kunsthistoriker Julius Lessing oder denkt wie der Bauer, bei dem ich im Sommer wohnte: als er hörte, ich sei "Schriftsteller", sagte er mir, er habe mich schon in der Schule gehabt). Zweitens habe ich nie in ausländischen Blättern etwas geschrieben, sondern bin seit langen Jahren Mitarbeiter des "Prager Tagblatt", einer deutschen Zeitung. Drittens habe ich nie den Herrn Reichspräsidenten beleidigt, sondern habe zur Zeit vor der Wahl des Reichspräsidenten vor der Kandidatur Hindenburgs gewarnt. Viertens habe ich niemals Hindenburg mit dem Massenmörder Haarmann verglichen, sondern erregte Ärgernis erstens durch jenen Warnaufsatz und zweitens durch Aufsätze gelegentlich des Haarmannprozesses, der mehr als ein Jahr zuvor stattfand. Fünftens bin ich nicht von der nationalen Studentenschaft gezüchtigt, sondern ein Häuflein grüner Jungen an einer technischen Hochschule entfesselte einen großen politischen Lärm gelegentlich jenes Aufsatzes, woraufhin das Kultusministerium ein Verfahren gegen mich einleitete, welches sechstens damit endete, dass ein mir zustehender Lehrauftrag umgewandelt wurde in einen Forschungsauftrag, und siebentens war das Ministerium nicht "marxistisch", sondern lau demokratisch und schuf mir viel Bitteres ...
 
Nun denke man folgendes: In der Kulturgeschichte, Religionsgeschichte, Doxographie beruhen zahlreiche Geschichtsbilder, etwa z. B. das Bild des Sokrates, einzig auf ein paar Sätzen, die von Zeitgenossen überliefert sind. Wer gibt Gewähr dafür, dass da nicht "Asssoziationsknäuel" überliefert werden, gleich den obigen? Wenn nun alles, was von mir übrigbleibt, der Satz aus der Rede des Doktor Goebbels wäre, so wie vom Catilina nichts übrigblieb als die Rede des Cicero? Schrecklich! Und da bekämpft man noch die Skepsis meiner "Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen"?

(Artikel im "Prager Tagblatt" vom 18.10.1930)

ZUM TODESTAG DES PUBLIZISTEN

Über den Autor (1872-1933)

Samstag, 30. August 2014

Gisela von Arnim: Das Leben der Hochgräfin Gritta von Rattenzuhausbeiuns

Es war einmal ein altes Schloss, umfasst von hohen Bergen, das selber auf einem hohen Berg lag, etwas niederer als die ihn umgebenden. Wie ein Ring umschloss das Tal den Berg, und in einem Ring umschlossen die dunklen felseckigen Berge das Tal. Aus ihren Moosrinden wuchs hie und da spärliches Binsengras hervor; unten im Tale lief hie und da ein Bächlein durchs Grün an hie und dort einem Gebüsch vorüber, die Wurzeln spülend. Oben im Gezweig guckten junge Vogelköpfchen aus den Halm- und Mutterfederflaum-Nestchen dem harmlosen Dahinrollen unten zu, und war der Bach artig, so erzählte er ihnen leise Märchen, und sie taten zuweilen einen Piep des Wohlgefallens dazwischen; kurz, es war ein schönes Leben in dem Gebüsch. – Bald flog eins in den Lüften oder sang lieblich; sie hatten sich hier ungestört und häuslich zufrieden niedergelassen. Es war ein Ausweg aus dem Tal, der ganz überbaut war von Felsen; manchmal sah man in Mitten der Berge in den Eingang einer engen dunklen Höhle, und an verschiednen Orten stürzten kleine Gießbäche heraus, grade hinab ins Tal, brausten dort heftig auf und verloren sich leise murmelnd. Die Grundmauern des Schlosses bauten sich dicht am Rande der Felskuppe schräg in die Höhe, in kahlen Wänden, zuweilen durch ein Fensterloch unterbrochen mit alten Eisenstäben verwahrt, mehr für Ratten als für ein Menschengesicht. So erschienen die Wände auch belebt, wenn in schönen Abendstunden die Welt hochrot gefärbt war und die dunkeln Berge von mattem Rosenschimmer bestrahlt; da regte sich die ganze Burg. Es war ein Getümmel von Begraurockten; da balanzierten die jungen Ratten auf der schrägen Wand, da kam eine Rattenmutter mit sieben Jungen, die sollten die Abendluft genießen, dort ein dicker Rattenklausner oder gar ein vielköpfiger Rattenkönig; bis zuletzt ein graues Gewimmel die alten Mauern deckte. Dann sah es wohl von weitem aus, wenn sich die Abendsonne in einem Schloßfenster spiegelte, als leuchte sie den alten Steinen – denn dafür hielt man die Ratten in der Ferne – zum Abendtanz, und man hatte Angst, sie würden einmal ganz davon laufen und den Besitzer ohne Besitz lassen. Es waren auch Türme an den Ecken, aber zerfallen, außer einem, der noch zierlich an das alte Nest geklebt war; aber aus den gotischen Rosen und Linien der Verzierungen wuchs Gras und Moos. / Dies war das Schloss von einem alten Grafen Rattenzuhausbeiuns, der mit einem Töchterchen dort wohnte.

(Anfang des zusammen mit Mutter Bettina geschriebenen, 1840 erschienenen Märchens)

ZUM GEBURTSTAG DER SCHRIFTSTELLERIN

Über die Autorin (1827-1889)

Freitag, 29. August 2014

Ulrich von Hutten: Gesprächbüchlin

Do etwan Christus Petrum ansahe, sprach er zu ihm: "Petre, weid meine Schof." Was tunt diese? Ausleeren sie nit das christlich Volk und zwingent das mit ihrer Rauberei zu Armut und Hunger? Schinden sie nit die Schof Christi bis uff das Leben? Weiter hat er auch zu Petro gesprochen: "Und du sollt dich auch etwan umkehren und deine Brüder stärken." Ebendieses tunt auch unser Päpst. Ja, täglich aussetzen, leermachen und schwächen sie uns je mehr und mehr, etwan auch zerknütschen und ertöten sie uns gar mit der Kraft ihres Donderschlags. Dann um mancherlei Ursach willen werdent die Seelen der Menschen ertötet, wo man nit zu Rom beichtet. Gleich als ob einer an dem Ort, er kranket, nit auch geheilet werden möge, und an dem Ort einer sündiget, daselbst nit möge Gnad und Barmherzigkeit vor seine Sünd um Gott erwerben, und sei vonnöten, hin und hinwider zu laufen, oder als ob einem die Stadt und nit sein eigen Gewissen solichs bring.

(Aus dem 1521 erschienenen Werk, lateinisch verfasst und von ihm selbst ins Deutsche übertragen)

ZUM TODESTAG DES HUMANISTEN

Über den Autor (1488-1523)

Donnerstag, 28. August 2014

Johann Wolfgang von Goethe: Vier Jahreszeiten

Früchte bringt das Leben dem Mann; doch hangen sie selten
Rot und lustig am Zweig, wie uns ein Apfel begrüßt.

Richtet den herrschenden Stab auf Leben und Handeln, und lasset
Amorn, dem lieblichen Gott, doch mit der Muse das Spiel!

Lehret! Es ziemet euch wohl, auch wir verehren die Sitte;
Aber die Muse lässt nicht sich gebieten von euch.

Nimm dem Prometheus die Fackel, beleb, o Muse, die Menschen!
Nimm sie dem Amor, und rasch quäl und beglücke, wie er!

Alle Schöpfung ist Werk der Natur. Von Jupiters Throne
Zuckt der allmächtige Strahl, nährt und erschüttert die Welt.

Freunde, treibet nur alles mit Ernst und Liebe; die beiden
Stehen, dem Deutschen so schön, den ach! so vieles entstellt.

Kinder werfen den Ball an die Wand und fangen ihn wieder;
Aber ich lobe das Spiel, wirft mir der Freund ihn zurück.

Immer strebe zum Ganzen, und kannst du selber kein Ganzes
Werden, als dienendes Glied schließ an ein Ganzes dich an.

Wärt ihr, Schwärmer, imstande, die Ideale zu fassen,
O! so verehrtet ihr auch, wie sich's gebührt, die Natur.

Wem zu glauben ist, redlicher Freund, das kann ich dir sagen:
Glaube dem Leben; es lehrt besser als Redner und Buch.

Schädliche Wahrheit, ich ziehe sie vor dem nützlichen Irrtum.
Wahrheit heilet den Schmerz, den sie vielleicht uns erregt.

Schadet ein Irrtum wohl? Nicht immer! aber das Irren,
Immer schadet's. Wie sehr, sieht man am Ende des Wegs.

Fremde Kinder, wir lieben sie nie so sehr als die eignen;
Irrtum, das eigene Kind, ist uns dem Herzen so nah.

Irrtum verlässt uns nie, doch ziehet ein höher Bedürfnis
Immer den strebenden Geist leise zur Wahrheit hinan.

Gleich sei keiner dem andern; doch gleich sei jeder dem Höchsten.
Wie das zu machen? Es sei jeder vollendet in sich.

Warum will sich Geschmack und Genie so selten vereinen?
Jener fürchtet die Kraft, dieses verachtet den Zaum.

Fortzupflanzen die Welt, sind alle vernünftgen Diskurse
Unvermögend; durch sie kommt auch kein Kunstwerk hervor.

Welchen Leser ich wünsche? Den unbefangensten, der mich,
Sich und die Welt vergisst, und in dem Buche nur lebt.

Dieser ist mir der Freund, der mit mir Strebendem wandelt:
Lädt er zum Sitzen mich ein, stehl ich für heute mich weg.

Wie beklag ich es tief, dass diese herrliche Seele,
Wert, mit dem Zwecke zu gehn, mich nur als Mittel begreift!

Preise dem Kinde die Puppen, wofür es begierig die Groschen
Hinwirft; wahrlich du wirst Krämern und Kindern ein Gott.

Wie verfährt die Natur, um Hohes und Niedres im Menschen
Zu verbinden? Sie stellt Eitelkeit zwischen hinein.

Auf das empfindsam Volk hab ich nie was gehalten; es werden,
Kommt die Gelegenheit, nur schlechte Gesellen daraus.

Franztum drängt in diesen verworrenen Tagen, wie ehmals
Luthertum es getan, ruhige Bildung zurück.

Wo Parteien entstehn, hält jeder sich hüben und drüben;
Viele Jahre vergehn, eh sie die Mitte vereint.

»Jene machen Partei; welch unerlaubtes Beginnen!
Aber unsre Partei, freilich, versteht sich von selbst.«

Willst du, mein Sohn, frei bleiben, so lerne was Rechtes, und halte
Dich genügsam, und nie blicke nach oben hinauf!

Wer ist der edlere Mann in jedem Stande? Der stets sich
Neiget zum Gleichgewicht, was er auch habe voraus.

Wisst ihr, wie auch der Kleine was ist? Er mache das Kleine
Recht; der Große begehrt just so das Große zu tun.

Was ist heilig? Das ist's, was viele Seelen zusammen
Bindet; bänd es auch nur leicht, wie die Binse den Kranz.

Was ist das Heiligste? Das, was heut und ewig die Geister,
Tiefer und tiefer gefühlt, immer nur einiger macht.

Wer ist das würdigste Glied des Staats? Ein wackerer Bürger;
Unter jeglicher Form bleibt er der edelste Stoff.

Wer ist denn wirklich ein Fürst? Ich hab es immer gesehen:
Der nur ist wirklich ein Fürst, der es vermochte zu sein.

Fehlet die Einsicht oben, der gute Wille von unten,
Führt sogleich die Gewalt, oder sie endet den Streit.

Republiken hab ich gesehn, und das ist die beste,
Die dem regierenden Teil Lasten, nicht Vorteil gewährt.

Bald, es kenne nur jeder den eigenen, gönne dem andern
Seinen Vorteil, so ist ewiger Friede gemacht.

Keiner bescheidet sich gern mit dem Teile, der ihm gebühret,
Und so habt ihr den Stoff immer und ewig zum Krieg.

Zweierlei Arten gibt es, die treffende Wahrheit zu sagen:
Öffentlich immer dem Volk, immer dem Fürsten geheim.

Wenn du laut den einzelnen schiltst, er wird sich verstocken,
Wie sich die Menge verstockt, wenn du im Ganzen sie lobst.

Du bist König und Ritter und kannst befehlen und streiten;
Aber zu jedem Vertrag rufe den Kanzler herbei.

Klug und tätig und fest, bekannt mit allem, nach oben
Und nach unten gewandt, sei er Minister und bleib's.

Welchen Hofmann ich ehre? Den klärsten und feinsten! Das andre,
Was er noch sonst besitzt, kommt ihm als Menschen zugut.

Ob du der Klügste seist, daran ist wenig gelegen;
Aber der Biederste sei, so wie bei Rate, zu Haus.

Ob du wachst, das kümmert uns nicht, wofern du nur singest.
Singe, Wächter, dein Lied schlafend, wie mehrere tun.

Diesmal streust du, o Herbst, nur leichte welkende Blätter.
Gib mir ein andermal schwellende Früchte dafür.

(Abschnitt "Herbst" der 1796 entstandenen Epigramme)

ZUM GEBURTSTAG DES DICHTERS

Über den Autor (1749-1832)

Mittwoch, 27. August 2014

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik

Sein, reines Sein, – ohne alle weitere Bestimmung. In seiner unbestimmten Unmittelbarkeit ist es nur sich selbst gleich und auch nicht ungleich gegen Anderes, hat keine Verschiedenheit innerhalb seiner noch nach außen. Durch irgendeine Bestimmung oder Inhalt, der in ihm unterschieden oder wodurch es als unterschieden von einem Anderen gesetzt würde, würde es nicht in seiner Reinheit festgehalten. Es ist die reine Unbestimmtheit und Leere. – Es ist nichts in ihm anzuschauen, wenn von Anschauen hier gesprochen werden kann; oder es ist nur dies reine, leere Anschauen selbst. Es ist ebensowenig etwas in ihm zu denken, oder es ist ebenso nur dies leere Denken. Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare ist in der Tat Nichts und nicht mehr noch weniger als Nichts. / Nichts, das reine Nichts; es ist einfache Gleichheit mit sich selbst, vollkommene Leerheit, Bestimmungs- und Inhaltslosigkeit; Ununterschiedenheit in ihm selbst. – Insofern Anschauen oder Denken hier erwähnt werden kann, so gilt es als ein Unterschied, ob etwas oder nichts angeschaut oder gedacht wird. Nichts Anschauen oder Denken hat also eine Bedeutung; beide werden unterschieden, so ist (existiert) Nichts in unserem Anschauen oder Denken; oder vielmehr ist es das leere Anschauen und Denken selbst und dasselbe leere Anschauen oder Denken als das reine Sein. – Nichts ist somit dieselbe Bestimmung oder vielmehr Bestimmungslosigkeit und damit überhaupt dasselbe, was das reine Sein ist. / Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe. Was die Wahrheit ist, ist weder das Sein noch das Nichts, sondern dass das Sein in Nichts und das Nichts in Sein – nicht übergeht, sondern übergegangen ist. Aber ebensosehr ist die Wahrheit nicht ihre Ununterschiedenheit, sondern dass sie nicht dasselbe, dass sie absolut unterschieden, aber ebenso ungetrennt und untrennbar sind und unmittelbar jedes in seinem Gegenteil verschwindet. Ihre Wahrheit ist also diese Bewegung des unmittelbaren Verschwindens des einen in dem anderen: das Werden; eine Bewegung, worin beide unterschieden sind, aber durch einen Unterschied, der sich ebenso unmittelbar aufgelöst hat.

(Aus dem Beginn des 1812 erschienenen ersten Band des ersten Teils des zweibändigen Werks)

ZUM GEBURTSTAG DES PHILOSOPHEN

Über den Autor (1770-1831)

Dienstag, 26. August 2014

Ludwig Thoma: Herbststimmung

Es wird schon recht bedenklich kühle,
Und schwächlich sind die Sonnenstrahlen,
Die zitternd auf dem Bürgersteige
Fast buttergelbe Kringel malen.
Das Laub wird täglich gelb und gelber;
Allmählich fällt es von den Bäumen,
Und jeder, der nur halb gebildet,
Muss Angesichtes dessen träumen.
Das Alter naht im raschen Laufe,
Und alles Sträuben ist vergebens;
Die Haare bleichen und verschwinden.
So ist Natur ein Bild des Lebens.
Ja, ja, es füllen sich die Herzen
Mit sonderbarer Todesahnung.
Und was wir in den Straßen sehen,
Ist auch nur eine leise Mahnung.
Die Witwen kommen von den Gräbern,
Die sie mit aller Liebe schmückten,
Man sieht die Spuren ihrer Tränen,
Die sie im schönen Aug' zerdrückten.
Man fühlt beim Anblick solcher Szenen
Den ganzen Frost der Lebenslage,
Und die verhängnisvolle Kürze
Der uns beschiednen Erdentage.

(Aus dem 1906 erschienenen Gedichtband "Peter Schlemihl")

ZUM TODESTAG DES SATIRIKERS

Über den Autor (1867-1921)

Montag, 25. August 2014

Johann Gottfried von Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität

Der Name Menschenrechte kann ohne Menschenpflichten nicht genannt werden; beide beziehen sich aufeinander, und für beide suchen wir ein Wort. /So auch Menschenwürde und Menschenliebe. Das Menschengeschlecht, wie es jetzt ist und wahrscheinlich lange noch sein wird, hat seinem größten Teil nach keine Würde; man darf es eher bemitleiden als verehren. Es soll aber zum Charakter seines Geschlechts, mithin auch zu dessen Wert und Würde gebildet werden. Das schöne Wort Menschenliebe ist so trivial geworden, dass man meistens die Menschen liebt, um keinen unter den Menschen wirksam zu lieben. Alle diese Worte enthalten Teilbegriffe unseres Zwecks, den wir gern mit einem Ausdruck bezeichnen möchten. / Also wollen wir bei dem Wort Humanität bleiben, an welches unter Alten und Neueren die besten Schriftsteller so würdige Begriffe geknüpft haben. Humanität ist der Charakter unseres Geschlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren und muss uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unseres Bestrebens, die Summe unserer Übungen, unser Wert sein; denn eine Angelität [Engelförmigkeit] im Menschen kennen wir nicht, und wenn der Dämon, der uns regiert, kein humaner Dämon ist, werden wir Plagegeister der Menschen. Das Göttliche in unserem Geschlecht ist also Bildung zur Humanität; alle großen und guten Menschen, Gesetzgeber, Erfinder, Philosophen, Dichter, Künstler, jeder edle Mensch in seinem Stande, bei der Erziehung seiner Kinder, bei der Beobachtung seiner Pflichten, durch Beispiel, Werk, Institut und Lehre hat dazu mitgeholfen. Humanität ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen, gleichsam die Kunst unseres Geschlechtes. Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muss, oder wir sinken, höhere und niedere Stände, zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück. / Sollte das Wort Humanität also unsere Sprache verunzieren? Alle gebildeten Nationen haben es in ihre Mundart aufgenommen; und wenn unsere Briefe einem Fremden in die Hand kämen, müssten sie ihm wenigstens unverfänglich scheinen; denn Briefe zur Beförderung der Brutalität wird doch kein ehrliebender Mensch wollen geschrieben haben.

(Aus dem 1794 erschienenen dritten Band des zehnbändigen, in Briefform gefassten Werks)

ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1744-1803)

Sonntag, 24. August 2014

Jakob Lorber: Die Haushaltung Gottes

So sprach der Herr zu und in mir (Jakob Lorber) für jedermann, und das ist wahr, getreu und gewiss: / 1. Wer mit Mir reden will, der komme zu Mir, und Ich werde ihm die Antwort in sein Herz legen; jedoch die Reinen nur, deren Herz voll Demut ist, sollen den Ton meiner Stimme vernehmen. / 2. Und wer Mich aller Welt vorzieht, Mich liebt wie eine zarte Braut ihren Bräutigam, mit dem will Ich Arm in Arm wandeln. Er wird Mich allezeit schauen wie ein Bruder den andern Bruder, und wie ich ihn schaute schon von Ewigkeit her, ehe er noch war.

(Beginn der auf etwa 20.000 Manuskriptseiten festgehaltenen Privatoffenbarung am Morgen des 15. März 1840)

ZUM TODESTAG DES "SCHREIBKNECHTES GOTTES"

Über den Autor (1800-1864)

Samstag, 23. August 2014

Adolf Loos: Architektur

Das haus hat allen zu gefallen. Zum unterschiede vom kunstwerk, das niemandem zu gefallen hat. Das kunstwerk ist eine privatangelegenheit des künstlers. Das haus ist es nicht. Das kunstwerk wird in die welt gesetzt, ohne dass ein bedürfnis dafür vorhanden wäre. Das haus deckt ein bedürfnis. Das kunstwerk ist niemandem verantwortlich, das haus einem jeden. Das kunstwerk will die menschen aus ihrer bequemlichkeit reißen. Das haus hat der bequemlichkeit zu dienen. Das kunstwerk ist revolutionär, das haus konservativ. Das kunstwerk weist der menschheit neue wege und denkt an die zukunft. Das haus denkt an die gegenwart. Der mensch liebt alles, was seiner bequemlichkeit dient. Er hasst alles, was ihn aus seiner gewonnenen und gesicherten position reißen will und belästigt. Und so liebt er das haus und hasst die kunst. / So hätte also das haus nichts mit kunst zu tun und wäre die architektur nicht unter die künste einzureihen? Es ist so. Nur ein ganz kleiner teil der architektur gehört der kunst an: das grabmal und das denkmal. Alles andere, was einem zweck dient, ist aus dem reiche der kunst auszuschließen.

(Aus dem 1910 in der Zeitschrift "Der Sturm" erschienenen Essay)

ZUM TODESTAG DES ARCHITEKTEN

Über den Autor (1870-1933)

Freitag, 22. August 2014

Max Scheler: Zur Idee des Menschen

Der Irrtum der bisherigen Lehren vom Menschen besteht darin, dass man zwischen "Leben" und "Gott" noch eine feste Station einschieben wollte, etwas als Wesen Definierbares: den "Menschen". Aber diese Station existiert nicht und gerade die Undefinierbarkeit gehört zum Wesen des Menschen. Er ist nur ein "Zwischen", eine "Grenze", ein "Übergang", ein "Gotterscheinen" im Strome des Lebens und ein ewiges "Hinaus" des Lebens über sich selbst.

(Aus dem 1914 entstandenen, im Sammelband "Vom Umsturz der Werte" enthaltenen Aufsatz)

ZUM GEBURTSTAG DES PHILOSOPHEN

Über den Autor (1874-1928)

Donnerstag, 21. August 2014

Adelbert von Chamisso: Lebenslauf bis zum Schlemihl

Aus einem alten Hause entsprossen, ward ich auf dem Schlosse zu Boncourt in der Champagne im Januar 1781 geboren. Die Auswanderung des französischen Adels entführte mich schon im Jahre 1790 dem Mutterboden. Die Erinnerungen meiner Kindheit sind für mich ein lehrreiches Buch, worin meinem geschärften Blicke jene leidenschaftlich erregte Zeit vorliegt. Die Meinungen des Knaben gehören der Welt an, die sich in ihm abspiegelt, und ich möchte zuletzt mich fragen: sind oft die des Mannes mehr sein Eigentum? – Nach manchen Irrfahrten durch die Niederlande, Holland, Deutschland und nach manchem erduldeten Elend ward meine Familie zuletzt nach Preußen verschlagen. Ich wurde im Jahre 1796 Edelknabe der Königin-Gemahlin Friedrich Wilhelms II. und trat 1798 unter Friedrich Wilhelm III. in Kriegsdienst bei einem Infanterie-Regimente der Besatzung Berlins. Die mildere Herrschaft des ersten Konsuls gewährte zu Anfange des Jahrhunderts meiner Familie die Heimkehr nach Frankreich, ich aber blieb zurück. So stand ich in den Jahren, wo der Knabe zum Manne heranreift, allein, durchaus ohne Erziehung; ich hatte nie eine Schule ernstlich besucht. Ich machte Verse, erst französische, später deutsche. Ich schrieb im Jahre 1803 den Faust, den ich aus dankbarer Erinnerung in meine Gedichte aufgenommen habe. Dieser fast knabenhafte metaphysisch-poetische Versuch brachte mich zufällig einem andern Jünglinge nah, der sich gleich mir im Dichten versuchte, K. A. Varnhagen von Ense. Wir verbrüderten uns, und so entstand unreiferweise der Musenalmanach auf das Jahr 1804, der, weil kein Buchhändler den Verlag übernehmen wollte, auf meine Kosten herauskam. Diese Unbesonnenheit, die ich nicht bereuen kann, ward zu einem segensreichen Wendepunkte meines Lebens. Obgleich mein damaliges Dichten meist nur in der Ausfüllung der poetischen Formen, welche die sogenannte neue Schule anempfahl, bestehen mochte, machte doch das Büchlein einiges Aufsehen. Es brachte mich einerseits in enge Verbrüderung mit trefflichen Jünglingen, die zu ausgezeichneten Männern heranwuchsen; anderseits zog es auf mich die wohlwollende Aufmerksamkeit von Männern, unter denen ich nur Fichte nennen will, der seiner väterlichen Freundschaft mich würdigte. / Dem ersten Musenalmanach von Ad. von Chamisso und K. A. Varnhagen folgten noch zwei Jahrgänge nach, zu denen sich ein Verleger gefunden hatte, und das Buch hörte erst auf zu erscheinen, als die politischen Ereignisse die Herausgeber und Mitarbeiter auseinandersprengten. Ich studierte indes angestrengt, zuvörderst die griechische Sprache, ich kam erst später an die lateinische und gelegentlich an die lebenden Sprachen Europas. Der Entschluss reifte in mir, den Kriegsdienst zu verlassen und mich ganz den Studien zu widmen. Die verhängnisvollen Ereignisse vom Jahre 1806 traten hemmend und verzögernd zwischen mich und meine Vorsätze. Die hohe Schule zu Halle, wohin ich den Freunden folgen sollte, bestand nicht mehr; sie selbst waren in die weite Welt zerstreut. Der Tod hatte mir die Eltern geraubt. Irr an mir selber, ohne Stand und Geschäft, gebeugt, zerknickt, verbrachte ich in Berlin die düstere Zeit. Am zerstörendsten wirkte ein Mann auf mich ein, einer der ersten Geister der Zeit, dem ich in frommer Verehrung anhing, der, mich emporzurichten, nur eines Wortes, nur eines Winkes bedurft hätte, und der, mir jetzt noch unbegreiflich, sich angelegen sein ließ, mich niederzutreten. Da wünschte mir ein Freund, ich möchte nur irgend einen tollen Streich begehen, damit ich etwas wieder gut zu machen hätte und Tatkraft wiederfände. / Der Zerknirschung, in der ich unterging, ward ich durch den Ruf als Professor am Lyceo zu Napoleonville entrissen, den unerwartet im Spätjahr 1809 ein alter Freund meiner Familie an mich ergehen ließ. Ich reiste nach Frankreich; ich trat aber meine Professur nicht an. Der Zufall, das Schicksal, das Waltende entschied abermals über mich; ich ward in den Kreis der Frau von Staël gezogen. Ich brachte nach ihrer Vertreibung aus Blois den Winter 1810-11 in Napoleon bei dem Präfekten Prosper von Barante zu, folgte im Frühjahr 1811 der hohen Herrin nach Genf und Coppet und war 1812 ein mitwirkender Zeuge ihrer Flucht. Ich habe bei dieser großartig wunderbaren Frau unvergessliche Tage gelebt, viele der bedeutendsten Männer der Zeit kennengelernt und einen Abschnitt der Geschichte Napoleons erlebt, seine Befeindung einer ihm nicht unterwürfigen Macht; denn neben und unter ihm sollte nichts Selbstständiges bestehen. / Im Spätjahr 1812 verließ ich Coppet und meinen Freund August von Staël, um mich auf der Universität zu Berlin dem Studium der Natur zu widmen. So trat ich jetzt erst handelnd und bestimmend in meine Geschichte ein, und zeichnete ihr die Richtung vor, die sie fortan unverwandt verfolgt hat. / Die Weltereignisse vom Jahre 1813, an denen ich nicht tätigen Anteil nehmen durfte – ich hatte ja kein Vaterland mehr oder noch kein Vaterland –, zerrissen mich wiederholt vielfältig, ohne mich von meiner Bahn abzulenken. Ich schrieb in diesem Sommer, um mich zu zerstreuen und die Kinder eines Freundes zu ergötzen, das Märchen Peter Schlemihl, das in Deutschland günstig aufgenommen und in England volkstümlich geworden ist.


(Aus der Einleitung zum Tagebuch "Reise um die Welt in den Jahren 1815-1818")


ZUM TODESTAG DES NATURFORSCHERS


Über den Autor (1781-1838)

Mittwoch, 20. August 2014

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Briefe

Ich lebe und webe gegenwärtig in der Philosophie. Die Philosophie ist noch nicht am Ende. Kant hat die Resultate gegeben: die Prämissen fehlen noch. Und wer kann Resultate verstehen ohne Prämissen? – Ein Kant wohl, aber was soll der große Haufe damit? Fichte, als er das letzte Mal hier war, sagte, man müsse den Genius des Sokrates haben, um in Kant einzudringen. Ich finde es täglich wahrer. – Wir müssen noch weiter mit der Philosophie! – Kant hat Alles weggeräumt, – aber wie sollten sie's merken? Vor ihren Augen muss man es in Stücke zertrümmern, dass sie's mit Händen greifen! O der großen Kantianer, die es jetzt überall gibt! Sie sind am Buchstaben stehen geblieben und segnen sich, noch so viel vor sich zu sehen. Ich bin fest überzeugt, dass der alte Aberglaube nicht nur der positiven, sondern auch der sogenannten natürlichen Religion in den Köpfen der meisten schon wieder mit den kantischen Buchstaben kombiniert ist. – Es ist eine Lust anzusehen, wie sie den moralischen [Gottes-]Beweis an der Schnur zu ziehen wissen. Eh' man sich's versieht, springt der deus ex machina hervor, – das persönliche individuelle Wesen, das da oben im Himmel sitzt! – / Fichte wird die Philosophie auf eine Höhe heben, vor der selbst die meisten der bisherigen Kantianer schwindeln werden.

(Aus dem am 6. Januar 1795 geschriebenen Tübinger Brief des 19-jährigen Studenten an seinen ehemaligen Kommilitonen Hegel)

ZUM TODESTAG DES PHILOSOPHEN

Über den Autor (1775-1854)

Dienstag, 19. August 2014

Aemilie Juliane: Bis hierher hat mich Gott gebracht

Bis hierher hat mich Gott gebracht
durch seine große Güte,
bis hierher hat er Tag und Nacht
bewahrt Herz und Gemüte,
bis hierher hat er mich geleit’,
bis hierher hat er mich erfreut,
bis hierher mir geholfen.

Hab Lob und Ehr, hab Preis und Dank
für die bisher’ge Treue,
die du, o Gott, mir lebenslang
bewiesen täglich neue.
In mein Gedächtnis schreib ich an:
Der Herr hat Großes mir getan,
bis hierher mir geholfen.

Hilf fernerhin, mein treuster Hort,
hilf mir zu allen Stunden.
Hilf mir an all und jedem Ort,
hilf mir durch Jesu Wunden.
Damit sag ich bis in den Tod:
Durch Christi Blut hilft mir mein Gott;
er hilft, wie er geholfen.

(Eines ihrer fast 600 geistlichen Lieder)

ZUM GEBURTSTAG DER DICHTERIN

Über die Autorin (1637-1706)

Montag, 18. August 2014

Richard Avenarius: Der menschliche Weltbegriff

Ich mit all meinen Gedanken und Gefühlen fand mich inmitten einer Umgebung. Diese Umgebung war aus mannigfaltigen Bestandteilen zusammengesetzt, welche untereinander in mannigfaltigen Verhältnissen der Abhängigkeit standen. Der Umgebung gehörten auch Mitmenschen an mit mannigfaltigen Aussagen; und was sie sagten, stand zumeist wieder in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Umgebung. Im übrigen redeten und handelten die Mitmenschen wie ich: sie antworteten auf meine Fragen wie ich auf die ihren; sie suchten die verschiedenen Bestandteile der Umgebung auf oder vermieden sie, veränderten sie oder versuchten sie unverändert zu erhalten; und was sie taten oder unterließen, bezeichneten sie mit Worten und erklärten für Tat und Unterlassung ihre Gründe und Absichten. Alles, wie ich selbst auch: und so dachte ich nicht anders, als dass Mitmenschen Wesen seien wie ich - ich selbst ein Wesen wie sie. / Das war die Welt, wie ich sie am Anfang meines Philosophierens als ein Seiendes, Sicheres, Bekanntes, Vertrautes, Begriffenes vorfand – wie sie als Gedanke mit mir weiterlebte – wie sie mir als Tatsache stetsfort von neuem wiederkehrte und in allen Wiederholungen dieselbe blieb.

(Aus dem Kapitel 1 des 1891 erschienenen Werks)

ZUM TODESTAG DES PHILOSOPHEN

Über den Autor (1843-1896)

Sonntag, 17. August 2014

Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Trutz Simplex oder Lebensbeschreibung der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche

Jungfrau Lebuschka (hernachmals genannte Courasche) kommt in den Krieg und nennet sich Janco, muß in demselben eine Zeitlang einen Kammerdiener abgeben; dabei wird vermeldet, wie sie sich verhalten und was sich Verwunderliches ferner mit ihr zugetragen. / Janco vertauschet sein edles Jungferkränzlein bei einem resoluten Rittmeister umb den Namen Courasche. / Courasche wird darumb eine Ehefrau und Rittmeisterin, weil sie gleich darauf wieder zu einer Witwe werden mußte, nachdem sie vorhero den Ehestand eine Weile ledigerweise getrieben hatte. / Was die Rittmeisterin Courasche in ihrem Witwenstand vor ein ehrbares und züchtiges, wie auch verruchtes gottloses Leben geführet, wie sie einem Grafen zu Willen wird, einen Ambassador um seine Pistolen bringet und sich andern mehr, um reiche Beute zu erschnappen, willig unterwirft. / Courasche kommt durch wunderliche Schickung in die zweite Ehe und freiete einen Hauptmann, mit dem sie trefflich glückselig und vergnügt lebte. / Courasche schreitet zur dritten Ehe und wird aus einer Hauptmännin eine Leutenantin, triffts aber nicht so wohl als vorhero, schlägt sich mit ihrem Leutenant umb die Hosen mit Prügeln und gewinnet solche durch ihre tapfere Resolution und Courage; darauf sich ihr Mann unsichtbar macht und sie sitzen läßt. / Courasche hält sich in einer Okkasion trefflich frisch, haut einem Soldaten den Kopf ab, bekommt einen Major gefangen und erfährt, daß ihr Leutenant als ein meineidiger Überlaufer gefangen und gehenket worden. / Courasche quittiert den Krieg, nachdem ihr kein Stern mehr leuchten will und sie fast von jedermann vor einen Spott gehalten wird. / Courasche erfähret nach langem Verlangen, Wünschen und Begehren, wer ihre Eltern gewesen, und freiet darauf wiederumb einen Hauptmann. / Die neue Hauptmännin Courasche ziehet wieder in den Krieg und bekam einen Rittmeister, Quartiermeister und gemeinen Reuter durch ihre heldenmäßige Tapferkeit in einem blutigen Gefecht gefangen; verleurt darauf ihren Mann und wird eine unglückselige Witwe. / Der Courasche wird ihre treffliche Courage auch wieder trefflich von dem ehedessen von ihr gefangnen Major eingetränkt, wird jedermanns Hur, darauf nackend ausgezogen und muß eine gar schändliche Arbeit verrichten. Wird aber endlich von einem Rittmeister, den sie auch vorhero gefangen bekommen, erbetten, daß ihr nicht etwas Ärgers widerfuhr, und darauf auf ein Schloß geführt. / Courasche wird als ein gräfliches Fräulein auf einem Schloß gehalten, von dem Rittmeister gar oft besucht und trefflich bedienet, aber endlich auf Erfahrung der Eltern des liebhabenden Rittmeisters durch zween Diener gar listig aus dem Schloß nacher Hamburg gebracht und daselbst elendiglich verlassen. / Courasche wirft ihre Liebe auf einen jungen Reuter, der einen Korporal, so ihme Hörner aufsetzen wollte, also zeichnete, daß er des Aufstehens vergaß. Darauf wird ihr Liebster harkebusiert, die Courasche aber mit Steckenknechten vom Regiment geschicket, die zweien Reutern, so Gewalt an sie legen wollten, ziemlich übel mitfuhre, da ihr ein Musketierer zu Hülfe kame. / Courasche hält sich bei einem Markedenter auf; ein Musketierer verliebt sich trefflich in sie, dem sie etliche gewisse Conditiones vorschreibet, wie sie den Ehestand ledigerweise mit ihme treiben möchte. Wird auch darauf eine Marketenterin. / Courasche nennet ihren Courtisan, den Musketierer, mit dem Namen Springinsfeld; dem ein Fähnderich auf der Courasche Anstalt gar listig ein Paar großer Hörner aufsetzet, darzu der Courasche vermeinte Mutter treulich hilft; kurz, sie ziehet ihn trefflich bei der Nasen herumb und schicket sich stattlich in den Handel. / Der Courasche widerfährt ein lächerlicher Posse, den ihr eine Kürschnerin auf Anstiften einer italianischen Putanin erwiesen, als sie eben bei einem vornehmen Herren beim Nachtimbiß war; sie bezahlet aber sowohl die Putanen als die Kürschnerin wieder redlich und ausbündig, macht auch einem Apotheker ein wunderliches Stückchen. / Die gewissenlose Courasche erkauft von einem Musketierer einen Spiritus Familiarem, empfindet darbei großes Glück, und gehet ihr alles nach Wunsch und Willen vonstatten. / Courasche richtet ihren Springinsfeld zu allerlei Schelmenstücklein trefflich ab, der sich bei einer vornehmen Dame vor einen Schatzgräber ausgibt, in den Keller gelassen wird, darauf etliche kostbare Kleinodien listig erpraktiziert und bei Nacht von Courasche aus dem Keller gezogen wird. / Courasche nebenst ihrem Springinsfeld bestiehlt zween Mailänder auf unerhörte Weise, indeme sie dem einen, der sehen wollte, was in ihrer Hütten vor ein Gepolter war und den Kopf zum Guckloch aussteckte, mit scharfem Essig in die Augen sprützte, dem andern aber den Weg mit scharfen Dornen verlegte. / Courasche wird von ihrem Springinsfeld im Schlaf mit Ohrfeigen angepacket und übel zugerichtet, der aber, nachdem er erwachet, sie demütig umb Gnade und Verzeihung bittet, welches doch nichts helfen will. / Courasche wird von ihrem Springinsfeld im Schlaf aus dem Bett nur im Hembd gegen des Obristen Wachtfeuer zugetragen, darüber sie erwacht und jämmerlich zu schreien beginnet, daß alle Offizierer zulaufen und des Possens lachen; sie schaffet ihn darauf von sich und gibt ihm das beste Pferd, nebenst 100 Dukaten und dem Spiritu Familiari. / Courasche heuratet wiederumb einen Hauptmann, wird aber dessen, ehe er kaum bei ihr erwarmet, wieder beraubet. Lässet sich darauf auf ihres ersten Hauptmanns Güter in Schwabenland nieder und treibt ihr Huren-Handwerk wie zuvor, doch gar vorsichtig mit den eingequartierten Soldaten. / Courasche bekommt eine unflätige Krankheit, reiset darauf in den Sauerbronnen und macht mit Simplicio Kundschaft; als er sie betreugt, betreugt sie ihn redlich wieder und läßt ihm ihrer Magd neugebornes Kind vor seine Tür legen nebenst schriftlichem Bericht, als ob es Courasche mit ihm erzeugt hätte. / Courasche treibet mit einem alten Susannen-Mann in ihrem Garten ungebührliche Händel, als eben zween Musketierer auf einem Baum Birnen mauseten und der eine aus Unvorsichtigkeit die geraubten Birnen alle fallen ließ. Darüber die Courasche, mit ihrem alten Liebhaber vertrieben, endlich offenbaret und der Stadt verwiesen wird. / Courasche wird eine Musketiererin, schachert darbei mit Tabak und Branntewein. Ihr Mann wird verschicket, welcher unterwegs einen toden Soldaten antrifft, den er ausziehet, und weil die Hosen nicht herunterwollten, ihm die Schenkel abhaut, alles zusammenpacket und bei einem Bauren einkehret, die Schenkel zu Nachts hinterlässet und Reißaus nimmt; darauf sich ein recht lächerlicher Poß zuträgt. / Nachdem der Courasche Mann in einem Treffen geblieben und Courasche selbst auf ihrem Maulesel entrunnen, trifft sie eine Zigeunerschar an, unter welchen der Leutenant sie zum Weib nimmt, sie sagt einem verliebten Fräulein wahr, entwendet ihr darüber alle Kleinodien, behält sie aber nicht lang, sondern muß solche, wohlabgeprügelt, wieder zustellen. / Courasche kommt mit ihrer Kompagnie in ein Dorf, darinnen Kirchweih gehalten wird, reizet einen jungen Zigeuner an, eine Henne todzuschießen; ihr Mann stellet sich, solchen aufhenken zu lassen; wie nun jedermann im Dorf hinauslief, diesem Schauspiel zuzusehen, stahlen die Zigeunerinnen alles Gebratens und Gebackens und machten sich samt ihrer ganzen Zunft eiligst und listig darvon.


ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Samstag, 16. August 2014

Wilhelm Wundt: Erlebtes und Erkanntes

Überblickt man die Gesamtentwicklung der Kultur, so ist unzweideutig ein zwischen manchen Neben- und Abwegen sich bewegendes, aber im letzten Grunde durchaus einheitlich als auf ihr letztes Ziel gerichtetes Streben zu erkennen, das auf die Unterwerfung der Natur unter den Willen des Menschen, auf ihre Umwandlung in ein Werkzeug für seine Zwecke ausgeht, die mit den materiellen Zwecken des Lebens beginnen, um mit ihrer Hilfe sich zu den höchsten geistigen Gütern zu erheben. Gerade diese aber bewähren sich in dieser Entwicklung als die höchsten und letzten, weil sie allein die bleibenden sind, diejenigen, in denen die gesamte geistige Kultur der Vergangenheit noch in uns lebendig ist und über uns hinaus in alle Zukunft, soweit das Dasein der Menschheit reicht, lebendig bleiben wird, während ihnen gegenüber die materiellen Gestaltungen des Lebens einem fortwährenden, von den mannigfaltigsten Nebeneinflüssen bestimmten Wechsel unterworfen sind. Es kann niemals die Aufgabe eines einzelnen oder auch nur eines einzelnen Volkes sein, an dieser großen Kulturmission, wie sie uns die Entwicklungsgeschichte der Kultur offenbart, Nennenswertes mitzuarbeiten, ohne dass sie selbst aller der Vorbedingungen teilhaftig sind, die die vorangegangene Kultur des eigenen Volkes und dann weiterhin die allgemeine Stufe, die die menschliche Kultur erreicht hat, ihnen bieten. Gerade im Hinblick auf den Wert, den in dieser Zusammenarbeit die einzelne Persönlichkeit für das Ganze besitzt, dem sie angehört, gewinnt aber jener platonische Satz, dass die Gemeinschaft früher sei als der einzelne, seine richtige Bedeutung. Bildet doch seine Kehrseite der andere, daß es keine Gemeinschaft gibt ohne die einzelnen und ihr Zusammenwirken in dem Ganzen, dem sie zugehören. / Das einleuchtendste Zeugnis für diesen geistigen Zusammenhang der Einzelpersönlichkeit mit der Gemeinschaft, aus der sie entsprungen ist und an der sie fortan durch ihr Leben und Wirken teilnimmt, liefert uns die Grundfunktion des menschlichen Geistes, die Sprache. Sie bezeichnet am augenfälligsten die Grenzen, innerhalb deren sich zunächst das geistige Leben einer Gemeinschaft bewegt, und daneben die Abhängigkeit, in der überall der einzelne von dieser Gemeinschaft steht, sowie die Macht, mit der er wieder auf sie zurückwirkt; und sie lehrt uns zugleich in ihrer Geschichte die geistigen Wandlungen kennen, die die Kultur dieser Gemeinschaft samt den Wechselwirkungen, in die sie mit andern Völkern getreten, durchlebt hat. Weitere Kreise, innerhalb deren die einzelne Nation nur ein Glied bildet in einem umfassenderen Völkerverkehr, ziehen die Religion und die Kunst, die weitesten endlich die Wissenschaft, die erst im eigentlichsten Sinne diejenige Stufe erreicht, die wir eine internationale zu nennen berechtigt sind. In allen diesen Kreisen des gemeinsamen Lebens hat aber der einzelne je nach der Arbeit, die er für das Ganze und damit für sich selber leistet, seinen Wert.

(Aus dem Schlusskapitel der 1921 postum erschienenen Autobiographie)

ZUM GEBURTSTAG DES PSYCHOLOGEN

Über den Autor (1832-1920)

Freitag, 15. August 2014

Matthias Claudius: Der Tod und das Mädchen

Mädchen.

Vorüber! Ach, vorüber!
Geh, wilder Knochenmann!
Ich bin noch jung, geh, lieber!
Und rühre mich nicht an!

Tod.

Gieb deine Hand, du zart und schön Gebild!
Bin Freund, und komme nicht, zu strafen!
Sey guten Muths! Ich bin nicht wild!
Sollst sanft in meinen Armen schlafen!

(Im Göttinger Musenalmanach 1774 erschienenes Gedicht)

ZUM GEBURTSTAG DES DICHTERS

Über den Autor (1740-1815)

Donnerstag, 14. August 2014

Willi Münzenberg: Erobert den Film!

Die europäische und amerikanische Filmindustrie ist fest in den Händen kleiner, fest geschlossener Filmkonzerne, die meist unmittelbar abhängig von großen Bankinstitutionen sind und entweder direkt für nationalistische bürgerliche Propagandazwecke produzieren oder aber unter Ausnutzung des Sensationsbedürfnisses der breiten kleinbürgerlichen Schichten wertlose, kitschige Sensationsfilme stellen. Man darf ohne Übertreibung behaupten, dass heute die gesamte amerikanische und westeuropäische Filmproduktion unter diesen beiden Gesichtspunkten produziert. Eine Änderung und eine Besserung in dieser Beziehung ist nicht zu erwarten. Wie die kapitalistische Presse, so wird auch der Film vom Großkapital ganz bewusst zur Werbung und Verdummung der breiten Massen benutzt.

(Aus der 1925 erschienenen Kampfschrift)

ZUM 125. GEBURTSTAG DES SOZIALISTISCHEN MEDIENUNTERNEHMERS

Über den Autor (1889-1940)

Mittwoch, 13. August 2014

Nikolaus Lenau: Am Sarge eines Schwermütigen

Der sich selbst den Tod gegeben

Naturgeister singen:

Er ist von uns gewichen,
Er ist so früh verblichen,
Lasst uns in tiefste Schatten
Dies heiße Herz bestatten!

Wir singen manche Weisen,
Wenn wir die Erd umkreisen,
Die bängste aller bangen
Hat lauschend er empfangen.

Das Lied, das dumpf wir klagen,
Wenn wir den Wildbach jagen,
Und wenn wir Blitze flechten
In schwülen Sommernächten.

Im Rufe tönt's der Unken,
Von dunkler Schwermut trunken,
Und in den Widerhallen
Bewegter Nachtigallen.

"Fahr wohl!" Nachruft es leise
Dem Frühling auf die Reise;
Wir hauchen es gelinde
Durchs Haar dem toten Kinde.

Die Röslein all zerpflücken
Und zu die Äuglein drücken
Dem Lenz wir und dem Kleinen,
Und niemand sieht uns weinen.

Wenn Wolf im Eise suchen
Ihr Leben und verfluchen,
Und wenn das Käuzlein grelle
Aufstöhnt in seiner Zelle,

Wenn sich die Meereswellen
Auftürmen und zerschellen,
Im Sturm die Möwen zagen,
Erhebt das Lied sein Klagen.

O Möwenschrei und Schwanken!
O menschliche Gedanken
Vom Leben ewger Dauer,
Hört ihr des Liedes Trauer?! –

Doch sind die Stimmen alle
Nur abgebrochne Halle,
Ein ahnendes Besinnen
Kaum auf des Lieds Beginnen.

Bei seinem vollen Klange,
Ach, würde uns zu bange,
Wir stünden schmerzlich träumend,
Das Erdenwerk versäumend.

Dies Herz hat es vernommen
Und sang es fort beklommen;
Dies Herz hat ausgesungen
Das Lied und ist gesprungen.

(Gedicht vom 26. April 1841)

ZUM GEBURTSTAG DES DICHTERS
und IN MEMORIAM ROBIN WILLIAMS

Über den Autor (1802-1850)

Dienstag, 12. August 2014

Caspar Isenkrahe: Zur Elementaranalyse der Relativitätstheorie

Das weitaus vorherrschende Problem der Jetztzeit auf naturwissenschaftlichem Gebiet ist die "Relativitätstheorie". An ihr regen die Geister sich in einer Weise auf, wie es kaum je geschehen, und kämpfen erbittert gegeneinander mit Waffen, die leider nicht immer löblich gewählt sind. Da scheint zur Erzielung von Klarheit und zur Anbahnung wissenschaftlichen Friedens nichts geeigneter, als die exakte Zerlegung des Streitobjekts in seine Letztbestandteile, die Vorführung der "Elemente", der "Grundbegriffe" und "Grundsätze", aus denen der Bau der Theorie zusammengefügt wurde. Eben das ist's, was mit dem Namen der "Elementar-Analyse der Relativittstheorie" bezeichnet sein soll. Zu einem solchen umfassenden Werk die Einleitung zu liefern, eine Reihe unumgänglicher Vorfragen zu behandeln und sie ohne jede Voreingenommenheit, ohne Rücksichtnahme auf irgendwelche Personen und Tendenzen rein sachlich zu erörtern, ist der Zweck der vorliegenden Schrift. Möge sie dazu beitragen, einer Verständigung die Wege zu bahnen.

(Ankündigung des 1921 erschienenen Werkes)

ZUM TODESTAG DES GELEHRTEN

Über den Autor (1844-1921)

Montag, 11. August 2014

Nicolaus Cusanus: "Vater unser"

In dijsem heiligen "Pater Noster", da ynne alles, das uns noit is, zu einer lere begriffen is, finden wir nit anders, das wir doen sullen, dan in dijsem artikel. Da steit "Als wir doen unsern schuldigern". Dar umb so synt hij alle gesetz Cristi, die wir doen sullen, begriffen: das is "vergeben". Cristus leret uns, das Got uns nicht vergifft anders, da wie "wir vergeben". Da merck, das Cristi gesetz is, das 'du dues andern, als du willes dir gedaen haben'. Das wisent die wort "Vergiff uns unser scholt, als wir vergeben unsern schuldigern". Bittes du aber Got, das er dijr vergebe, und vergibs du nijt, du versags dir selber. Dyn "schuldiger" is Gotes creature, als du bis. Und Got wil den von dir geledicht haben, als wol als dich dunckt, dichs gut syn, das Got an dir due solchs, das du nit wilt dun an dyme schuldiger. Wie bis du dan wirdich, von Gode das guet der vergebung zu entphahen, bis du nit guet die zu doen? Merck, was vernunftiges und clares gesetz das is, das yderman billigen muß und versteet! Wer Got biddet, das er yme vergebe, und vergifft nicht und glaubt, das syn gebet erhort werde, der glaubt, das Got nijt Got sij, und unrecht recht und boese gut sij. Wer aber glaubt, als Cristus uns leret, das Got vergebe, als wir vergeben, der hat eynen rechten glauben zu Gode, das er der gerechte, beste Got sij. Und mach der mensch us sinen wercken der vergebung syn hoffen, das yme von Goede vergeben werde, messen und mit liebde dar umb bitten. Da us merck, mensch, das dir hie eyn einiger wech wirt off gedaen, dar durch du wissen machs, abe du von Gode erhort werdes und Gottes kint sies. Der is, das du an dym werck gesiens und mercks, abe du dues andern, als du wuldes dir gedaen haben, das is, abe du vergebes dynen schuldigern clerlich und nit drages zu yne anders dan liebde. So ist aen zwiuel, das du von Gode verzichnis aller diner sunden erworben habes und eyn kint des ewigen lebens sies. Want dir gebrist, keyn gesetz zu erfullen, want in der liebden dyns neesten, die in der vergebung der schulde in den wercken bewijst wirt, is die volkomenheit aller gesetz.

(Aus der in moselfränkischer Sprache gehaltenen Predigt)

ZUM TODESTAG DES THEOLOGEN

Über den Autor (1404-1464)

Sonntag, 10. August 2014

Otto Lilienthal: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst

Alljährlich – wenn der Frühling kommt und die Luft sich wieder bevölkert mit unzähligen frohen Geschöpfen; wenn die Störche, zu ihren alten nordischen Wohnsitzen zurückgekehrt, ihren stattlichen Flugapparat, der sie schon viele Tausende von Meilen weit getragen, zusammenfalten, den Kopf auf den Rücken legen und durch ein Freudengeklapper ihre Ankunft anzeigen; wenn die Schwalben ihren Einzug gehalten und wieder in segelndem Fluge Straße auf und Straße ab mit glattem Flügelschlag an unseren Häusern entlang und an unseren Fenstern vorbei eilen; wenn die Lerche als Punkt im Äther steht und mit lautem Jubelgesang ihre Freude am Dasein verkündet – dann ergreift auch den Menschen eine gewisse Sehnsucht, sich hinaufzuschwingen und frei wie der Vogel über lachende Gefilde, schattige Wälder und spiegelnde Seen dahinzugleiten und die Landschaft so voll und ganz zu genießen, wie es sonst nur der Vogel vermag. / Wer hätte wenigstens um diese Zeit niemals bedauert, dass der Mensch bis jetzt der Kunst des freien Fliegens entbehren muss und nicht auch wie der Vogel wirkungsvoll seine Schwingen entfalten kann, um seiner Wanderlust den höchsten Ausdruck zu verleihen? / Sollen wir denn diese Kunst immer noch nicht die unsere nennen und nur begeistert aufschauen zu niederen Wesen, die dort oben im blauen Äther ihre schönen Kreise ziehen? / Soll dieses schmerzliche Bewusstsein durch die traurige Gewissheit noch vermehrt werden, dass es uns nie und nimmer gelingen wird, dem Vogel seine Fliegekunst abzulauschen? Oder wird es in der Macht des menschlichen Verstandes liegen, jene Mittel zu ergründen, welche uns zu ersetzen vermögen, was die Natur uns versagte? / Bewiesen ist bis jetzt weder das eine noch das andere, aber wir nehmen mit Genugtuung wahr, dass die Zahl derjenigen Männer stetig wächst, welche es sich zur ernsten Aufgabe gemacht haben, mehr Licht über dieses noch so dunkle Gebiet unseres Wissens zu verbreiten. / Die Beobachtung der Natur ist es, welche immer und immer wieder dem Gedanken Nahrung gibt: "Es kann und darf die Fliegekunst nicht für ewig dem Menschen versagt sein." / Wer Gelegenheit hatte, seine Naturbeobachtung auch auf jene großen Vögel auszudehnen, welche mit langsamen Flügelschlägen und oft mit nur ausgebreiteten Schwingen segelnd das Luftreich durchmessen, wem es gar vergönnt war, die großen Flieger des hohen Meeres aus unmittelbarer Nähe bei ihrem Fluge zu betrachten, sich an der Schönheit und Voll­endung ihrer Bewegungen zu weiden, über die Sicherheit in der Wirkung ihres Flugapparates zu staunen, wer endlich aus der Ruhe dieser Bewegungen die mäßige Anstrengung zu erkennen und aus der helfenden Wirkung des Windes auf den für solches Fliegen erforderlichen geringen Kraftaufwand zu schließen vermag, der wird auch die Zeit nicht mehr fern wähnen, wo unsere Erkenntnis die nötige Reife erlangt haben wird, auch jene Vorgänge richtig zu erklären, und dadurch den Bann zu brechen, welcher uns bis jetzt hinderte, auch nur ein einziges Mal zu freiem Fluge unseren Fuß von der Erde zu lösen. / Aber nicht unser Wunsch allein soll es sein, den Vögeln ihre Kunst abzulauschen, nein, unsere Pflicht ist es, nicht eher zu ruhen, als bis wir die volle wissenschaftliche Klarheit über die Vorgänge des Fliegens erlangt haben. Sei es nun, dass aus ihr der Nachweis hervorgehe: "Es wird uns nimmer gelingen, unsere Verkehrsstraße zur freien willkürlichen Bewegung in die Luft zu verlegen", oder dass wir an der Hand des Erforschten tatsächlich dasjenige künstlich ausführen lernen, was uns die Natur im Vogelfluge täglich vor Augen führt. / So wollen wir denn redlich bemüht sein, wie es die Wissenschaft erheischt, ohne alle Voreingenommenheit zu untersuchen, was der Vogelflug ist, wie er vor sich geht, und welche Schlüsse sich aus ihm ziehen lassen.

(Einleitung des 1889 erschienenen Werks)

ZUM TODESTAG DES LUFTFAHRTPIONIERS

Über den Autor (1848-1896)

Samstag, 9. August 2014

Edith Stein: Erkenntnis und Glaube

Was ist Sein? / Das Sein kann nicht definiert werden, weil es von jeder Definition vorausgesetzt wird, weil es in jedem Wort und in jedem Sinn eines Wortes enthalten ist. Es wird mit allem erfasst, was erfasst wird, und ist im Erfassen selbst enthalten. Man kann nur Differenzen des Seins und des Seienden angeben.

(Aus dem mit "Erkenntnis, Wahrheit, Sein" überschriebenen Manuskript zu einer 1932/33 gehaltenen Vorlesung)

ZUM TODESTAG DER PHILOSOPHIN

Über die Autorin (1891-1942)

Freitag, 8. August 2014

Immanuel Hermann Fichte: Über Gegensatz, Wendepunkt und Ziel heutiger Philosophie

Anhänger zählen nicht in der Fortgestaltung der Wissenschaft; höchstens können diese sie hindern, und erst seit es keine Kantianer mehr gibt, hat Kants Philosophie ihre zeitliche Bedeutung abgestreift und ihre ewige erhalten. – Und wer sagt euch denn ferner, dass eine Philosophie der breiten Ausspinnung und allseitigen Anwendung bedarf, um ihren Wert zu erhärten, dass sie überhaupt praktisch und umgestaltend sich ins Leben drängen müsse? Ihre geisterfrischende allgemeinpädagogische Wirkung bleibt ohnehin nicht aus, - ist sie selbst nur rechter Art, – die aber nichts damit gemein hat, ob man in ihren Wendungen spreche oder ihre zufälligen Schlagwörter sich angeeignet habe. Ebenso würde die heitere, milde, von den Banden der Zeit befreite Gesinnung, zu welcher ihr tieferes Studium von selber bildet, auch als still anregendes Beispiel weit besser wirken, wenn die Philosophen, gleich der Martha, sich nicht so viel unnötige Weltsorge machten, wobei sie sich zudem oft nicht am geschicktesten benehmen und, einmal hineingerissen in den Wirbel endlos sich verwickelnder Zeitbedingnisse, selbst nicht selten die Fassung eines klaren Darüberstehens verlieren. Fürs Umgestalten der Welt gibt es schon lange kräftigere und sicherere Hebel: zu dieser allfertigen Brauchbarkeit muss es dem Philosophen sogar an Muße gebrechen, und fürwahr, der klare, tiefgeborene Quell seines Innern ist zu edel, um das Mühlenwerk des äußeren Weltgetriebes zu bewegen. Hat man je wohl dem Dichter, dem Verwandtesten an Geistesrichtung, ähnliche Zumutungen gemacht, damit er das Recht der Existenz sich erwerbe? / So ist es nach rechter Beurteilung vielmehr sogar der höchste Gewinn für eine Philosophie, wenn sie äußerlich gleich unbeachtet von andringenden Bewunderern wie Gegnern ihre Bahn vollendet. Jenes Aufsehen kann daher der rechtgesinnte Forscher nie wünschen noch weniger suchen, der, eben weil er die Welt und ihre Meinung tiefer kennen muss als diese sich selbst, ihr am wenigstens seine höchste Angelegenheit wird preisgeben wollen. Wenn er selbst aber unumwunden verschmäht, sich auf ihren Schultern im Triumphe von dannen tragen zu lassen, so wird sie schon freiwillig abstehen von ihm, um anderen nachzuziehen, die es verdienen und lieben, ihr Götze zu sein.

(Aus der Einleitung des 1832 erschienenen Werkes)

ZUM TODESTAG DES PHILOSOPHEN

Über den Autor (1796-1879)

Donnerstag, 7. August 2014

Joachim Ringelnatz: Die Ameisen

In Hamburg lebten zwei Ameisen,
Die wollten nach Australien reisen.
Bei Altona auf der Chaussee
Da taten ihnen die Beine weh,
Und da verzichteten sie weise
Denn auf den letzten Teil der Reise.

So will man oft und kann doch nicht
Und leistet dann recht gern Verzicht.

(Aus der Gedichtsammlung "Die Schnupftabakdose" von 1912)

ZUM GEBURTSTAG DES HUMORISTEN

Über den Autor (1883-1934)

Mittwoch, 6. August 2014

Friedrich List: Das nationale System der politischen Ökonomie

Im Interesse der Zukunft und der gesamten Menschheit fordert die Philosophie: immer größere Annäherungen der Nationen zueinander, möglichste Vermeidung des Kriegs, Begründung und Entwicklung des internationalen Rechtszustandes, Übergang aus dem, was man jetzt Völkerrecht nennt, in ein Staatenbundesrecht, Freiheit des internationalen Verkehrs in geistiger wie in materieller Beziehung, endlich Vereinigung aller Nationen unter dem Rechtsgesetz, die Universalunion. / Im Interesse jeder besonderen Nation fordert die Politik: Garantien für ihre Selbstständigkeit und Fortdauer, besondere Maßregeln zur Beförderung ihrer Fortschritte in Kultur, Wohlstand und Macht und zur Ausbildung ihrer gesellschaftlichen Zustände als eines nach allen Teilen vollständig und harmonisch entwickelten, in sich selbst vollkommenen und unabhängigen politischen Körpers. / Die Geschichte an ihrem Teil spricht unleugbar zugunsten der Forderungen der Zukunft, indem sie lehrt, wie jederzeit die materielle und geistige Wohlfahrt der Menschen in gleichem Verhältnis mit der Ausdehnung ihrer politischen Einigung und ihrer kommerziellen Verbindung gewachsen ist. Sie bestätigt aber auch die Forderungen der Gegenwart und der Nationalität, indem sie lehrt, wie Nationen, die nicht vorzugsweise die Beförderung ihrer eigenen Kultur und Macht im Auge gehabt, zugrunde gegangen sind; wie zwar der ganz unbeschränkte Verkehr mit weiter vorgerückten Nationen jedem Volk in den ersten Stadien seiner Entwicklung förderlich gewesen, wie aber jede Nation auf einen Punkt gekommen ist, wo sie nur vermittels gewisser Beschränkungen ihres internationalen Verkehrs zu höherer Ausbildung und zur Gleichstellung mit anderen weiter vorgerückten Nationalitäten gelangen konnte. Die Geschichte weist somit auf Vermittlung zwischen den beiderseitigen Forderungen der Philosophie und der Politik.

(Aus der Einleitung des 1841 erschienenen Werks)

ZUM GEBURTSTAG DES WIRTSCHAFTSTHEORETIKERS

Über den Autor (1789-1846)

Dienstag, 5. August 2014

Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England

Der Kommunismus steht seinem Prinzipe nach über dem Zwiespalt zwischen Bourgeoisie und Proletariat, er erkennt ihn nur in seiner historischen Bedeutung für die Gegenwart, nicht aber als für die Zukunft berechtigt an; er will gerade diesen Zwiespalt aufheben. Er erkennt daher, solange der Zwiespalt besteht, die Erbitterung des Proletariats gegen seine Unterdrücker allerdings als eine Notwendigkeit, als den bedeutendsten Hebel der anfangenden Arbeiterbewegung an, aber er geht über diese Erbitterung hinaus, weil er eben eine Sache der Menschheit, nicht bloß der Arbeiter ist.

(Aus der 1845 erschienenen Schrift)

ZUM TODESTAG DES SOZIALISTEN

Über den Autor (1820-1895)

Montag, 4. August 2014

Rudolf G. Binding: Der Opfergang

Und dann ging diese stolze Frau in ihrem Leid jener frohen auf ihrem Wege nach, als werde sie ihr das Geheimnis ihrer Macht entlocken können, bei ihr heimlich in die Schule gehen dürfen zum Erlernen einer ihr fremden Kunst. Sie brauchte nicht ängstlich zu sein, entdeckt noch aufgehalten zu werden, denn Joie wandte sich nicht um, und ein tieferes Neigen ihres Hauptes unter dem breitrandigen Gartenhut verbarg Octavias Gesicht erkennenden Blicken. Als sie auf der Fährte ihres seltsamen Wildes war, hörte ihr Zaudern auf und sie verwandte kein Auge von der sorglos vor ihr dahineilenden Gestalt. Das Ziel ihres Ganges schien sie vergessen zu haben und kein anderes Begehren erfüllte sie, als jener zu folgen. / So gingen sie lange. Ab und zu bemerkte Octavia, daß ein Kind, welches Joie wohl im Vorbeieilen angeblickt hatte, dieser zulachte; wenn sie aber dann selbst das Kind mit einem Blick streifte, wurden die lachenden Züge ernst. Es geschah auch wohl, daß ein Mann sich umwandte, um ihrem Wilde nachzuschauen; dann sah sie, daß auch in dieses Mannes Gesicht ein Lachen war, ähnlich dem des Kindes. Ihr aber, so schön sie war, blickte keiner nach. / Joie hatte den Hafen erreicht, von dem aus sie irgendein Ziel zu suchen schien. Octavia war wohl selten an diesem Ort gewesen, wo alles in einen Rauch von Lärm gehüllt war, wo ein Gestöhn aus eisernen Rippen und das Geheul aus eisernen Mäulern ihr entgegengellte, wo unbarmherzig Mast bei Mast ragte und den Rahen nicht die Luft gönnte, wo schwarze Riesenleiber nach schwarzer Nahrung brüllten, welche Menschenknechte in ihren Schlund schaufelten, wo das Wasser schmutzig war von wühlenden Kielen und der Himmel in einem braunen Qualm unterzugehen schien. Das alles verlegte ihr gleichsam den Weg. Joie indessen sprang leichtfüßig über schwere Ringe und sich spannende Taue, und auf einer der hohen gemauerten Landungsrampen, die eben durch die Ausfahrt eines Kolosses frei lag, trat sie nahe an das Wasser und schaute eine Weile hinab. Unzählige Möwen kreischten gierig über der bewegten Fläche, erhoben sich aus ihr und fielen in sie zurück. Sie freute sich an ihrem gewandten Flug und dachte ihnen in einem plötzlichen Einfall eine ihrer Zärtlichkeiten zu. Suchend schaute sie sich um, und da sie in einiger Entfernung eine seßhafte Hökerin gewahrte, die für die Hafenarbeiter einfaches Backwerk feilhielt, kaufte sie rasch ein paar Stück und zog ihre langen Handschuhe ab, um das Brot zu Futterbrocken zu zerkleinern. Dann stellte sie sich von neuem an den Rand, und indem sie aus ihren Händen zwei zierliche, lebendige Futtertröglein machte, erhob sie sie lächelnd mit den Brocken gefüllt bis zur Höhe ihrer Schultern. Da war sie im Nu von Schwärmen schwebender Möwen umflattert, die im gleitenden Flug einen Augenblick vor den freundlichen Trögen stillstanden und behutsam und sicher, ohne auch nur einen Finger mit Schnäbeln, Krallen oder Flügeln zu berühren, einen Brocken nach dem anderen herauspickten. So stand sie in einem wundervollen, starken, wehenden Fächerspiel, das sie wie eine Liebkosung entgegennahm. Als ihr Vorrat zu Ende war, schien sie mit einer leichten Bewegung den sie noch immer umkreisenden Vögeln wie für eine Huldigung zu danken. / Octavia schaute voll Bewunderung und zugleich in einer kleinen Angst, daß dennoch den schlanken gebräunten Fingern Joies von den kurz umgebogenen Schnabelspitzen eine Verletzung drohe, auf dieses neue Schauspiel. Aber als ob sie durch dieses an das der vergangenen Nacht gemahnt worden wäre, fühlte sie wieder, warum sie jener Frau gefolgt war, und Mut- und Hoffnungslosigkeit befiel sie von neuem. In sich selbst verdunkelt, sah sie nur helle Flügel von kreisenden Vögeln und verharrte so eine Weile in einem halben Traum. Als sie sich wie mit einer Anstrengung von ihm losmachte und Joie suchte, sah sie sie nur in der Ferne in eine Seitenstraße biegen. Sie hatte genug der Verfolgung. Aber in einer seltsamen Anwandlung ihr nachzutun, trat sie zu der seßhaften Hökerin und kaufte wie Joie ihr einige Stück zum Futter der Möwen ab. Sie hatte sie zerkleinert und hielt nun zaghaft und zitternd, wie vor einem Gottesurteil, ihre gefüllten Hände empor. Aber keiner der Vögel nahm etwas daraus. Wohl nahten sie alle; doch wie vor einer unsichtbaren Wand, die ihnen wehrte, machten sie alle in einer gewissen Entfernung wieder kehrt, sooft sie auch heranprallten. Octavia wünschte sie herbei und doch schauderte sie, daß sie ihr näher kommen sollten. Da kehrte sie traurig ihre verschmähten Hände um und leerte sie ins Wasser. Die Brocken hatten noch nicht die Fläche berührt, so waren sie verschlungen.

(Aus der 1912 erschienenen Novelle)

ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1867-1938)

Sonntag, 3. August 2014

Dorothea Schlegel: Florentin

Es war an einem der ersten schönen Frühlingsmorgen. Allenthalben, auf Feldern, auf Wiesen und im Wald, waren noch Spuren des vergangnen Winters sichtbar, und der Härte, womit er lange gewütet; noch einmal hatte er mächtig im Sturm seine Schwingen geschüttelt, aber es war zum letztenmal. Die Wolken waren vertrieben vom Sturm, die Sonne durchgebrochen, und eine laue milde Wärme durchströmte die Luft. Junge Grasspitzen drängten sich hervor, Veilchen und süße Schlüsselblumen erhoben furchtsam ihre Köpfchen, die Erde war der Fesseln entledigt und feierte ihren Vermählungstag. / Mutig trabte ein Reisender den Hügel herauf. Vertieft im Genuss der ihn umgebenden Herrlichkeit und in Phantasien, die ihn bald vor-, bald rückwärts rissen, hatte er den rechten Weg verfehlt, und nun sah er sich auf einmal vor einem Walde, den er durchreiten musste, wenn er nicht gerade wieder umkehren und zurückreiten wollte; ein andrer Weg war nicht zu finden. Er war lange zweifelhaft. / "Jetzt wieder umkehren wäre ein unnützes Stück Arbeit. Wäre ich etwa umsonst hierher geraten? In diesen Wald kam ich ungefähr auf eben die Weise wie ins Leben ... wahrscheinlich habe ich im ganzen auch des Weges verfehlt. Und wie? wenn mir auch hier wie dort die Rückkehr unmöglich wäre? ... Sei meine Reise wie mein Leben und wie die ganze Natur, unaufhaltsam vorwärts! ... Was mir nur begegnen wird auf dieser Lebensreise oder diesem Reiseleben? ... Ich rühme mich, ein freier Mensch zu sein, und dieser Sonnenschein, dieses laue Umfangen, die jungen Knospen, das Erwarten der Dinge, die mich umgeben, ist schuld, dass auch ich erwarte ... und was? ... War ich doch mit allem bunten Spielzeug schon längst Hoffnung und Erwartung entflohen! ... Närrisch genug wäre es, wenn mich dieser Weg auch endlich an den rechten Ort führte, wie alles Leben zum unvermeidlichen Ziel."

(Anfang des 1801 anonym erschienenen Romans)

ZUM TODESTAG DER SCHRIFTSTELLERIN

Samstag, 2. August 2014

Paul von Hindenburg: Aus meinem Leben

Eurer Majestät melde ich alluntertänigst, dass sich am gestrigen Tage der Ring um den größten Teil der russischen Armee geschlossen hat. XIII., XV. und XVIII. Armeekorps sind vernichtet. Es sind bis jetzt über 60.000 Gefangene, darunter die Kommandierenden Generale des XIII. und XV.  Armeekorps. Die Geschütze stecken noch in den Waldungen und werden zusammengebracht. Die Kriegsbeute, im einzelnen noch nicht zu übersehen, ist außerordentlich groß. Außerhalb des Ringes stehende Korps, das I. und VI., haben ebenfalls schwer gelitten, sie setzen fluchtartig den Rückzug fort über Mlawa und Myszyniec.

(Siegesnachricht an Kaiser Wilhelm II. vom 31. August 1914 nach der Schlacht bei Tannenberg/Ostpreußen)

ZUM TODESTAG DES FELDHERRN UND REICHSPRÄSIDENTEN

Über den Autor (1847-1934)

Freitag, 1. August 2014

Konrad Duden: Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache

Das Ergebnis der Orthographischen Konferenz von 1901 war nur dadurch zustande gekommen, daß die Anhänger verschiedener Richtungen sich gegenseitig Zugeständnisse machten. Das geschah meistens durch Zulassung von Doppelschreibungen, und zwar besonders bei Fremdwörtern. Den Gelehrten, die sich über Formen wie "Akzent", "Kuvert" u. dgl. entsetzten, stellte man nach wie vor "Accent", "Couvert" zur Verfügung. So stehen denn die gelehrten Schreibungen oft friedlich neben den volkstümlichen. Das befriedigte aber die nach bestimmten Vorschriften Suchenden durchaus nicht. / Zuerst machten die Buchdrucker, Setzer und Korrektoren, vertreten durch die Buchdruckervereine Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, ihre Wünsche geltend. [...] Aber nicht nur für die Buchdrucker war das Nebeneinanderbestehen verschiedener Schreibweisen ein großer Übelstand; auch Schulbehörden glaubten den Lehrern und Schülern und Staatsbehörden den Kanzleibeamten das Recht der Entscheidung im Einzelfall nicht zugestehen (oder anders ausgedrückt) die Qual der Wahl nicht auferlegen zu sollen.

(Aus dem Vorwort der 1908 erschienenen achten Auflage des Wörterbuchs)

ZUM TODESTAG DES PHILOLOGEN

Über den Autor (1829-1911)