Adelbert von Chamisso: Lebenslauf bis zum Schlemihl
Aus einem alten Hause entsprossen, ward ich auf dem Schlosse zu
Boncourt in der Champagne im Januar 1781 geboren. Die Auswanderung des
französischen Adels entführte mich schon im Jahre 1790 dem Mutterboden.
Die Erinnerungen meiner Kindheit sind für mich ein lehrreiches Buch,
worin meinem geschärften Blicke jene leidenschaftlich erregte Zeit
vorliegt. Die Meinungen des Knaben gehören der Welt an, die sich in ihm
abspiegelt, und ich möchte zuletzt mich fragen: sind oft die des Mannes
mehr sein Eigentum? – Nach manchen Irrfahrten durch die Niederlande,
Holland, Deutschland und nach manchem erduldeten Elend ward meine
Familie zuletzt nach Preußen verschlagen. Ich wurde im Jahre 1796
Edelknabe der Königin-Gemahlin Friedrich Wilhelms II. und trat 1798
unter Friedrich Wilhelm III. in Kriegsdienst bei einem
Infanterie-Regimente der Besatzung Berlins. Die mildere Herrschaft des
ersten Konsuls gewährte zu Anfange des Jahrhunderts meiner Familie die
Heimkehr nach Frankreich, ich aber blieb zurück. So stand ich in den
Jahren, wo der Knabe zum Manne heranreift, allein, durchaus ohne
Erziehung; ich hatte nie eine Schule ernstlich besucht. Ich machte
Verse, erst französische, später deutsche. Ich schrieb im Jahre 1803 den
Faust, den ich aus dankbarer Erinnerung in meine Gedichte
aufgenommen habe. Dieser fast knabenhafte metaphysisch-poetische Versuch
brachte mich zufällig einem andern Jünglinge nah, der sich gleich mir
im Dichten versuchte, K. A. Varnhagen von Ense. Wir verbrüderten
uns, und so entstand unreiferweise der Musenalmanach auf das Jahr 1804,
der, weil kein Buchhändler den Verlag übernehmen wollte, auf meine
Kosten herauskam. Diese Unbesonnenheit, die ich nicht bereuen kann, ward
zu einem segensreichen Wendepunkte meines Lebens. Obgleich mein
damaliges Dichten meist nur in der Ausfüllung der poetischen Formen,
welche die sogenannte neue Schule anempfahl, bestehen mochte, machte
doch das Büchlein einiges Aufsehen. Es brachte mich einerseits in enge
Verbrüderung mit trefflichen Jünglingen, die zu ausgezeichneten Männern
heranwuchsen; anderseits zog es auf mich die wohlwollende Aufmerksamkeit
von Männern, unter denen ich nur Fichte nennen will, der seiner väterlichen Freundschaft mich würdigte. / Dem ersten Musenalmanach von Ad. von Chamisso und K. A. Varnhagen
folgten noch zwei Jahrgänge nach, zu denen sich ein Verleger gefunden
hatte, und das Buch hörte erst auf zu erscheinen, als die politischen
Ereignisse die Herausgeber und Mitarbeiter auseinandersprengten. Ich
studierte indes angestrengt, zuvörderst die griechische Sprache, ich kam
erst später an die lateinische und gelegentlich an die lebenden Sprachen
Europas. Der Entschluss reifte in mir, den Kriegsdienst zu verlassen
und mich ganz den Studien zu widmen. Die verhängnisvollen Ereignisse vom
Jahre 1806 traten hemmend und verzögernd zwischen mich und meine
Vorsätze. Die hohe Schule zu Halle, wohin ich den Freunden folgen
sollte, bestand nicht mehr; sie selbst waren in die weite Welt
zerstreut. Der Tod hatte mir die Eltern geraubt. Irr an mir selber, ohne
Stand und Geschäft, gebeugt, zerknickt, verbrachte ich in Berlin die
düstere Zeit. Am zerstörendsten wirkte ein Mann auf mich ein, einer der
ersten Geister der Zeit, dem ich in frommer Verehrung anhing, der, mich
emporzurichten, nur eines Wortes, nur eines Winkes bedurft hätte, und
der, mir jetzt noch unbegreiflich, sich angelegen sein ließ, mich
niederzutreten. Da wünschte mir ein Freund, ich möchte nur irgend einen
tollen Streich begehen, damit ich etwas wieder gut zu machen hätte und
Tatkraft wiederfände. / Der Zerknirschung, in der ich unterging, ward ich durch den Ruf als
Professor am Lyceo zu Napoleonville entrissen, den unerwartet im
Spätjahr 1809 ein alter Freund meiner Familie an mich ergehen ließ. Ich
reiste nach Frankreich; ich trat aber meine Professur nicht an. Der
Zufall, das Schicksal, das Waltende entschied abermals über mich; ich
ward in den Kreis der Frau von Staël gezogen. Ich brachte nach ihrer
Vertreibung aus Blois den Winter 1810-11 in Napoleon bei dem Präfekten
Prosper von Barante zu, folgte im Frühjahr 1811 der hohen Herrin nach
Genf und Coppet und war 1812 ein mitwirkender Zeuge ihrer Flucht. Ich
habe bei dieser großartig wunderbaren Frau unvergessliche Tage gelebt,
viele der bedeutendsten Männer der Zeit kennengelernt und einen
Abschnitt der Geschichte Napoleons erlebt, seine Befeindung einer ihm
nicht unterwürfigen Macht; denn neben und unter ihm sollte nichts
Selbstständiges bestehen. / Im Spätjahr 1812 verließ ich Coppet und meinen Freund August von
Staël, um mich auf der Universität zu Berlin dem Studium der Natur zu
widmen. So trat ich jetzt erst handelnd und bestimmend in meine
Geschichte ein, und zeichnete ihr die Richtung vor, die sie fortan
unverwandt verfolgt hat. / Die Weltereignisse vom Jahre 1813, an denen ich nicht tätigen
Anteil nehmen durfte – ich hatte ja kein Vaterland mehr oder noch kein
Vaterland –, zerrissen mich wiederholt vielfältig, ohne mich von meiner
Bahn abzulenken. Ich schrieb in diesem Sommer, um mich zu zerstreuen und
die Kinder eines Freundes zu ergötzen, das Märchen Peter Schlemihl, das in Deutschland günstig aufgenommen und in England volkstümlich geworden ist.
ZUM TODESTAG DES NATURFORSCHERS
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