Sonntag, 31. August 2014

Theodor Lessing: Über einen Ausspruch von Dr. Goebbels

Ein Naturforscher aus der Goethezeit, Carl Gustav Carus, gibt in seinen "Denkwürdigkeiten" das folgende Beispiel für die Unentwirrbarkeit der menschlichen Erinnerung. Der Bildhauer Friedrich Tieck sollte in Dresden eine Auszeichnung empfangen und wurde zur königlichen Hoftafel eingeladen. Bei der Tafel wurde er dem Hofmarschall gegenübergesetzt, dem der König den Auftrag erteilt hatte, etwas den Künstler Ehrendes bei Tische vorzubringen. Dessen eingedenk, erhebt sich die alte Exzellenz während des Tafelns und trinkt seinem Gegenüber zu, mit den Worten "Prost Oranien!" Dieser versteht nicht den Sinn des Trinkspruchs, sondern merkt nur, dass es eine Ehrung sein sollte. Er beschließt, den Zusammenhang herauszubringen. Und es stellt sich folgendes heraus:
 
Der Hofmarschall hatte den Bildhauer Friedrich Tieck verwechselt mit seinem Vater, dem Bildhauer Friedrich Christian Tieck, weil dieser ebenfalls in Dresden wohnte. Diesen aber hatte er verwechselt mit seinem berühmteren Bruder, dem Dichter Ludwig Tieck, weil auch dieser einst seinen Wohnsitz in Dresden hatte. Diesen Ludwig Tieck aber verwechselte er mit einem noch älteren Dichter, welcher ebenfalls in Dresden gewohnt hatte, dem Dichter Ludwig Tiedge. Dieser Ludwig Tiedge aber hatte seinerzeit ein berühmtes Epos geschrieben, das in den Literaturgeschichten erwähnt wird. Dieses Epos hatte den Titel "Urania". Diesen Titel hatte die alte Exzellenz nicht genau behalten, sondern verwechselte ihn mit dem Haus Oranien, welches Goethe im Egmont besungen hat. Aus dem Wunsch, etwas Bedeutungsreiches und zur Sache Gehöriges als Kunstmäzen von sich zu geben, formte sich ihm dann der Trinkspruch: "Prost Oranien!" ...
 
Ein Gegenstück, wenn auch weniger freundlich, bildet der folgende Passus aus einer Rede, die der Führer der Nationalsozialisten, Herr Dr. Goebbels, in Leipzig hielt, als er sich wegen Beleidigung des Reichspräsidenten zu verteidigen hatte: "Der jüdische Geschichtsprofessor Lessing hat den Herrn Reichspräsidenten in ausländischen Blättern mit dem Massenmörder Haarmann verglichen, wofür ihn die nationale Studentenschaft züchtigte, aber das marxistische Ministerium mit einem Forschungsauftrag belohnte." Gesetzt, ich wollte diesen Rattenkönig entwirren, wie könnte ich das? Erstens, ich bin nicht Geschichtsprofessor (er verwechselt mich entweder mit dem Kunsthistoriker Julius Lessing oder denkt wie der Bauer, bei dem ich im Sommer wohnte: als er hörte, ich sei "Schriftsteller", sagte er mir, er habe mich schon in der Schule gehabt). Zweitens habe ich nie in ausländischen Blättern etwas geschrieben, sondern bin seit langen Jahren Mitarbeiter des "Prager Tagblatt", einer deutschen Zeitung. Drittens habe ich nie den Herrn Reichspräsidenten beleidigt, sondern habe zur Zeit vor der Wahl des Reichspräsidenten vor der Kandidatur Hindenburgs gewarnt. Viertens habe ich niemals Hindenburg mit dem Massenmörder Haarmann verglichen, sondern erregte Ärgernis erstens durch jenen Warnaufsatz und zweitens durch Aufsätze gelegentlich des Haarmannprozesses, der mehr als ein Jahr zuvor stattfand. Fünftens bin ich nicht von der nationalen Studentenschaft gezüchtigt, sondern ein Häuflein grüner Jungen an einer technischen Hochschule entfesselte einen großen politischen Lärm gelegentlich jenes Aufsatzes, woraufhin das Kultusministerium ein Verfahren gegen mich einleitete, welches sechstens damit endete, dass ein mir zustehender Lehrauftrag umgewandelt wurde in einen Forschungsauftrag, und siebentens war das Ministerium nicht "marxistisch", sondern lau demokratisch und schuf mir viel Bitteres ...
 
Nun denke man folgendes: In der Kulturgeschichte, Religionsgeschichte, Doxographie beruhen zahlreiche Geschichtsbilder, etwa z. B. das Bild des Sokrates, einzig auf ein paar Sätzen, die von Zeitgenossen überliefert sind. Wer gibt Gewähr dafür, dass da nicht "Asssoziationsknäuel" überliefert werden, gleich den obigen? Wenn nun alles, was von mir übrigbleibt, der Satz aus der Rede des Doktor Goebbels wäre, so wie vom Catilina nichts übrigblieb als die Rede des Cicero? Schrecklich! Und da bekämpft man noch die Skepsis meiner "Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen"?

(Artikel im "Prager Tagblatt" vom 18.10.1930)

ZUM TODESTAG DES PUBLIZISTEN

Über den Autor (1872-1933)

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