Ein Naturforscher aus der Goethezeit, Carl Gustav Carus, gibt
in seinen "Denkwürdigkeiten" das folgende Beispiel für die
Unentwirrbarkeit der menschlichen Erinnerung. Der Bildhauer
Friedrich Tieck sollte in Dresden eine Auszeichnung empfangen und
wurde zur königlichen Hoftafel eingeladen. Bei der Tafel wurde er dem
Hofmarschall gegenübergesetzt, dem der König den Auftrag
erteilt hatte, etwas den Künstler Ehrendes bei Tische vorzubringen.
Dessen eingedenk, erhebt sich die alte Exzellenz während des Tafelns und
trinkt seinem Gegenüber zu, mit den Worten "Prost
Oranien!" Dieser versteht nicht den Sinn des Trinkspruchs, sondern
merkt nur, dass es eine Ehrung sein sollte. Er beschließt, den
Zusammenhang herauszubringen. Und es stellt sich folgendes
heraus:
Der Hofmarschall hatte den Bildhauer Friedrich Tieck
verwechselt mit seinem Vater, dem Bildhauer Friedrich Christian Tieck,
weil dieser ebenfalls in Dresden wohnte. Diesen aber hatte er
verwechselt mit seinem berühmteren Bruder, dem Dichter Ludwig
Tieck, weil auch dieser einst seinen Wohnsitz in Dresden hatte. Diesen
Ludwig Tieck aber verwechselte er mit einem noch älteren
Dichter, welcher ebenfalls in Dresden gewohnt hatte, dem Dichter
Ludwig Tiedge. Dieser Ludwig Tiedge aber hatte seinerzeit ein berühmtes
Epos geschrieben, das in den Literaturgeschichten erwähnt
wird. Dieses Epos hatte den Titel "Urania". Diesen Titel hatte die
alte Exzellenz nicht genau behalten, sondern verwechselte ihn mit dem
Haus Oranien, welches Goethe im Egmont besungen hat. Aus
dem Wunsch, etwas Bedeutungsreiches und zur Sache Gehöriges als
Kunstmäzen von sich zu geben, formte sich ihm dann der Trinkspruch: "Prost Oranien!" ...
Ein Gegenstück, wenn auch weniger freundlich, bildet der
folgende Passus aus einer Rede, die der Führer der Nationalsozialisten,
Herr Dr. Goebbels, in Leipzig hielt, als er sich wegen
Beleidigung des Reichspräsidenten zu verteidigen hatte: "Der
jüdische Geschichtsprofessor Lessing hat den Herrn Reichspräsidenten in
ausländischen Blättern mit dem Massenmörder Haarmann
verglichen, wofür ihn die nationale Studentenschaft züchtigte, aber
das marxistische Ministerium mit einem Forschungsauftrag belohnte."
Gesetzt, ich wollte diesen Rattenkönig entwirren, wie
könnte ich das? Erstens, ich bin nicht Geschichtsprofessor (er
verwechselt mich entweder mit dem Kunsthistoriker Julius Lessing oder
denkt wie der Bauer, bei dem ich im Sommer wohnte: als er
hörte, ich sei "Schriftsteller", sagte er mir, er habe mich schon in
der Schule gehabt). Zweitens habe ich nie in ausländischen Blättern
etwas geschrieben, sondern bin seit langen Jahren
Mitarbeiter des "Prager Tagblatt", einer deutschen Zeitung. Drittens
habe ich nie den Herrn Reichspräsidenten beleidigt, sondern habe zur
Zeit vor der Wahl des Reichspräsidenten vor der
Kandidatur Hindenburgs gewarnt. Viertens habe ich niemals Hindenburg
mit dem Massenmörder Haarmann verglichen, sondern erregte Ärgernis
erstens durch jenen Warnaufsatz und zweitens durch Aufsätze
gelegentlich des Haarmannprozesses, der mehr als ein Jahr zuvor
stattfand. Fünftens bin ich nicht von der nationalen Studentenschaft
gezüchtigt, sondern ein Häuflein grüner Jungen an einer
technischen Hochschule entfesselte einen großen politischen Lärm
gelegentlich jenes Aufsatzes, woraufhin das Kultusministerium ein
Verfahren gegen mich einleitete, welches sechstens damit endete,
dass ein mir zustehender Lehrauftrag umgewandelt wurde in einen
Forschungsauftrag, und siebentens war das Ministerium nicht "marxistisch", sondern lau demokratisch und schuf mir viel Bitteres
...
Nun denke man folgendes: In der Kulturgeschichte,
Religionsgeschichte, Doxographie beruhen zahlreiche Geschichtsbilder,
etwa z. B. das Bild des Sokrates, einzig auf ein paar Sätzen, die von
Zeitgenossen überliefert sind. Wer gibt Gewähr dafür, dass da nicht "Asssoziationsknäuel" überliefert werden, gleich den obigen? Wenn nun
alles, was von mir übrigbleibt, der Satz aus der Rede des
Doktor Goebbels wäre, so wie vom Catilina nichts übrigblieb als die
Rede des Cicero? Schrecklich! Und da bekämpft man noch die Skepsis
meiner "Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen"?
(Artikel im "Prager Tagblatt" vom 18.10.1930)
ZUM TODESTAG DES PUBLIZISTEN
Über den Autor (1872-1933)
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