Samstag, 31. Januar 2015

Friedrich Rückert: Sei mir gegrüßt

O du Entrißne mir und meinem Kusse,
Sei mir gegrüßt, sei mir geküßt!
Erreichbar nur meinem Sehnsuchtgruße,
Sei mir gegrüßt, sei mir geküßt!

Du von der Hand der Liebe diesem Herzen
Gegebne, Du von dieser Brust
Genommne mir! Mit diesem Tränengusse
Sei mir gegrüßt, sei mir geküßt.

Zum Trotz der Ferne, die sich feindlich trennend
Hat zwischen mich und dich gestellt;
Dem Neid der Schicksalmächte zum Verdrusse
Sei mir gegrüßt, sei mir geküßt!

Wie du mir je im schönsten Lenz der Liebe
Mit Gruß und Kuß entgegenkamst,
Mit meiner Seele glühendstem Ergusse,
Sei mir gegrüßt, sei mir geküßt!

Ein Hauch der Liebe tilget Raum und Zeiten,
Ich bin bei dir, du bist bei mir,
Ich halte dich in dieses Arms Umschlusse,
Sei mir gegrüßt, sei mir geküßt!

(Von Franz Schubert vertontes Gedicht)
(Von Dietrich Fischer-Dieskau gesungen)

ZUM TODESTAG DES DICHTERS

Über den Autor (1788-1866)

Freitag, 30. Januar 2015

Ernst Kapp: Grundlinien einer Philosophie der Technik

Noch steht die Menschheit in den Kinderschuhen ihrer Cultur oder in den Anfängen der technischen Gleisen, die sich der Geist selbst zu seinem Voranschreiten zu legen hat. Von dem bis jetzt durchlaufenen, verhältnissmässig kurzem Stadium lassen sich nach Maassgabe des Erreichten, bei progressiver Vervollkommnung von Werkzeug und Maschine und unter gleichzeitig wachsender Indienstnahme der Naturkräfte, die kühnsten Schlussfolgerungen auf eine ausser allem Ermessen liegende Grösse der Culturzukunft machen.

Entsprechend der zunehmenden Kenntnis des leiblichen Organismus wird ein höheres Selbstbewusstsein heilend die Gesellschaft durchdringen und mit der Milderung der Conflicte der Individuen unter sich und der Staaten unter einander die pessimistische Weltanschauung auf einen für den gesunden Optimismus unentbehrlichen Grad herabstimmen.

Die erweiterte, in festen Gedankeninhalt verwandelte Kenntniss von den organischen Grundbedingungen des Staatslebens wird das Gesetz zu Inhalt und Form ethischer Satzung vereinfachen.

Die apostolische Botschaft, welche den Leib als einen Tempel des heiligen Geistes proclamirt hat, wird ihre bisher so fragmentarische Bethätigung durch eine Religion des Leibes ergänzen und wird alsdann, die Ansprüche Aller auf die irdische Wirklichkeit mit den Anweisungen auf das transcendente Jenseits versöhnend, ihre Selbsterneuerung und die Erlösung von allem Uebel socialer Missstände vollziehen.

Die Erkenntnis wird vom leiblichen Selbst aus höhere Aufschlüsse ertheilen über annoch ungelöste Probleme des Wissens, über die Herkunft des Begriffes von Raum und Zeit, über das Ding an sich in der Vielheit der Dinge und seine in der Relation zur Entwickelung des Selbstbewusstseins vor sich gehende stufenweise Entschleierung.

Die Kunst wird beharrlich fortfahren, in ihrem Verwachsensein mit der Urheimath alles Schönen, mit der organischen Idee, das morphologische Grundgesetz zu einer alle Verhältnisse des Lebens verklärenden Macht zu erheben.

Die Einsicht wird sich befestigen, dass des Menschen Freiheit nur innerhalb seiner, mit dem Selbstbewusstsein gleichen Schritt haltenden, Freiheitsfähigkeit möglich ist. Jedwede andere Richtung als diejenige, welche von der menschlichen Uranlage angestrebt wird, auferlegt dem Willen äusseren Zwang und Unfreiheit. Daher wird sich herausstellen, dass nur in dem durch Zucht und Erziehung vermittelten, gewusst gewollten Einklang mit der inneren organischen Nothwendigkeit die wahre Freiheit zu finden, und dass der Mensch, damit er auf sein Werden zu dem, was er sein soll, auch Werth lege, der selbstthätige freie Wille nothwendig ist. Ueberhaupt nur innerhalb des menschlichen Wesens denkbar, scheitert darüber hinaus der Wille nach oben an titanenhafter, nach unten an brutaler Ohnmacht.

Unter der Voraussetzung der Indentität von Freiheit und innerer Nothwendigkeit, wie sie aus dem Verständniss von Werkzeug und Maschine, von Mensch und Arbeit, je nach der Entwickelung des Einen aus dem Anderen und nach der Erklärung des Einen durch das Andere hervorgeht, giebt der Staat den Anhalt für eine fortschreitend höhere Auffassung der organischen Idee. Auf ihr beruhen die Erfolge des wissenschaftlichen Strebens, in ihr bewegen sich alle philosophische Systeme, sie ist die Verheissung der religiösen Wiedergeburt auf dem Fundamente desjenigen Glaubens, unter dessen Symbol die Culturvölker der Erde stehen.

So bleibt das nächst Liegende und Gegebene, wovon alle Speculation ausgeht und wohin sie zurückkehrt, der Mensch – und sein höchstes reales Gebilde, der Staat, das menschliche Alles in Allem. – – –

Hervor aus Werkzeugen und Maschinen, die er geschaffen, aus den Lettern, die er erdacht, tritt der Mensch, der Deus ex Machina, sich selbst gegenüber.

(Schluss des 1877 erschienenen kulturgeschichtlichen Werks)

ZUM TODESTAG DES PÄDAGOGEN

Über den Autor (1808-1896)

Donnerstag, 29. Januar 2015

Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen

Körperliche Leiden, Schmerz und Krankheit, wenn sie mich treffen sollten, werde ich nicht vermeiden können zu fühlen, denn sie sind Ereignisse meiner Natur, und ich bin und bleibe hienieden Natur; aber sie sollen mich nicht betrüben. Sie treffen auch nur die Natur, mit der ich auf eine wunderbare Weise zusammenhänge, nicht mich selbst, das über alle Natur erhabene Wesen. Das sichere Ende alles Schmerzes, und aller Empfänglichkeit für den Schmerz ist der Tod; und unter Allem, was der natürliche Mensch für ein Uebel zu halten pflegt, ist es mir dieser am wenigsten. Ich werde überhaupt nicht für mich sterben, sondern nur für Andere – für die Zurückbleibenden, aus deren Verbindung ich gerissen werde; für mich selbst ist die Todesstunde Stunde der Geburt zu einem neuen herrlichern Leben.

Nachdem so mein Herz aller Begier nach dem Irdischen verschlossen ist, nachdem ich in der That für das Vergängliche gar kein Herz mehr habe, erscheint meinem Auge das Universum in einer verklärten Gestalt. Die todte lastende Masse, die nur den Raum ausstopfte, ist verschwunden, und an ihrer Stelle fließt, und woget und rauscht der ewige Strom von Leben, und Kraft und That – vom ursprünglichen Leben; von deinem Leben, Unendlicher: denn alles Leben ist dein Leben, und nur das religiöse Auge dringt ein in das Reich der wahren Schönheit.

Ich bin dir verwandt, und was ich rund um mich herum erblicke, ist Mir verwandt; es ist Alles belebt und beseelt, und blickt aus hellen Geister-Augen mich an, und redet mit Geistertönen an mein Herz. Auf das Mannichfaltigste zerteilt und getrennt schaue in allen Gestalten außer mir ich selbst mich wieder, und strahle mir aus ihnen entgegen, wie die Morgensonne in tausend Thautropfen mannichfaltig gebrochen sich selbst entgegen glänzt.

Dein Leben, wie es der Endliche zu fassen vermag, ist sich selbst schlechthin durch sich selbst bildendes, und darstellendes Wollen; dieses Leben fließt, – im Auge des Sterblichen mannichfach versinnlicht, – durch mich hindurch herab in die ganze unermeßliche Natur. Hier strömt es, als sich selbst schaffende und bildende Materie durch meine Adern und Muskeln hindurch, und setzt außer mir seine Fülle ab im Baume, in der Pflanze, im Grase. Ein zusammenhängender Strom, Tropfe an Tropfe, fließt das bildende Leben in allen Gestalten, und allenthalben, wohin ihm mein Auge zu folgen vermag; und blickt mich an, – aus jedem Punkte des Universum anders, – als dieselbe Kraft, durch die es in geheimem Dunkel meinen eignen Körper bildet. Dort woget es frei, und hüpft, und tanzet als sich selbst bildende Bewegung im Thiere, und stellt in jedem neuen Körper sich dar, als eine andere eigne für sich bestehende Welt: dieselbe Kraft, welche, mir unsichtbar, in meinen eignen Gliedmaßen sich reget, und bewegt. Alles was sich regt, folgt diesem allgemeinen Zuge, diesem einigen Princip aller Bewegung, das von einem Ende des Universum zum andern die harmonische Erschütterung fortleitet: das Thier ohne Freiheit; ich, von welchem in der sichtbaren Welt die Bewegung ausgeht, ohne daß sie darum in mir gegründet sei, mit Freiheit.

Aber rein und heilig, und deinem eignen Wesen so nahe, als im Auge des Sterblichen ihm etwas sein kann, fließet dieses dein Leben hin als Band, das Geister mit Geistern in Eins verschlingt, als Luft und Aether der Einen Vernunftwelt; undenkbar und unbegreiflich, und doch offenbar da liegend vor dem geistigen Auge. In diesem Lichtstrome fortgeleitet schwebt der Gedanke, unaufgehalten und derselbe bleibend von Seele zu Seele, und kommt reiner und verklärt zurück aus der verwandten Brust. Durch dieses Geheimniß findet der Einzelne sich selbst, und versteht, und liebt sich selbst nur in einem Andern; und jeder Geist wickelt sich los nur von andern Geistern, und es giebt keinen Menschen, sondern nur eine Menschheit, kein einzelnes Denken, und Lieben, und Hassen, sondern nur ein Denken, und Lieben, und Hassen, in und durch einander. Durch dieses Geheimniß strömt die Verwandtschaft der Geister in der unsichtbaren Welt fort bis in ihre körperliche Natur, und stellt sich dar in zwei Geschlechtern, die, wenn auch jedes geistige Band zerreißen könnte, schon als Naturwesen genöthigt sind, sich zu lieben; fließt aus in die Zärtlichkeit der Eltern und Kinder, und Geschwister, gleich als ob die Seelen eben so aus Einem Blute entsprossen wären, wie die Leiber, und die Gemüther Zweige und Blüten desselben Stammes wären; und umfasset von da aus in engern oder weitern Kreisen die ganze empfindende Welt. Selbst ihrem Hasse liegt der Durst nach Liebe zum Grunde, und es entsteht keine Feindschaft, außer aus versagter Freundschaft.

Dieses ewige Leben und Regen in allen Adern der sinnlichen, und geistigen Natur erblickt mein Auge, durch das, was Andern todte Masse scheint, hindurch; und siehet dieses Leben stets steigen und wachsen, und zum geistigern Ausdrucke seiner selbst sich verklären. Das Universum ist mir nicht mehr jener in sich selbst zurücklaufende Zirkel, jenes unaufhörlich sich wiederholende Spiel, jenes Ungeheuer, das sich selbst verschlingt, um sich wieder zu gebären, wie es schon war: es ist vor meinem Blicke vergeistiget, und trägt das eigne Gepräge des Geistes; stetes Fortschreiten zum Vollkommnern in einer geraden Linie, die in die Unendlichkeit geht.

Die Sonne gehet auf, und gehet unter, und die Sterne versinken, und kommen wieder und alle Sphären halten ihren Zirkeltanz; aber sie kommen nie so wieder, wie sie verschwanden, und in den leuchtenden Quellen des Lebens ist selbst Leben und Fortbilden. Jede Stunde, von ihnen herbeigeführt, jeder Morgen und jeder Abend sinkt mit neuem Gedeihen herab auf die Welt; neues Leben, und neue Liebe entträufelt den Sphären, wie die Thautropfen der Wolke, und umfängt die Natur, wie die kühle Nacht die Erde.

Aller Tod in der Natur ist Geburt, und gerade im Sterben erscheint sichtbar die Erhöhung des Lebens. Es ist kein tödtendes Princip in der Natur, denn die Natur ist durchaus lauter Leben; nicht der Tod tödtet, sondern das lebendigere Leben, welches, hinter dem alten verborgen, beginnt, und sich entwickelt. Tod und Geburt ist bloß das Ringen des Lebens mit sich selbst, um sich stets verklärter und ihm selbst ähnlicher darzustellen. Und mein Tod könnte etwas anders sein – meiner, der ich überhaupt nicht eine bloße Darstellung und Abbildung des Lebens bin, sondern das ursprüngliche, allem wahre, und wesentliche Leben in mir selbst trage? – Es ist gar kein möglicher Gedanke, daß die Natur ein Leben vernichten solle, das aus ihr nicht stammt; die Natur, um deren willen nicht ich, sondern die selbst nur um meinetwillen lebt.

Aber selbst mein natürliches Leben, selbst diese bloße Darstellung des innern unsichtbaren Lebens vor dem Blicke des Endlichen, kann sie nicht vernichten, weil sie sonst sich selbst müßte vernichten können; sie, die bloß für mich, und um meinetwillen da ist, und nicht ist, wenn ich nicht bin. Gerade darum, weil sie mich tödtet, muß sie mich neu beleben; es kann nur mein in ihr sich entwickelndes höheres Leben sein, vor welchem mein gegenwärtiges verschwindet; und das, was der Sterbliche Tod nennt, ist die sichtbare Erscheinung einer zweiten Belebung. Stürbe kein vernünftiges Wesen auf der Erde, das da nun einmal ihr Licht erblickt hätte, so wäre kein Grund da, eines neuen Himmels und einer neuen Erde zu harren: die einzig mögliche Absicht dieser Natur, Vernunft darzustellen und zu erhalten, wäre schon hienieden erfüllt, und ihr Umkreis wäre geschlossen. Aber der Act, durch den sie ein freies selbstständiges Wesen tödtet, ist ihr feierliches aller Vernunft kundbares Hinüberschreiten über diesen Act, und über die ganze Sphäre, die sie dadurch beschließt; die Erscheinung des Todes ist der Leiter, an welchem mein geistiges Auge zu dem neuen Leben meiner selbst, und einer Natur für mich hinübergleitet.

Jeder meines Gleichen, der aus der irdischen Verbindung heraustritt, und der meinem Geiste nicht für vernichtet gelten kann – denn er ist meines Gleichen – zieht meinen Gedanken mit sich hinüber; er ist noch, und ihm gebührt eine Stätte. Indeß wir hienieden um ihn trauern, so wie Trauer sein würde, wenn sie könnte im dumpfen Reiche der Bewußtlosigkeit, wenn sich ihm ein Mensch zum Lichte der Erdensonne entreißt, ist drüben Freude, daß der Mensch zu ihrer Welt geboren wurde, so wie wir Erdenbürger die Unsrigen mit Freude empfangen. Wenn ich einst ihnen folgen werde, wird für mich nur Freude sein; denn die Trauer bleibt in der Sphäre zurück, die ich verlasse.

Es verschwindet vor meinem Blicke, und versinkt die Welt, die ich noch so eben bewunderte. In aller Fülle des Lebens, der Ordnung, und des Gedeihens, welche ich in ihr schaue, ist sie doch nur der Vorhang, durch die eine unendlich vollkommnere mir verdeckt wird, und der Keim, aus dem diese sich entwickeln soll. Mein Glaube tritt hinter diesen Vorhang, und erwärmt, und belebt diesen Keim. Er sieht nichts Bestimmtes, aber er erwartet mehr, als er hienieden fassen kann, und je in der Zeit wird fassen können.

So lebe, und so bin ich, und so bin ich unveränderlich, fest, und vollendet für alle Ewigkeit; denn dieses Sein ist kein von außen angenommenes, es ist mein eignes, einiges wahres Sein, und Wesen.

(Schluss der erstmals im Jahre 1800 erschienenen populären Schrift)

ZUM TODESTAG DES PHILOSOPHEN

Über den Autor (1761-1814)

Mittwoch, 28. Januar 2015

Franz Mehring: Bahnbrecher des socialen Friedens

Die große Industrie des neunzehnten Jahrhunderts hat bekanntlich auf britischem Boden ihren gipfelnden Höhepunkt erreicht. Nirgends flattert das schwarze Banner des Dampfes so sieges- und zukunftsfroh, nirgends fließen ungeheure Reichthümer in einer verhältnißmäßig so geringen Anzahl von Händen zusammen, nirgends ist die große Masse der Bevölkerung von allem Besitze, namentlich auch von allem Besitze an Grund und Boden, so gänzlich ausgeschlossen und auf die Arbeit ihrer nackten Hände allein angewiesen, wie dort. Gleich schroff gestaltete Eigenthumsverhältisse sind im deutschen Reiche glücklicherweise für heute und für alle Zukunft unmöglich. In der That sucht denn auch die „Bibel der deutschen Socialdemokratie“, wie das große Werk von Marx nicht unzutreffend genannt worden ist, durchaus und durchweg nur an englischen Arbeiterverhältnissen die Nothwendigkeit des allgemeinen Umsturzes zu erweisen. Und trotz alledem herrscht in dem Inselreiche ein zwar nicht vollkommener, aber leidlicher Zustand socialen Friedens, wie wir ihn nur noch aus den Erinnerungen einer glücklicheren Vergangenheit kennen, trotz alledem vermag dort nicht ein armseliges Wochenblättchen der rothen Farbe Wurzel zu schlagen, während wir eben gesehen haben, wie selbst der eiserne Spaten des Socialistengesetzes kaum in Monaten den vaterländischen Boden von dem verderblichen Unkraut zu reinigen vermochte, das rings um ihn sein wucherndes Geflecht spann.

Es wäre verkehrt, die Wurzel dieses merkwürdigen Unterschiedes in den verschiedenen Charakteranlagen der beiden Nationen zu suchen. Die englischen Arbeiter und Unternehmer sind Menschen von Fleisch und Blut, wie die deutschen; eher könnte man sagen, daß drüben die harte Selbstsucht der Unternehmer, der selbstbewußte Trotz der Arbeiter weit ausgeprägter sei, als hüben. Es gab eine Zeit, in welcher das zermalmende Räderwerk der englischen Industrie unerhörte Menschenopfer verschlang und den ganzen Bau des Staates in seinen tiefsten Grundfesten erzittern ließ. Damals entstand, lange ehe von einer deutschen Socialdemokratie oder einer Pariser Commune gesprochen werden konnte, im Chartismus die vielleicht gefährlichste und unheilschwangerste Proletarierbewegung unserer Epoche. Wenn sie spurlos erlosch und das englische Volk seitdem alles weltumstürzlerische Prophetenthum sich tapfer vom Leibe hielt, so liegt die Ursache vielmehr darin, daß es nicht nur die glänzenden Licht-, sondern auch die düstern Schattenseiten der modernen Erwerbsordnung am ehesten erkannte, und, während es sich in jenem Lichte behaglich sonnte, doch zugleich Mühe anwenden mußte, auch diese Schatten mit dem milden Glanze moderner Gesittung zu erhellen. Namentlich eine humane Fabrikgesetzgebung, von welcher selbst Karl Marx in einem unbewachten Augenblicke gesteht, daß sie eine geistige und leibliche Wiedergeburt der englischen Arbeiter geschaffen habe, rottete gründlich alle revolutionären Keime aus. Und wenn diese Gesetzgebung selber aus dem furchtbaren Zwange einer immer weiter um sich greifenden Entartung der unteren Volksschichten heraus geboren wurde, so waren doch ihre eifrigsten und fleißigsten Geburtshelfer die englischen Fabrikinspectoren, deren Arbeiten und Kämpfe in den dreißiger und vierziger Jahren dieses Jahrhunderts wahrhaft heldenhafter Natur und unsterblichen Ruhmes sicher sind. Selbst hartgesottene Manchestermänner gestehen freimüthig, daß England der Energie und Thatkraft dieser Beamten die Rettung seiner nationalen Zukunft verdankt.

Seit einigen Jahren sind im preußischen Staate, seit einigen Wochen überall im deutschen Reiche Fabrikinspectoren eingeführt. Nicht jener grausame Stachel unerbittlicher Notwendigkeit, welcher in England zum wirksamsten Hebel der socialen Reform wurde, sondern die freiwillige Einsicht der nationalen Gesetzgebung hat diese segensreiche Neuerung geschaffen, welche als die vielleicht unscheinbarste, aber gewiß unumgänglichste Vorbedingung eines friedlichen Verlaufs unserer socialen Wirren bezeichnet werden darf. Technisch und wissenschaftlich gebildete Männer, genau vertraut mit allen einschlägigen Fragen, von jener Sachkenntniß, welche die sicherste Bürgschaft bietet ebenso für die notwendige Strenge, wie für ein billiges und gerechtes Urteil in den so mannigfach verwickelten Verhältnissen der modernen Industrie, sind die Fabrikinspectoren versöhnende Träger der Staatsgewalt in den wirthschaftlichen Kämpfen unserer Zeit, Wächter gesitteten Verkehrs aus dem nationalen Arbeitsmarkte, den Unternehmern eifrige und ernste Mahner an die hohen Pflichten des Besitzes, freundliche und wohlwollende Erzieher den Arbeitern, mit einem Worte, Bahnbrecher des socialen Friedens.

Ihr Wirkungskreis knüpft zunächst an drei Bestimmungen der Gewerbeordnung an. Sie sollen alle diejenigen gewerblichen Anlagen überwachen, welche Belästigungen und Gefahren für das umwohnende Publicum mit sich führen und deshalb an die Beobachtung gewisser Vorschriften gebunden sind. Sie sollen ferner für eine sorgfältige Achtung der Schranken sorgen, welche der Fabrikbeschäftigung von Kindern und jugendlichen Arbeitern gezogen sind. Sie sollen endlich darauf achten, daß die Unternehmer auf ihre Kosten alle Einrichtungen treffen, die sich für den Schutz von Gesundheit und Leben der Arbeiter als nothwendig erweisen. Die erste dieser Aufgabe schlägt mehr in das Gebiet der allgemeinen Sanitätspolizei, während die andern beiden schwierige und wichtige Probleme des Arbeiterrechts berühren. Im Allgemeinen ist den Fabrinspectoren dann weiter vorgeschrieben, zwischen den berechtigten Interessen der Unternehmer einerseits, der Arbeiter und des Publicums andererseits auf Grund ihrer amtliche Erfahrungen und technischen Kenntisse in billiger Weise zu vermitteln. Ueberhaupt sollen sie allmählich die Stellung von Vertrauenspersonen sowohl für Arbeitgeber wie Arbeitnehmer zu gewinnen, namentlich die Ersteren auch über die gesetzlichen Anforderungen hinaus zu Einrichtungen anzuregen suchen, welche die Lage der Letzteren verbessere.

Vor kaum einem halben Jahrzehnt wurden in dem größten deutsche Staate die ersten zwei oder drei dieser Beamten ohne allen Sang und Klang ernannt; aus so bescheidenen und unscheinbare Keime hat sich die Einrichtung in so kurzer Zeit unter der fachkundigen und sorgsamen Leitung des Geheimen Oberregierungsraths Lohmann im preußischen Handelsministerium zu einer blühenden und lebenskräftigen Macht entwickelt. Nicht ohne Ueberwindung erheblicher Schwierigkeiten. Denn als die preußischen Fabrikinspectoren zuerst auftauchten, wurden sie mit gleichem Mißtrauen und Widerwillen von Arbeitern wie Unternehmern empfangen; man betrachtete und behandelte sie demgemäß als unnütze Störenfriede, als Reichssteuerbeamte, welche neue Finanzquellen entdecken, als Spione, die Fabrikgeheimnisse auskundschaften wollten, mitunter sogar als Reiseprediger der Socialdemokratie, bestenfalls als unbequeme Baubeamte und Kesselrevisoren. Waren diese Mißverständnisse glücklich beseitigt, so galt es, ganz aus dem Groben und Vollen heraus zu arbeiten, denn daß die Gesetzgebung des Reichs den Arbeitern gewisse Rechte gewährt, den Unternehmern gewisse Pflichten auferlegt, war beiden Theilen meist gar nicht ober nur von dunkelm Hörensagen bekannt, in den ersten Jahresberichten der preußischen Fabrikinspectoren hallte die ewige Klage wieder, daß Alles fehle, was einen gesetzmäßigen Zustand kennzeichne.

Am meisten wurde an den gesetzlichen Einschränkungen der Kinderarbeit gefrevelt. Gerade gegen diesen Theil ihrer Pflichten, dessen genaue Beobachtung verhindern soll, daß ein körperlich elendes und verkommenes, ein geistig und sittlich verwahrlostes Geschlecht heranwachse, zeigten die Unternehmer durchschnittlich eine traurige Gleichgültigkeit, hin und wieder selbst einen verabscheuenswerthen Widerstand. Noch schimpflichere Gesinnungen verriethen teilweise die Arbeiter selbst, indem sie freiwillig ihre unmündigen Kinder zur Fabrikarbeit heranschleppten; von dieser dunklen Folie hob sich dann freilich um so glänzender das Beispiel einzelner Fabrikanten ab, welche die Beschäftigung von Kindern ein- für allemal ablehnten, auch gegen den Willen der Eltern, weil sie die vollkommene Schulreife als notwendig für die Erziehung eines einsichtigen und kräftigen Arbeiterstandes betrachteten. Aber dieser braven Männer war nur eine geringe Zahl, im Allgemeinen bedurfte es angestrengter und mehrjähriger Bemühungen der Fabrikinspectoren, die gesetzlichen Bestimmungen über die Beschränkung der Kinderarbeit überall durchzuführen; wurde doch selbst ein so schändlicher Fall festgestellt, daß ein noch nicht sechszehnjähriger Knabe in einem Walzwerke nicht nur regelmäßig dem Tag- und Nachtwechsel der Schichten eingereiht, sondern auch, in geradezu ungeheuerlicher Ausbeutung seiner Arbeitskraft, zweiundzwanzigeinhalb Stunden lang ohne andere, als die üblichen Unterbrechungen beschäftigt worden war!

Die Kinderarbeit in Fabriken ist bekanntich ein vielumstrittenes Thema unserer social-politischen Discussion. Vom sittlichen Standpunkt aus erscheint das gänzliche Verbot der fabrikmäßigen Beschäftigung von Kindern in schulpflichtigem Alter als ein unverrückbares Ziel der deutschen Gesetzgebung; wir haben kein Recht, von kommenden Geschlechtern Anleihen zu erheben, die dermaleinst mit Wucherzinsen erstattet werde müssen. Hiergegen wird eingewandt, daß Kinderarbeit in diesen Zweigen der Fabrikindustrie aus technischen Gründen, in jenen aus Rücksicht auf die internationale Concurrenzfähigkeit vorläufig unentbehrlich sei, und für beide Gesichtspunkte lassen sich mancherlei Gründe anführen. Theoretisch kann sich der Streit noch endlos fortspinnen, ehe ein glückliches Ende abgesehen ist, praktisch ist die Frage schon jetzt einer gedeihlichen Lösung nahe gebracht, wenigstens in der preußischen Industrie, und zwar durch die Fabrikinspectoren. Seitdem sie streng den gesetzlichen Vorschriften gemäß darauf halten, daß Kinder nur am Tage, außerdem täglich nicht mehr als sechs Stunden und nur dann beschäftigt werden dürfen, wenn sie zugleich einen dreistündigen Schulunterricht genießen, nimmt die Kinderarbeit stetig ab und ist selbst in einem so hervorragenden Mittelpunkte der Großindnstrie wie Berlin, so gut wie ganz erloschen. Ihr Werth ist den Unternehmern durch die umständliche Beobachtung der gesetzliche Beschränkungen illusorisch gemacht; so wird in absehbarer Zeit ihr grundsätzliches Verbot ausgesprochen werben und damit ein Erfolg der sozialen Reformtätigkeit verzeichnet werden können, der moralisch noch glänzender sein würde, als materiell.

Auch die wichtige Bestimmung der Gewerbeordnung, welche die Unternehmer verpflichtet, alle nothwendigen Schutzvorkehrungen für Gesundheit und Leben ihrer Arbeiter zu treffen, war wesentlich nur ein papierner Wunsch geblieben. Nach dieser Richtung haben die preußischen Fabrikinspectoren gleichfalls von vorne an arbeiten müssen, und sie dürfen auf manche schöne Erfolge zurückblicken. Merkwürdiger Weise lassen es die Arbeiter in dieser Beziehung weit mehr an sich fehlen, als die Unternehmer; während diese den bezügliche Anregungen und Rathschlägen der Fabrikinspectoren willig entgegenkommen, zeigen jene nur zu häufig einen sträflichen Leichtsinn, einen thörichten Muthwillen; es kommt vor, daß sie aus alberner Großthuerei die Schutzvorrichtungen zerstören, welche in ihrem Interesse von den Unternehmern mit schweren Kosten eingerichtet sind. Dagegen haben die Arbeiter gerechten Grund zur Beschwerde über die Unzulänglichkeit des bestehenden Haftpflichtgesetzes, das die Unternehmer zum Schadenersatz verpflichtet, wenn Unglücksfälle, welche sie oder ihre Beamten verschulden, die Erwerbsfähigkeit von Arbeitern schmälern oder ganz vernichten. Man kann nicht sagen, daß die Fabrikanten in diesem Ehrenpunkte ein besonders starkes Pflichtgefühl entwickeln; nur zu gern schlüpfen sie durch die beklagenswerten Lücken jenes Gesetzes. Gerade die neuesten Jahresberichte der preußischen Fabrikinspectoren beschäftigen sich eingehend mit der wichtigen Frage und liefern eine Fülle tatsächlichen Materials, welches bei der bevorstehenden, im Reichstage schon angeregten Revision des Haftpflichtgesetzes die nützlichste Verwendung finden wird.

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, noch näher auf alles einzugehen, was jene Beamten über ihre nächstliegenden Aufgaben hinaus gewirkt, was sie an nützlichen und wohltätigen Einrichtungen, Consumvereinen, Badeanstalten, Bibliotheken, Anstalten zur Beaufsichtigung und Erziehung der Kinder während der Arbeitszeit der Eltern etc. befürwortet und durchgesetzt haben. Alles in Allem genommen, haben sie sich ihrer große Aufgabe voll gewachsen gezeigt. Sie haben in Hunderten von Fabriken den Gesetzen des Reiches Achtung verschafft; sie habe sich in schwieriger Lage als erfahrene und treue Freunde der Arbeitgeber wie der Arbeitnehmer bewährt; sie haben in ihre Jahresberichte eine lange Reihe durchdachter Anregungen und selbst reifer Vorschläge niedergelegt und in eben diesen Berichten Bilder unserer sozialen Zustände entrollt, wie sie in gleich lebensfrischer Farbe und Form sonst nicht vorhanden sind. Aber leider hat sich auch diesen werthvollen Arbeiten gegenüber, welche alljährlich gesammelt im Verlage von Fr. Kortkampf in Berlin erscheinen, die gebildete Lesewelt noch wesentlich theilnahmlos verhalten.

Und doch ist nichts lehrreicher, als sich in diese Bilder zu vertiefen, mit freudiger Genugthuung zu verfolgen, wie sie von Jahr zu Jahr, mag noch so viel zu thun übrig bleiben, doch immer heller und lichter werden. Der deutsche Unternehmerstand hat große und zahlreiche Vorzüge; viele seiner Glieder sind unsere fleißigsten und tüchtigsten Arbeiter. Aber was ihnen häufig in beklageswerthem Grade, wenn auch vielleicht nur in Folge der verhältnißmäßigen Jugend unserer Industrie, fehlt, ist ein Bewußtsein ihrer sozialen Pflichten; Goethe’s weises Wort:

„Was Du ererbt von Deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen!“

ist ihnen vielfach noch ein Räthsel mit sieben Siegeln. Gerade den tüchtigsten, aus eigener Kraft emporgekommenen Unternehmern wird es oft am schwersten, gerechte Forderungen ihrer Arbeiter nachzukommen, an schwere Mühsale gewöhnt, nehmen sie von ihrer außergewöhnlichen Persönlichkeit den Maßstab, mit welchem sie gewöhnliche Menschen messen. Aber dieser Schattenseite steht eine große Lichtseite gegenüber, für welche die Berichte der preußischen Fabrikinspectoren hundertfache Beweise enthalten; mögen die Unternehmer selten sein, welche von selbst mit freiem und weitem Blicke die große Pflicht erkennen, die jedes große Recht in sich schließt, nicht minder spärlich sind die gesäet, welche aus bösem und hartherzigem Willen sündigen. Bei der großen Masse handelt es sich allein um Gleichgültigkeit und Trägheit, und diese Fehler schwinden von Jahr zu Jahr; mehr und und mehr rühmen die preußischen Fabrikinspectoren die Bereitwilligkeit und das Entgegenkommen der weitaus meisten Unternehmer.

Auf der andern Seite läßt es der Arbeiterstand mindestens in gleichem Grade an sich fehlen. Kein Zweifel, daß seine grenzenlose Indolenz, sein unglaublicher Widerwille gegen alle, auch die segensreichsten Neuerungen, seine beispiellose Kurzsichtigkeit gegenüber seinen wichtigsten Interessen auch den freudigsten Eifer wohlwollender Arbeitgeber zu ermüden vermögen. Namentlich wo die Socialdemokratie über starke Anhang geboten hat oder gebietet, zeigen sich die Arbeiter als ein dumpfes, träges, jeder thatkräftigen Selbsthülfe unfähiges Geschlecht; gerade am Rhein, dem preußischen Hauptherde der communistischen Agitation, bekennen sie völlige Theilnahmlosigkeit gegen die eifrigsten Bestrebungen, welche die Fabrikinspectoren zu ihren Gunsten aufwenden. In anderen Gegenden verräth sich dann freilich auch wieder lebhafteres Interesse, aber zweifellos steht den deutschen Arbeitern eine lange und mühsame Prüfungszeit bevor, ehe sie die Folge eigener und fremder Sünden überwunden und die Reife erlangt haben, welche ihre englischen Cameraden auszeichnet.

So sind die Beziehungen zwischen Unternehmern und Arbeitern noch vielfach unerquicklicher Natur. Ueberwiegend durch ungelöste Dissonanzen wird das moderne Arbeitsverhältniß gekennzeichnet. Hier die schlummernden Kräfte zu erwecken und die erwachenden zu fröhlichem Einklange zu leiten, diese Aufgabe ist jetzt in die erfahrungsmäßig berufensten Hände gelegt, in die Hände von Fabrikinspectoren. Der gegenwärtige Moment, in welchem endlich alle deutschen Staaten sich der Wirksamkeit dieser Beamten erfreuen, ist vielleicht besonders geeignet, die allgemeine Aufmerksamkeit und Theilnahme ihrer ersprießlichen Thätigkeit zuzuwenden, und so mögen diese Zeilen nicht ganz den Zweck verfehlen, welchen sie verfolgten.

(Artkel in der Zeitschrift 'Die Gartenlaube', Heft 8, von 1879)

ZUM TODESTAG DES HISTORIKERS

Über den Autor (1846-1919)

Dienstag, 27. Januar 2015

Leopold von Sacher-Masoch: Venus im Pelz

»Gott hat ihn gestraft und hat
ihn in eines Weibes Hände gegeben.«
Buch Judith 16. Kap. 7.

Ich hatte liebenswürdige Gesellschaft.
Mir gegenüber an dem massiven Renaissancekamin saß Venus, aber nicht etwa eine Dame der Halbwelt, die unter diesem Namen Krieg führte gegen das feindliche Geschlecht, gleich Mademoiselle Cleopatra, sondern die wahrhafte Liebesgöttin.
Sie saß im Fauteuil und hatte ein prasselndes Feuer angefacht, dessen Widerschein in roten Flammen ihr bleiches Antlitz mit den weißen Augen leckte und von Zeit zu Zeit ihre Füße, wenn sie dieselben zu wärmen suchte.
Ihr Kopf war wunderbar trotz der toten Steinaugen, aber das war auch alles, was ich von ihr sah. Die Hehre hatte ihren Marmorleib in einen großen Pelz gewickelt und sich zitternd wie eine Katze zusammengerollt.
»Ich begreife nicht, gnädige Frau«, rief ich, »es ist doch wahrhaftig nicht mehr kalt, wir haben seit zwei Wochen das herrlichste Frühjahr. Sie sind offenbar nervös.«
»Ich danke für euer Frühjahr«, sprach sie mit tiefer steinerner Stimme und nieste gleich darnach himmlisch, und zwar zweimal rasch nacheinander; »da kann ich es wahrhaftig nicht aushalten, und ich fange an zu verstehen –«
»Was, meine Gnädige?«
»Ich fange an das Unglaubliche zu glauben, das Unbegreifliche zu begreifen. Ich verstehe auf einmal die germanische Frauentugend und die deutsche Philosophie, und ich erstaune auch nicht mehr, daß ihr im Norden nicht lieben könnt, ja nicht einmal eine Ahnung davon habt, was Liebe ist.«
»Erlauben Sie, Madame«, erwiderte ich aufbrausend, »ich habe Ihnen wahrhaftig keine Ursache gegeben.«
»Nun, Sie –« die Göttliche nieste zum dritten Male und zuckte mit unnachahmlicher Grazie die Achseln, »dafür bin ich auch immer gnädig gegen Sie gewesen und besuche Sie sogar von Zeit zu Zeit, obwohl ich mich jedesmal trotz meines vielen Pelzwerks rasch erkälte. Erinnern Sie sich noch, wie wir uns das erstemal trafen?«
»Wie könnte ich es vergessen«, sagte ich, »Sie hatten damals reiche braune Locken und braune Augen und einen roten Mund, aber ich erkannte Sie doch sogleich an dem Schnitt Ihres Gesichtes und an dieser Marmorblässe – Sie trugen stets eine veilchenblaue Samtjacke mit Fehpelz besetzt.«
»Ja, Sie waren ganz verliebt in diese Toilette, und wie gelehrig Sie waren.«
»Sie haben mich gelehrt, was Liebe ist, Ihr heiterer Gottesdienst ließ mich zwei Jahrtausende vergessen.«
»Und wie beispiellos treu ich Ihnen war!«
»Nun, was die Treue betrifft –«
»Undankbarer!«
»Ich will Ihnen keine Vorwürfe machen. Sie sind zwar ein göttliches Weib, aber doch ein Weib, und in der Liebe grausam wie jedes Weib.«
»Sie nennen grausam«, entgegnete die Liebesgöttin lebhaft, »was eben das Element der Sinnlichkeit, der heiteren Liebe, die Natur des Weibes ist, sich hinzugeben, wo es liebt, und alles zu lieben, was ihm gefällt.«
»Gibt es für den Liebenden etwa eine größere Grausamkeit als die Treulosigkeit der Geliebten?«
»Ach!« – entgegnete sie – »wir sind treu, so lange wir lieben, ihr aber verlangt vom Weibe Treue ohne Liebe, und Hingebung ohne Genuß, wer ist da grausam, das Weib oder der Mann? – Ihr nehmt im Norden die Liebe überhaupt zu wichtig und zu ernst. Ihr sprecht von Pflichten, wo nur vom Vergnügen die Rede sein sollte.«
»Ja, Madame, wir haben dafür auch sehr achtbare und tugendhafte Gefühle und dauerhafte Verhältnisse.«
»Und doch diese ewig rege, ewig ungesättigte Sehnsucht nach dem nackten Heidentum«, fiel Madame ein, »aber jene Liebe, welche die höchste Freude, die göttliche Heiterkeit selbst ist, taugt nicht für euch Modernen, euch Kinder der Reflexion. Sie bringt euch Unheil. Sobald ihr natürlich sein wollt, werdet ihr gemein. Euch erscheint die Natur als etwas Feindseliges, ihr habt aus uns lachenden Göttern Griechenlands Dämonen, aus mir eine Teufelin gemacht. Ihr könnt mich nur bannen und verfluchen oder euch selbst in bacchantischem Wahnsinn vor meinem Altar als Opfer schlachten, und hat einmal einer von euch den Mut gehabt, meinen roten Mund zu küssen, so pilgert er dafür barfuß im Büßerhemd nach Rom und erwartet Blüten von dem dürren Stock, während unter meinem Fuße zu jeder Stunde Rosen, Veilchen und Myrten emporschießen, aber euch bekömmt ihr Duft nicht; bleibt nur in eurem nordischen Nebel und christlichem Weihrauch; laßt uns Heiden unter dem Schutt, unter der Lava ruhen, grabt uns nicht aus, für euch wurde Pompeji, für euch wurden unsere Villen, unsere Bäder, unsere Tempel nicht gebaut. Ihr braucht keine Götter! Uns friert in eurer Welt!« Die schöne Marmordame hustete und zog die dunkeln Zobelfelle um ihre Schultern noch fester zusammen.
»Wir danken für die klassische Lektion«, erwiderte ich, »aber Sie können doch nicht leugnen, daß Mann und Weib in Ihrer heiteren sonnigen Welt ebensogut wie in unserer nebligen, von Natur Feinde sind, daß die Liebe für die kurze Zeit zu einem einzigen Wesen vereint, das nur eines Gedankens, einer Empfindung, eines Willens fähig ist, um sie dann noch mehr zu entzweien, und – nun Sie wissen es besser als ich – wer dann nicht zu unterjochen versteht, wird nur zu rasch den Fuß des anderen auf seinem Nacken fühlen –«
»Und zwar in der Regel der Mann den Fuß des Weibes«, rief Frau Venus mit übermütigem Hohne, »was Sie wieder besser wissen als ich.«
»Gewiß, und eben deshalb mache ich mir keine Illusionen.«
»Das heißt, Sie sind jetzt mein Sklave ohne Illusionen, und ich werde Sie dafür auch ohne Erbarmen treten.«
»Madame!«
»Kennen Sie mich noch nicht, ja, ich bin grausam – weil Sie denn schon an dem Worte so viel Vergnügen finden – und habe ich nicht recht, es zu sein? Der Mann ist der Begehrende, das Weib das Begehrte, dies ist des Weibes ganzer, aber entscheidender Vorteil, die Natur hat ihm den Mann durch seine Leidenschaft preisgegeben, und das Weib, das aus ihm nicht seinen Untertan, seinen Sklaven, ja sein Spielzeug zu machen und ihn zuletzt lachend zu verraten versteht, ist nicht klug.«
»Ihre Grundsätze, meine Gnädige«, warf ich entrüstet ein.
»Beruhen auf tausendjähriger Erfahrung«, entgegnete Madame spöttisch, während ihre weißen Finger in dem dunkeln Pelz spielten, »je hingebender das Weib sich zeigt, um so schneller wird der Mann nüchtern und herrisch werden; je grausamer und treuloser es aber ist, je mehr es ihn mißhandelt, je frevelhafter es mit ihm spielt, je weniger Erbarmen es zeigt, um so mehr wird es die Wollust des Mannes erregen, von ihm geliebt, angebetet werden. So war es zu allen Zeiten, seit Helena und Delila, bis zur zweiten Katharina und Lola Montez herauf.«
»Ich kann es nicht leugnen«, sagte ich, »es gibt für den Mann nichts, das ihn mehr reizen könnte, als das Bild einer schönen, wollüstigen und grausamen Despotin, welche ihre Günstlinge übermütig und rücksichtslos nach Laune wechselt –«
»Und noch dazu einen Pelz trägt«, rief die Göttin.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich kenne ja Ihre Vorliebe.«
»Aber wissen Sie«, fiel ich ein, »daß Sie, seitdem wir uns nicht gesehen haben, sehr kokett geworden sind.«
»Inwiefern, wenn ich bitten darf?«
»Insofern es keine herrlichere Folie für Ihren weißen Leib geben könnte, als diese dunklen Felle und es Ihnen –«
Die Göttin lachte.
»Sie träumen«, rief sie, »wachen Sie auf!« und sie faßte mich mit ihrer Marmorhand beim Arme, »wachen Sie doch auf!« dröhnte ihre Stimme nochmals im tiefsten Brustton. Ich schlug mühsam die Augen auf.
Ich sah die Hand, die mich rüttelte, aber diese Hand war auf einmal braun wie Bronze, und die Stimme war die schwere Schnapsstimme meines Kosaken, der in seiner vollen Größe von nahe sechs Fuß vor mir stand.
»Stehen Sie doch auf«, fuhr der Wackere fort, »es ist eine wahrhafte Schande.«
»Und weshalb eine Schande?«
»Eine Schande in Kleidern einzuschlafen und noch dazu bei einem Buche«, er putzte die heruntergebrannten Kerzen und hob den Band auf, der meiner Hand entsunken war, »bei einem Buche von – er schlug den Deckel auf, von Hegel – dabei ist es die höchste Zeit zu Herrn Severin zu fahren, der uns zum Tee erwartet.«

(Beginn der 1870 erschienenen Novelle aus dem Zyklus 'Das Vermächtnis Kains')

ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1836-1895)

Montag, 26. Januar 2015

Achim von Arnim: Mir ist zu licht zum Schlafen

Mir ist zu licht zum Schlafen,
Der Tag bricht in die Nacht,
Die Seele ruht im Hafen,
Ich bin so froh verwacht.

Ich hauchte meine Seele
Im ersten Kusse aus,
Was ist's, dass ich mich quäle,
Ob sie auch fand ein Haus.

Sie hat es wohl gefunden,
Auf ihren Lippen schön,
O welche selgen Stunden,
Wie ist mir so geschehn.

Was soll ich nun noch sehen,
Ach alles ist in ihr,
Was fühlen, was erflehen,
Es ward ja alles mir.

Ich habe was zu sinnen,
Ich hab, was mich beglückt,
In allen meinen Sinnen
Bin ich von ihr entzückt.

(Gedicht aus 'Armuth, Reichthum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores' von 1809)

ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1781-1831)

Sonntag, 25. Januar 2015

Joseph Görres: Rheinischer Merkur

Es hat im Laufe dieser Zeiten ein Ereignis sich ergeben, das überraschend, bewundernswürdig, ja erstaunlich die Gestalt der Welt und das Schicksal des Geschlechts auf viele Menschenalter begründen wird. Das teutsche Volk, durch Dünkel, Habsucht, Neid und Unverstand längst schon tausendfältig in sich selbst entzweit, durch Trägheit und Erschlaffung aufgelöst und darum einem übermütigen Feinde von der Vorsicht preisgegeben, der alle Gewalttätigkeit seiner Revolution zu ihm hinübertrug; dies Volk, gedemütigt, gedrückt, unter die Füße getreten, verspottet und gehöhnt, entwaffnet oder gegen sich selbst zum Streite angehetzt, hat wie ein gebundener Riese mit einem sich erhoben, und alle Ketten sind wie eine böse Verblendung von ihm abgefallen, und die ihn plagten, sind vergangen, wie üble Träume mit dem Licht des Morgens. Und nun, da der Arm des Bösen, der so schwer auf ihm gelegen, zerbrochen ist, gibt sich erst kund, welch unversiegliche Quelle alles Guten in diesem Volke fließt, und wie die Feinde, die alles ihm geraubt, den alten Schatz der Treue, des Mutes und der Vaterlandsliebe nicht ihm rauben können. Durch alle Völkerschaften, die den Boden des alten Germaniens bedecken, geht ein Geist freudiger Entsagung und mutigen Zusammenhaltens, eine schöne Begeisterung glüht in aller Herzen, statt der vorigen dumpfen Betäubung ist eine muntere Regsamkeit eingetreten, eine klare Anschauung der Weltverhältnisse nimmt die Stelle kläglichen Unverstandes ein, das Talent, das wie versiegt schien in flacher Erbärmlichkeit, hat in allen Fächern sich hervorgetan, und ein edler Gemeingeist, der den Teutschen so fremd geworden, umschlingt, wie jene Kette den Heerhaufen der Teutonen, so den großen Bund mit festem Band. Die Folgen dieser Erhebung einer starken Nation sind schon in die Weltgeschichte aufgenommen; die Schlacht bei Leipzig hat ihresgleichen nicht an Wichtigkeit, seit jener auf den Katalaunischen Feldern, und seit dem großen Bunde der Germanier gegen die römische Oberherrschaft hat Teutschland nie so eins in sich, so wehrhaft, so gründlich stark und unüberwindlich dagestanden. Offenbar sind die Teutschen das Organ geworden, in dem die Geschichte weiterwirkt; über den Heeren der Verbündeten schwebt, jedem Auge sichtbar, die ewige Vergeltung und mißt jedem mit dem Maße ein, womit er ausgemessen; durch ihre Siege haben die Fügungen der Vorsehung sich kundgegeben, die nicht dem Zufalle preisgibt die Ereignisse, daß die Lüge herrsche und die Schlechtigkeit, sondern die nach Maß und Recht zügelt jede freche Gewalt und alles zum Guten lenkt. Und das ist das erfreulichste von allem, daß die Rechtlichkeit der Nation nach so arger Mißhandlung und so glänzenden Siegen sich kundgibt in jener Mäßigung der Führer des Bundes, die dem niedergeworfenen Feinde nicht Mißhandlung, Knechtschaft und Schande bietet und dadurch die gerechte Nemesis wieder gegen sich selbst bewaffnet, sondern in ehrenvollem Frieden ebensosehr sein Glück wie das eigene begründen will. Dies schöne Maß, das die Deutschen ihrer großen, frei gemachten Kraft gegeben, verbürgt ihnen mit Sicherheit den schönen Ausgang des Kampfes, der nun seinem Ende naht. Die Begeisterung aber, die sich in der Nation geregt, und die noch lange nachglühen wird, wenn der Streit beider Völker längst beigelegt, wird, während sie ihre künftige äußere Sicherheit begründet, jeglichem Guten Bahn machen, das ein Volk beglücken mag, und das Jahrhundert, das so viele Schmach gesehen, kann leicht in seinem Verlaufe die besten Zeiten Altteutschlands wiederkehren sehen.

(Aus dem Editorial der ersten Ausgabe des Blattes vom 23. Januar 1814)

ZUM GEBURTSTAG DES PUBLIZISTEN

Über den Autor (1776-1848)

Samstag, 24. Januar 2015

E. T. A. Hoffmann: Lebensansichten des Katers Murr

Es ist doch etwas Schönes, Herrliches, Erhabenes um das Leben! – »O du süße Gewohnheit des Daseins!« ruft jener niederländische Held in der Tragödie aus. So auch ich, aber nicht wie der Held in dem schmerzlichen Augenblick, als er sich davon trennen soll – nein! – in dem Moment, da mich eben die volle Lust des Gedankens durchdringt, daß ich in jene süße Gewohnheit nun ganz und gar hineingekommen und durchaus nicht willens bin, jemals wieder hinauszukommen. – Ich meine nämlich, die geistige Kraft, die unbekannte Macht, oder wie man sonst das über uns waltende Prinzip nennen mag, welches mir besagte Gewohnheit ohne meine Zustimmung gewissermaßen aufgedrungen hat, kann unmöglich schlechtere Gesinnungen haben als der freundliche Mann, bei dem ich Kondition gegangen, und der mir das Gericht Fische, das er mir vorgesetzt, niemals vor der Nase wegzieht, wenn es mir eben recht wohlschmeckt.

O Natur, heilige hehre Natur! wie durchströmt all deine Wonne, all dein Entzücken meine bewegte Brust, wie umweht mich dein geheimnisvoll säuseln der Atem! – Die Nacht ist etwas frisch, und ich wollte – doch jeder, der dies lieset oder nicht lieset, begreift nicht meine hohe Begeisterung, denn er kennt nicht den hohen Standpunkt, zu dem ich mich hinaufgeschwungen! – Hinaufgeklettert wäre richtiger, aber kein Dichter spricht von seinen Füßen, hätte er auch deren viere so wie ich, sondern nur von seinen Schwingen, sind sie ihm auch nicht angewachsen, sondern nur Vorrichtung eines geschickten Mechanikers. Über mir wölbt sich der weite Sternenhimmel, der Vollmond wirft seine funkelnden Strahlen herab, und in feurigem Silberglanz stehen Dächer und Türme um mich her! Mehr und mehr verbraust das lärmende Gewühl unter mir in den Straßen, stiller und stiller wird die Nacht – die Wolken ziehen – eine einsame Taube flattert in bangen Liebesklagen girrend um den Kirchturm! – Wie! – wenn die liebe Kleine sich mir nähern wollte? – Ich fühle wunderbar es sich in mir regen, ein gewisser schwärmerischer Appetit reißt mich hin mit unwiderstehlicher Gewalt! – O, käme sie, die süße Huldin, an mein liebekrankes Herz wollt' ich sie drücken, sie nimmer von mir lassen – ha, dort flattert sie hinein in den Taubenschlag, die Falsche, und läßt mich hoffnungslos sitzen auf dem Dache! – Wie selten ist doch in dieser dürftigen, verstockten, liebeleeren Zeit wahre Sympathie der Seelen. –

Ist denn das auf zwei Füßen aufrecht Einhergehen etwas so Großes, daß das Geschlecht, welches sich Mensch nennt, sich die Herrschaft über uns alle, die wir mit sichererem Gleichgewicht auf vieren daherwandeln, anmaßen darf? Aber ich weiß es, sie bilden sich was Großes ein auf etwas, was in ihrem Kopfe sitzen soll, und das sie die Vernunft nennen. Ich weiß mir keine rechte Vorstellung zu machen, was sie darunter verstehen, aber so viel ist gewiß, daß, wenn, wie ich es aus gewissen Reden meines Herrn und Gönners schließen darf, Vernunft nichts anders heißt, als die Fähigkeit, mit Bewußtsein zu handeln und keine dumme Streiche zu machen, ich mit keinem Menschen tausche. – Ich glaube überhaupt, daß man sich das Bewußtsein nur angewöhnt; durch das Leben und zum Leben kommt man doch, man weiß selbst nicht wie. Wenigstens ist es mir so gegangen, und wie ich vernehme, weiß auch kein einziger Mensch auf Erden das Wie und Wo seiner Geburt aus eigner Erfahrung, sondern nur durch Tradition, die noch dazu öfters sehr unsicher ist. Städte streiten sich um die Geburt eines berühmten Mannes, und so wird es, da ich selbst nichts Entscheidendes darüber weiß, immerdar ungewiß bleiben, ob ich in dem Keller, auf dem Boden oder in dem Holzstall das Licht der Welt erblickte oder vielmehr nicht erblickte, sondern nur in der Welt erblickt wurde von der teuren Mama. Denn wie es unserm Geschlecht eigen, waren meine Augen verschleiert. Ganz dunkel erinnere ich mich gewisser knurrender, prustender Töne, die um mich her erklangen, und die ich beinahe wider meinen Willen hervorbringe, wenn mich der Zorn überwältigt. Deutlicher und beinahe mit vollem Bewußtsein finde ich mich in einem sehr engen Behältnis mit weichen Wänden eingeschlossen, kaum fähig, Atem zu schöpfen, und in Not und Angst ein klägliches Jammergeschrei erhebend. Ich fühlte, daß etwas in das Behältnis hinabgriff und mich sehr unsanft beim Leibe packte, und dies gab mir Gelegenheit, die erste wunderbare Kraft, womit mich die Natur begabt, zu fühlen und zu üben. Aus meinen reich überpelzten Vorderpfoten schnellte ich spitze gelenkige Krallen hervor und grub sie ein in das Ding, das mich gepackt, und das, wie ich später gelernt, nichts anders sein konnte, als eine menschliche Hand. Diese Hand zog mich aber heraus aus dem Behältnis und warf mich hin, und gleich darauf fühlte ich zwei heftige Schläge auf den beiden Seiten des Gesichts, über die jetzt ein, wie ich wohl sagen mag, stattlicher Bart herüberragt. Die Hand teilte mir, wie ich jetzt beurteilen kann, von jenem Muskelspiel der Pfoten verletzt, ein paar Ohrfeigen zu, ich machte die erste Erfahrung von moralischer Ursache und Wirkung, und eben ein moralischer Instinkt trieb mich an, die Krallen ebenso schnell wieder einzuziehen, als ich sie hervorgeschleudert. Später hat man dieses Einziehen der Krallen mit Recht als einen Akt der höchsten Bonhomie und Liebenswürdigkeit anerkannt und mit dem Namen »Samtpfötchen« bezeichnet.

Wie gesagt, die Hand warf mich wieder zur Erde. Bald darauf erfaßte sie mich aber aufs neue beim Kopf und drückte ihn nieder, so daß ich mit dem Mäulchen in eine Flüssigkeit geriet, die ich, selbst weiß ich nicht, wie ich darauf verfiel, es mußte daher physischer Instinkt sein, aufzulecken begann, welches mir eine seltsame innere Behaglichkeit erregte. Es war, wie ich jetzt weiß, süße Milch, die ich genoß, mich hatte gehungert, und ich wurde satt, indem ich trank. So trat, nachdem die moralische begonnen, die physische Ausbildung ein.

Aufs neue, aber sanfter als vorher, faßten mich zwei Hände und legten mich auf ein warmes weiches Lager. Immer besser und besser wurde mir zumute, und ich begann mein inneres Wohlbehagen zu äußern, indem ich jene seltsame, meinem Geschlecht allein eigene Töne von mir gab, die die Menschen durch den nicht unebenen Ausdruck: spinnen bezeichnen. So ging ich mit Riesenschritten vorwärts in der Bildung für die Welt. Welch ein Vorzug, welch ein köstliches Geschenk des Himmels, inneres physisches Wohlbehagen ausdrücken zu können durch Ton und Gebärde! – Erst knurrte ich, dann kam mir jenes unnachahmliche Talent, den Schweif in den zierlichsten Kreisen zu schlängeln, dann die wunderbare Gabe, durch das einzige Wörtlein »Miau« Freude, Schmerz, Wonne und Entzücken, Angst und Verzweiflung, kurz, alle Empfindungen und Leidenschaften in ihren mannigfaltigsten Abstufungen auszudrücken. Was ist die Sprache der Menschen gegen dieses einfachste aller einfachen Mittel, sich verständlich zu machen! – Doch weiter in der denkwürdigen, lehrreichen Geschichte meiner ereignisreichen Jugend! –

(Anfang des ab 1819 erschienenen satirischen Romans)

ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1776-1822)

Freitag, 23. Januar 2015

David Hilbert: Mathematische Probleme

Wenn uns die Beantwortung eines mathematischen Problems nicht gelingen will, so liegt häufig der Grund darin, daß wir noch nicht den allgemeineren Gesichtspunkt erkannt haben, von dem aus das vorgelegte Problem nur als einzelnes Glied einer Kette verwandter Probleme erscheint. Nach Auffindung dieses Gesichtspunktes wird häufig nicht nur das vorgelegte Problem unserer Erforschung zugänglicher, sondern wir gelangen so zugleich in den Besitz einer Methode, die auf die verwandten Probleme anwendbar ist. Als Beispiel diene die Einführung complexer Integrationswege in der Theorie der bestimmten Integrale durch Cauchy und die Aufstellung des Idealbegriffes in der Zahlentheorie durch Kummer. Dieser Weg zur Auffindung allgemeiner Methoden ist gewiß der gangbarste und sicherste; denn wer, ohne ein bestimmtes Problem vor Auge zu haben, nach Methoden sucht, dessen Suchen ist meist vergeblich.

Eine noch wichtigere Rolle als das Verallgemeinern spielt - wie ich glaube - bei der Beschäftigung mit mathematischen Problemen das Specialisiren. Vielleicht in den meisten Fällen, wo wir die Antwort auf eine Frage vergeblich suchen, liegt die Ursache des Mißlingens darin, daß wir einfachere und leichtere Probleme als das vorgelegte noch nicht oder noch unvollkommen erledigt haben. Es kommt dann Alles darauf an, diese leichteren Probleme aufzufinden und ihre Lösung mit möglichst vollkommenen Hilfsmitteln und durch verallgemeinerungsfähige Begriffe zu bewerkstelligen. Diese Vorschrift ist einer der wichtigsten Hebel zur Ueberwindung mathematischer Schwierigkeiten und es scheint mir, daß man sich dieses Hebels meistens - wenn auch unbewußt - bedient.

Mitunter kommt es vor, daß wir die Beantwortung unter ungenügenden Voraussetzungen oder in unrichtigem Sinne erstreben und in Folge dessen nicht zum Ziele gelangen. Es entsteht dann die Aufgabe, die Unmöglichkeit der Lösung des Problems unter den gegebenen Voraussetzungen und in dem verlangten Sinne nachzuweisen. Solche Unmöglichkeitsbeweise wurden schon von den Alten geführt, indem sie z. B. zeigten, daß die Hypotenuse eines gleichschenkligen rechtwinkligen Dreiecks zur Kathete in einem irrationalen Verhältnisse steht. In der neueren Mathematik spielt die Frage nach der Unmöglichkeit gewisser Lösungen eine hervorragende Rolle und wir nehmen so gewahr, daß alte schwierige Probleme wie der Beweis des Parallelenaxioms, die Quadratur des Kreises oder die Auflösung der Gleichungen 5ten Grades durch Wurzelziehen, wenn auch in anderem als dem ursprünglich gemeinten Sinne, dennoch eine völlig befriedigende und strenge Lösung gefunden haben.

Diese merkwürdige Thatsache neben anderen philosophischen Gründen ist es wohl, welche in uns eine Ueberzeugung entstehen läßt, die jeder Mathematiker gewiß teilt, die aber bis jetzt wenigstens niemand durch Beweise gestutzt hat - ich meine die Ueberzeugung, daß ein jedes bestimmte mathematische Problem einer strengen Erledigung notwendig fähig sein müsse, sei es, daß es gelingt, die Beantwortung der gestellten Frage zu geben, sei es, daß die Unmöglichkeit seiner Lösung und damit die Notwendigkeit des Mißlingens aller Versuche dargethan wird. Man lege sich irgend ein bestimmtes ungelöstes Problem vor, etwa die Frage nach der Irrationalität der Euler-Mascheronischen Constanten C oder die Frage, ob es unendlich viele Primzahlen von der Form 2n+1 giebt. So unzugänglich diese Probleme uns erscheinen und so ratlos wir zur Zeit ihnen gegenüber stehen - wir haben dennoch die sichere Ueberzeugung, daß ihre Lösung durch eine endliche Anzahl rein logischer Schlüsse gelingen muß.

Ist dieses Axiom von der Lösbarkeit eines jeden Problems eine dem mathematischen Denken allein charakteristische Eigentümlichkeit, oder ist es vielleicht ein allgemeines dem inneren Wesen unseres Verstandes anhaftendes Gesetz, daß alle Fragen, die er stellt, auch durch ihn einer Beantwortung fähig sind? Trifft man doch auch in anderen Wissenschaften alte Probleme an, die durch den Beweis der Unmöglichkeit in der befriedigendsten Weise und zum höchsten Nutzen der Wissenschaft erledigt worden sind. Ich erinnere an das Problem des Perpetuum mobile. Nach den vergeblichen Versuchen der Construktion eines Perpetuum mobile forschte man vielmehr nach den Beziehungen, die zwischen den Naturkräften bestehen müssen, wenn ein Perpetuum mobile unmöglich sein soll (Vgl. Helmholtz, Ueber die Wechselwirkung der Naturkräfte und die darauf bezüglichen neuesten Ermittelungen der Physik. Vortrag, gehalten in Königsberg 1854), und diese umgekehrte Fragestellung führte auf die Entdeckung des Gesetzes von der Erhaltung der Energie, das seinerseits die Unmöglichkeit des Perpetuum mobile in dem ursprünglich, verlangten Sinne erklärt. Diese Ueberzeugung von der Lösbarkeit eines jeden mathematischen Problems ist uns ein kräftiger Ansporn während der Arbeit; wir hören in uns den steten Zuruf: Da ist das Problem, suche die Lösung. Du kannst sie durch reines Denken finden; denn in der Mathematik giebt es kein Ignorabimus!
 
Unermeßlich ist die Fülle von Problemen in der Mathematik, und sobald ein Problem gelöst ist, tauchen an dessen Stelle zahllose neue Probleme auf. Gestatten Sie mir im Folgenden, gleichsam zur Probe, aus verschiedenen mathematischen Disciplinen einzelne bestimmte Probleme zu nennen, von deren Behandlung eine Förderung der Wissenschaft sich erwarten läßt.

(Aus der am 8. August 1900 gehaltenen Rede auf dem internationalen Mathematikerkongress in Paris)

ZUM GEBURTSTAG DES MATHEMATIKERS

Über den Autor (1862-1943)

Donnerstag, 22. Januar 2015

Gotthold Ephraim Lessing: Über die Wahrheit

Ein Mann, der Unwahrheit unter entgegengesetzter Überzeugung in guter Absicht ebenso scharfsinnig als bescheiden durchzusetzen sucht, ist unendlich mehr wert als ein Mann, der die beste, edelste Wahrheit aus Vorurteil, mit Verschreiung seiner Gegner, auf alltägliche Weise verteidigt.
Will es denn eine Klasse von Leuten nie lernen, daß es schlechterdings nicht wahr ist, daß jemals ein Mensch wissentlich und vorsetzlich sein selbst verblendet habe? Es ist nicht wahr, sag ich; aus keinem geringern Grunde, als weil es nicht möglich ist. Was wollen sie denn also mit ihrem Vorwurfe mutwilliger Verstockung, geflissentlicher Verhärtung, mit Vorbedacht gemachter Plane, Lügen auszustaffieren, die man Lügen zu sein weiß? Was wollen sie damit? Was anders, als - - Nein; weil ich auch ihnen diese Wahrheit muß zugute kommen lassen; weil ich auch von ihnen glauben muß, daß sie vorsetzlich und wissentlich kein falsches verleumdrisches Urteil fällen können: so schweige ich und enthalte mich alles Widerscheltens.

Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz -

Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!

(Aus 'Eine Duplik' von 1778)

ZUM GEBURTSTAG DES DICHTERS

Über den Autor (1729-1781)

Mittwoch, 21. Januar 2015

Egon Friedell: Die Hegemonie des Schriftstellers

Wir haben uns daran gewöhnt, in einem Dichter einen Menschen zu sehen, der irgendwo außerhalb, ganz an der Peripherie des wirklichen Lebens in einem Zimmer sitzt, Stoffe und Materialien sammelt, nachdenkt, schreibt, innehält, ausstreicht, wieder nachdenkt, wieder schreibt, zusammensetzt und umarbeitet, und wenn er schließlich viele Bogen mit vielen weisen oder schönen Dingen gefüllt hat, ein gedrucktes Buch herausgibt, kurz: einen Menschen, der die eine Hälfte seines Daseins mit Lesen und die andere mit Schreiben verbringt und dessen Lebenssymbol das Buch ist.

Diese Vorstellung scheint uns so selbstverständlich, daß wir uns gar nicht denken können, daß man es jemals anders aufgefaßt hat. Und dennoch ist dieser Begriff vom Dichter verhältnismäßig noch sehr jung, er ist eine Neuerwerbung des achtzehnten Jahrhunderts. Damals wurde in ganz Europa die Literatur übermächtig. Jene Art der menschlichen Geistestätigkeit, die uns heute fast als das Kulturferment schlechtweg erscheint, hat sich erst damals ihre Vorherrschaft erobert. In England entstand der Typus des schreibenden Gelehrten, der schreibt, schreibt, nicht bloß um seine eigene Forschung zu fördern, sondern auch um andere zu unterweisen, und seitdem versorgt England den ganzen Kontinent mit weltläufiger, lehr- und lernbarer Wissenschaft: Wissenschaft als Literaturprodukt. Gleichzeitig wurde in Frankreich die Figur des Publizisten konzipiert, der alles: Leben und Kunst, Glauben und Staat in geschickter, aktueller, interessanter Form zu behandeln weiß; an der Spitze Voltaire, der vollendetste Journalist, der je gelebt hat. Diese Strömungen rannen dann zusammen in das, was wir »Aufklärung« zu nennen pflegen. Alles wurde mit einemmal ein Gegenstand der Literatur: die Politik, die Gesellschaft, die Religion. Gott wurde nicht mehr in inbrünstiger Ekstase hinter düstern Klostermauern gesucht wie im Mittelalter, nicht mehr mit der Pike oder der Sense in der Hand erkämpft wie in den Zeiten der Reformation, nicht mehr im Kunstwerk verherrlicht wie in der Renaissance, sondern er begab sich in Bücher, Broschüren und Flugschriften, lehrhafte Romane und philosophische Dialoge: er war eine literarische Angelegenheit geworden. Und dazu kam dann die Ausdehnung der Presse, gefördert durch das neue billige Holzpapier, die Druckmaschine, die Erfindung schnellerer Verkehrsmittel, und vollendete diese ganze Entwicklung. Das, was wir heute zusammenfassend »Geistesleben« nennen, ruht zu drei Vierteln auf dem Schrifttum.

Es ist aber durchaus nicht immer so gewesen. Die Griechen hatten große Dichter und Philosophen, aber gar keine Berufsschriftsteller. Auch so ausgezeichnete Autoren wie Thukydides, Xenophon oder Plato schrieben immer nur gewissermaßen im Nebenamt: ihre literarische Tätigkeit war nur eine Fußnote und Randglosse zu ihrem wirklichen Leben. Erst mit dem Verfall der griechischen Kultur, mit dem Alexandrinertum, beginnt das Bibliothekswesen, die Polyhistorie und die Vielschreiberei. Auch Homer hat eigentlich nicht für die Griechen geschrieben, denn seine Dichtungen wurden durch mündliche Überlieferungen fortgepflanzt, und seine lebendige Wirkung bestand nicht darin, daß man ihn las, sondern darin, daß man ihn rezitierte.

In der darauffolgenden Zeit, im Mittelalter konnte von öffentlicher Schriftstellerei überhaupt keine Rede sein, und zwar aus einem sehr betrüblichen Grunde: weil die meisten Leute nicht lesen konnten. Und übrigens konnten auch viele Dichter nicht schreiben.

Dann in der Renaissancezeit hatten die Leute ganz andere Dinge im Kopfe. Zunächst wurde ein großer Teil der Energien vom öffentlichen Leben absorbiert. Jeder mußte für sich einstehen, man lebte unter dem Drucke einer fortwährenden Lebensgefahr, ganz Italien war eine organisierte Anarchie. Das Leben befand sich in fortgesetzter Vibration, man hatte nicht oft die Möglichkeit, beschaulich im Zimmer zu sitzen. Sodann: man wollte auch gar nicht. Es drängte jeden hinaus in das Glücksspiel der politischen Karriere: die Aussicht, Herzog oder Kardinal zu werden, war eigentlich für jeden begabten und tatkräftigen Menschen vorhanden. Und endlich: der Ehrgeiz und die Schöpferkraft des Menschen richtete sich auf die bildende Kunst. Ein großer Mann war der, der schöne Bildsäulen oder Gemälde machen konnte. Benvenuto Cellini war einer der populärsten Menschen in ganz Italien, und war doch nur ein einfacher Goldschmied. Die große aufwühlende Wirkung, die heutzutage ein Werk wie der »Faust« oder der »Zarathustra« hat, hatte damals eine Marmorgruppe oder ein Kolossalgemälde. Allerdings verstand man auch unter einem bildenden Künstler damals etwas anderes als heute. Man erwartete von ihm nicht nur eine besonders treue oder besonders eigenartige Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern auch Gedanken, ein vollständiges Weltbild: seine ganze geistige Persönlichkeit mit allen ihren Höhen und Tiefen, seine ganze Anschauung von Gott, Leben und Menschheit mußte in dem Werk enthalten sein. Man kann daher sagen, daß die führenden Maler und Bildhauer für jene Zeit genau dasselbe waren, was für uns heute ein führender Schriftsteller ist. Man dichtete eben damals in anderem Material.

In England, das nicht viel später seine Blüte erreichte, wurden allerdings vorwiegend Dramen, Gedichte und Abhandlungen produziert. Aber sie waren dennoch auch dort nicht wesentlich schriftstellerische Dinge. Sondern: der Ausdruck und Abglanz eines bestimmten bewegten Lebens. Sie waren nur der Schatten, den die Wirklichkeit warf, und diese Wirklichkeit war das, worum es sich drehte. Shakespeare war durchaus kein Schriftsteller; er war ein Theatermensch. Man könnte sagen: er machte Theaterstücke und schrieb sie nebenher auf, aus dem ganz mechanischen Grunde, weil die Schauspieler sie sonst nicht hätten auswendig lernen können. Es wäre Shakespeare niemals eingefallen, ein großes Drama zu dichten, ohne an eine Aufführung zu denken, wie es Goethe mehr als einmal getan hat. Erst das achtzehnte Jahrhundert hat aus Shakespeare eine Sache der Literatur gemacht. In England selbst wurde er nicht als Schriftsteller behandelt, seine Dramen lebten nur als Rollenhefte weiter. Man hat den Engländern vorgeworfen, sie hätten ihren Shakespeare nicht zu würdigen gewußt, sonst hätten sie seine Bücher nicht so verkommen lassen. Aber dieser Vorwurf ist ungerecht: die Unachtsamkeit ist begründet im Geist der Zeit, man hatte damals noch keinen Respekt vor geschriebenen Dramen, es fiel niemandem ein, daß diese Schauspiele auch außerhalb der realen Bühne, eingesargt in gedruckte Bücher, noch ein Leben haben könnten. Der Schriftsteller war damals noch nicht erfunden.

Heute aber steht er auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung und seines Einflusses. Er ist der geistige Repräsentant des Menschengeschlechts. Er hat fast alle denkenden Berufe in sich aufgesaugt. Das Organ der Politik ist nicht mehr die Rednertribüne, sondern die Presse. Das Organ des Handels ist nicht mehr der Marktplatz, sondern das Kontor, in dem geschrieben wird. ... da also heutzutage nahezu jeder Mensch, der geistig wirken will, auf das Schreiben hingewiesen ist, darf es uns nicht verwundern, daß der Dichter, der dieser Tätigkeit näher steht als irgendein anderer Mensch, heute Schriftsteller ist, und nichts als Schriftsteller.

Diese ganze Entwicklung ist aber allem Anschein nach im Begriff, ihren Höhepunkt zu überschreiten. Es ist nicht ausgemacht, daß die Literatur von nun an ein für allemal das wichtigste geistige Ausdrucksmittel bleiben wird. Zunächst aus einem äußerlichen Grunde. In früheren Zeiten konnte der Schriftsteller nicht dominieren, weil die Verkehrstechnik zu unvollkommen entwickelt war. Es gab keine organisierte Post, keine billigen Transportmittel, keine internationale Gütersekurität. Das geschriebene Wort hatte keinen wesentlichen Vorsprung vor dem gesprochenen. Es ist aber nun sehr wohl möglich, daß sich in der kommenden Zeit gerade das Umgekehrte ereignen wird: der Schriftsteller wird zurücktreten, weil die Technik zu vollkommen entwickelt ist. Man wird wieder auf die persönliche Wirkung zurückkommen können. Zunächst werden die Entfernungen immer geringer: wie schnell und leicht ein Mensch vorwärtskommen kann, ist nur noch ein praktisches Problem, eine Kraftfrage; theoretisch ist der Sache gar keine Grenze vorauszusagen. Ferner stehen Einrichtungen wie Telephon, Grammophon und Kinematograph ja erst ganz am Anfang ihrer Entwicklung, sie sind der unbeschränktesten Vervollkommnung fähig. Höchstwahrscheinlich steht uns auch die Erfindung des Fernsehers bevor. Nimmt man nun alle diese Dinge ein wenig im Geiste vorweg, so darf man sagen: es ist gar nicht ausgeschlossen, daß es in hundert Jahren eine Art der publizistischen Wirksamkeit geben wird, die der Schriftstellerei an Eindringlichkeit, Vielseitigkeit und Beweglichkeit ebenso überlegen ist wie das Buch und die Tageszeitung dem Kanzelredner und Wanderprediger.

(Aus dem 1912 erschienenen Essayband 'Ecce Poeta')

ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1878-1938)

Dienstag, 20. Januar 2015

Christoph Martin Wieland: Wer ist berechtigt, die Menschheit aufzuklären?

Wer es kann! – »Aber wer kann es?« – Ich antworte mit einer Gegenfrage, wer kann es nicht? Nun, mein Herr? da stehen wir und sehen einander an? Also, weil kein Orakel da ist, das in zweifelhaften Fällen den Ausspruch thun könnte (und wenn eines da wäre, was hälfe es uns ohne ein zweites Orakel, das uns das erste erklärte?), und weil kein menschliches Tribunal berechtigt ist, sich einer Entscheidung anzumaßen, wodurch es von seiner Willkür abhinge, uns so viel oder wenig Licht zukommen zu lassen, als ihm beliebte: so wird es doch wohl dabei bleiben müssen, daß Jedermann – von Sokrates oder Kant bis zum obscursten aller übernatürlich erleuchteten Schneider und Schuster, ohne Ausnahme, berechtigt ist, die Menschheit aufzuklären, wie er kann, sobald ihn sein guter oder böser Geist dazu treibt. Man mag nun die Sache betrachten, von welcher Seite man will, so wird sich finden, daß die menschliche Gesellschaft bei dieser Freiheit unendlichmal weniger gefährdet ist, als wenn die Beleuchtung der Köpfe und des Thuns und Lassens der Menschen als Monopol oder ausschließliche Innungssache behandelt wird. Nur wollte ich allenfalls rathen, ne quid Respublica detrimenti capiat [= dass der Staat keinen Schaden nehme] – eine höchst unschuldige Einschränkung dabei zu verfügen; und diese wäre: das sehr weise Strafgesetz der alten Kaiser des ersten und zweiten Jahrhunderts gegen die heimlichen Conventikel und geheimen Verbrüderungen zu erneuern und demzufolge Allen, die nicht berufen sind, auf Canzeln und Kathedern zu lehren, kein anderes Mittel zur beliebigen Aufklärung der Menschheit zu gestatten, als die Buchdruckerpresse. Ein Narr, der in einem Conventikel Unsinn predigt, kann in der bürgerlichen Gesellschaft Unheil anrichten; ein Buch hingegen, was auch sein Inhalt seyn mag, kann heut zu Tage keinen Schaden thun, der entweder der Rede werth wäre oder nicht gar bald zehnfältig oder hundertfältig durch Andere vergütet würde.

(Aus dem Essay 'Ein paar Goldkörner aus – oder Sechs Antworten aus sechs Fragen' in 'Der teutsche Merkur vom Jahre 1789')

ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1733-1813)

Montag, 19. Januar 2015

Gustav Meyrink: Wahrheitstropfen

I

Das gespenstische Dämmerlicht des Frühmorgens tastete sich bereits durch die staubigen Straßen und hauchte trüb schimmernde Nebel an die Häusermauern. Vier Uhr früh! Und immer noch war Hlavata Ohrringle wach und ging ruhelos im Zimmer auf und ab.

Jahrzehnte ein Fläschchen, gefüllt mit einer wasserhellen Flüssigkeit, zu besitzen, von der man bestimmt weiß, daß sie irgendwelche geheimnisvollen Eigenschaften hat, – zu gewissen Zeiten eingenommen, vielleicht sogar die höchsten magischen Fähigkeiten verleihen kann, ohne daß man imstande wäre, hinter das Geheimnis zu kommen, ist betrübend und qualvoll. Aber plötzlich – wie mit einem Ruck – den Vorhang gelüftet zu sehen, regt auf und zerreißt den Schlaf.

Hlavata Ohrringle hatte oft des Abends das Fläschchen hervorgeholt, geschüttelt, gegen das Licht gehalten und an seinem Inhalt gerochen – hatte immer und immer wieder die alten Folianten aufgeschlagen, die nach den testamentarischen Angaben seines Urgroßvaters Aufschlüsse geben sollten – und war jedesmal gereizt zu Bette gegangen, ohne etwas herausgefunden zu haben. Nur eins war seltsam, immer in solchen Nächten besuchte ihn derselbe Traum: eine violette gebirgige Landschaft, mitten darin ein asiatisches Kloster mit einem goldenen Dach und darauf in starrer Unbeweglichkeit eine Leiche stehend, die ein Buch in der Hand hielt. Wenn sich dann langsam die Deckel öffneten, wurde in chaldäischen Lettern der Satz sichtbar: "Bleib auf deinem Weg und wanke nicht." –

Und heute endlich, endlich nach so langem fruchtlosen Grübeln hatte Hlavata Ohrringle gefunden, und die verbergende Hülle des Geheimnisses war vor den Augen seiner Seele geborsten – so wie die Schale einer Nuß zerspringt, wenn Hitze auf sie wirkt. –

Eine Stelle in einem der Traktate, die er bisher übersehen, weil sie gleich anfangs in der Vorrede stand, gab genauen Aufschluß: die Flüssigkeit war ein sogenanntes alchemystisches Partikular. Also doch – ein alchemystisches Partikular! Aber die Eigenschaften der Flüssigkeit waren kurios und anscheinend so wertlos nach modernen Begriffen! Ein Tropfen zwischen zwei Metallspitzen gebracht, nehme nach wenigen Minuten eine mathematisch absolut genaue Kugelform an. – Interessant – sehr interessant, daß es also einen Stoff gab, aus dem sich in praxi eine solch absolut genaue Form bilden ließ; – aber was weiter, das konnte doch unmöglich alles sein?

Es war auch nicht alles, und Hlavata Ohrringle, der ein Bücherwurm von Gottes Gnaden war, fand gar bald in einem zweiten Folianten den wundersamen Wert beschrieben. Wäre es möglich, hieß es dort ungefähr – eine in geometrischem Sinne korrekte Kugelrundung herzustellen – so würden sich Dinge darin sehen lassen, die jeden in höchstes Erstaunen versetzen müßten. Das ganze astrale Weltall – jenes geistige Weltall, das dem unsrigen zugrunde liegt, wie der Handlung die Absicht, wie der Tat der Entschluß – könne sogar darin wahrgenommen werden, wenn auch zuweilen nur in symbolischer Form. Ein Kugelauge schaue eben nach allen erdenklichen Seiten hin bis in die entferntesten Tiefen des Weltalls und ordne nach uns unerkennbaren Gesetzen der Oberflächenspannung alle Spiegelbilder über- und nebeneinander.

Hlavata Ohrringle hatte alles vorbereitet, die Metallnadeln in einen Halter geschraubt, dazwischen den Tropfen mit unsäglicher Mühe angebracht und konnte jetzt den Tagesanbruch kaum erwarten, um im Morgenlichte das Experiment zu beginnen. Ungeduldig schritt er auf und nieder oder warf sich in den Lehnstuhl, dann sah er wieder auf die Uhr: Erst viertel Fünf, Himmelsakra!

Er blätterte im Kalender, wann eigentlich die Sonne aufgehe. Gerade heute ein Marientag – und Marientage sind so bedeutsam.

Endlich schien es ihm hell genug; er nahm sein Vergrößerungsglas und betrachtete den Tropfen, der glitzernd zwischen den silbernen Nadelspitzen hing. –

Anfangs sah er nur die Spiegelbilder der Dinge, die sein Zimmer füllten, den Schreibtisch mit der gesternten Decke und den umhergestreuten Büchern, die weiße Kugel der Lampe und am Fensterriegel den alten Talar – auch einen kleinen Fleck rötlichen Himmels, wie er durch die Scheiben schimmerte. Aber bald überzog ein dunkles Grün die Oberfläche des Tropfens und verschlang alle diese Reflexe. – Gegenden bildeten sich aus Basaltfelsen, gähnenden Grotten und Höhlen – phantastisch langgezogenes Gestrüpp lauerte wie zum Schlag ausholend, und fremdartiges Baumkraut breitete durchsichtig glasgrüne Segelblätter aus.

Selbstleuchtend die ganze Landschaft – eine Szene der Tiefsee.

Ein länglich weißer Fleck trat hervor und wurde immer deutlicher und plastischer: eine Wasserleiche, ein nacktes Weib mit dem Kopf nach abwärts, die Füße an adernartiges Geflecht gefesselt, hing in dem grünen Wasser.

Plötzlich löste sich ein farbloser Klumpen mit gestielten Augen und scheußlichem fadenumwachsenen Maule aus den Felsenschatten und schoß auf das Weib zu. Blitzartig folgte ihm ein zweiter.

So rasch hatte das erste Ungeheuer der Leiche den Leib aufgerissen und war selbst von dem anderen gespießt worden, daß Hlavata Ohrringle gar nicht mit den Augen folgen konnte. Vor Erregung stieß er einen Seufzer aus und beugte sich noch tiefer über seine Lupe. Doch sein Atem hatte das Bild bereits getrübt und alsbald zerrann es gänzlich. Keine Mühe, kein geduldiges Warten nützte, die Szene kehrte nicht zurück; und der Tropfen spiegelte nur die blendende Sonne wieder, die sich über den Dunst der rauchigen Häusergiebel hob.

II
 
Hlavata Ohrringle war mit sorgenschwerer Miene von einem Vororte zurückgekehrt und sammelte seine Gedanken. Er hatte dort einen alten Rosenkreuzer, einen gewissen Eckstein, aufgesucht und um Rat gefragt. –

Eckstein, nachdem er lange zugehört, war in die Worte ausgebrochen: "Dies ist ein Mysterium von unerhörter Tiefe. Ich war nämlich der allererste, der den Querschnitt solcher Wahrnehmungen in den Schriften des Kabbalisten Rabbi Gikatilla, natürlich in verborgener Form, wieder fand. Was Basilius Valentin in seinem Traktate 'der Triumphwagen des Antimonii', Seite 712, darüber sagt, ist lediglich symbolisch oder analogisch, das heißt nur dem faßlich, dessen Seele in die Tiefe der Gottheit herabgetaucht ist." – Und wenn sich Hlavata Ohrringle für Visionen in glänzenden Gegenständen interessiere, so sei am geeignetsten dazu eine japanische Kristallkugel. Wohl befänden sich augenblicklich alle, die bisher nach Europa gekommen, in den Händen eines finsteren schwarzen Magiers namens Fahlendien, in Wien. – Die genaueste Auskunft über das gesehene Bild könne aber jedenfalls ein in Berlin lebender irrsinniger Maler namens Christophe geben – wenn er wolle.

All das konnte Ohrringle natürlich nicht genügen, und er machte Tag um Tag neue Experimente mit der Flüssigkeit. Seine Versuche blieben in der Stadt kein Geheimnis und bildeten das Tagesgespräch. Lächerlich – so hieß es – lächerlich das ganze; wie könne man in einem Kugelspiegel alle Dinge sehen. Die meisten Dinge lägen doch im Weltraume hintereinander, und eines mache dadurch das andere unsichtbar.

Das schien allen sehr einleuchtend, und um so erstaunter war man, als man in einer auswärtigen Zeitung die ganz entgegengesetzte Meinung eines englischen Forschers las, – die dahin ging, daß es theoretisch gar wohl möglich sei, sogar durch Mauern und verschlossene Kasten hindurch zu sehen; man möge doch nur an die Röntgenstrahlen denken – gegen welche z. B. bloß Bleiplatten Schutz gewährten.

Jeder Gegenstand auf der Welt sei im Grunde genommen doch nichts anderes, so zu sagen, als ein feines Sieb aus wirbelnden Atomen gebildet, und wenn man die richtige Strahlenart fände, gäbe es eben auch kein Hindernis für seine Durchleuchtung.

Dieser Zeitungsartikel rief besonders in behördlichen Kreisen Erregung hervor. – Ganz eigentümliche "Reservaterlässe" sickerten ins Publikum: – von den Diplomaten seien z. B. Befehle an die Attachés ergangen, daß sämtliche Akten – augenblicklich in Bleikassetten zu versperren seien; es werde ferner eine gründliche Reorganisation auch der Provinzpolizei ins Auge gefaßt, – ja man sei zur Hebung der "Geheimpolizei" bereits mit Rußland in Verbindung getreten, um von dort eine Menge Bluthunde – im Tausche gegen überzählige Schweinehunde des Inlandes – einzuführen; – und dergleichen mehr.

Natürlich wurde Hlavata Ohrringle streng überwacht, – um so strenger, je zufriedener er auf seinen Spaziergängen aussah; und als er eines Tages mit geradezu strahlender Miene auf der Esplanade erschien, – beschloß man behördlicherseits, auf das rücksichtsloseste vorzugehen, zumal man gar wohl in Erfahrung gebracht, – daß er immer nur lächle, wenn von Diplomaten die Rede sei, ja sogar einmal – befragt, was er von der Kunst der Diplomatie halte – geantwortet habe: kein Schwindel könne sich auf die Dauer halten.

Und eines Tages – es war wieder ein Marientag – wurde Hlavata Ohrringle – gerade als er bei seinem geheimnisvollen Tropfen saß – verhaftet und unter der Anschuldigung des mehrfachen Muttermordes in Gewahrsam gesteckt.

Die seltsame Flüssigkeit aber wurde eingezogen und zur Prüfung den Gerichtschemikern überwiesen.
Man kann darüber nur hoch erfreut sein, denn fraglos muß jetzt die Wahrheit über die Diplomaten voll und ganz ans Tageslicht kommen.

– Ehüm – ans Tageslicht kommen. –

(Aus der 1913 erschienenen Novellensammlung 'Des deutschen Spießers Wunderhorn')

ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1868-1932)

Sonntag, 18. Januar 2015

Paul Ehrenfest: Zur Krise der Lichtäther-Hypothese

Hochverehrte Anwesende!

Gestatten Sie mir über eine Krise zu sprechen, die gegenwärtig eine fundamentale Hypothese der Physik – die Ätherhypothese – schwer bedroht. Diese Krise gibt, wie mir scheint, ein lebendiges Bild von der eigentümlich revolutionären Stimmung, die augenblicklich die theoretische Physik beherrscht.

Um anschaulich sprechen zu können, will ich von einem fiktiven Experiment ausgehen, das ich weiterhin immer kurz „Kugelexperiment“ nennen werde. Dieses fiktive Experiment ist so gewählt, daß die Züge, auf die es uns ankommt, möglichst grell hervortreten.

Entschuldigen Sie bitte, wenn eben deshalb unsere Konstruktion etwas phantastisch ausfällt.

Nehmen wir also an, wir hätten eine riesige Hohlkugel vor uns. Viel größer als die Erde, viel größer als die Erdbahn. So groß, daß ein Lichtstrahl zirka zwei Stunden brauchen würde, um sie quer zu durchlaufen. Genau im Mittelpunkt der Hohlkugel sitze ein Experimentator. Die Kugel soll ruhig vor uns liegen. Der Experimentator möge folgendes Experiment machen: er läßt eine sehr helle Lampe einen Augenblick lang aufleuchten und wartet, was er nun weiter sieht. Zunächst sieht er einen Augenblick lang die Lampe. Dann ist es finster – zwei Stunden lang. Denn eine Stunde läuft das Licht vom Zentrum nach der Innenwand der Hohlkugel hinaus und von ihr reflektiert braucht es wieder eine Stunde, um zum Experimentator zurückzukommen. Und jetzt erst sieht der Experimentator die ganze Innenwand der Kugel gleichzeitig einen Moment lang aufleuchten. Dann ist es wieder dunkel. – Nun sei uns noch eine zweite, genau ebensolche Hohlkugel gegeben. Und wieder sitze genau im Mittelpunkt der Kugel ein Experimentator. Diese zweite Kugel soll aber nun nicht mehr vor uns ruhen, sondern soll mit einer enormen Geschwindigkeit vor uns laufen, z. B. mit dem zehnten Teil der Lichtgeschwindigkeit. Den Experimentator möge sie mit sich führen. Dieser zweite Experimentator soll nun genau ebenso wie der erste auch eine helle Lampe einen Augenblick lang aufleuchten lassen und ebenfalls beobachten, was er weiterhin sieht. Wir fragen: Sieht der Experimentator in der laufenden Kugel auch die ganze Kugelfläche in ein und demselben Augenblick aufleuchten oder sieht er etwas anderes? Auf diese Frage würden die Physiker zu verschiedenen Zeiten verschieden geantwortet haben.

Newton würde auf Grund seiner Emissionstheorie des Lichtes sagen: Der Experimentator in der laufenden Kugel muß genau dasselbe sehen, wie der Experimentator in der ruhenden Kugel. Denn die Aussendung des Lichtes aus der Lampe und die Reflexion an der Innenwand der Hohlkugel ist ein rein mechanischer Vorgang, nach Art eines Ballspieles: Die Lampe wirft Lichtkörperchen durch den leeren Raum zur Wand und von der Wand springen sie elastisch wieder zur Lampe zurück. Der Verlauf eines solchen Ballspieles bleibt aber natürlich derselbe, gleichgültig, ob es in einem vor uns ruhenden oder in einem vor uns gleichförmig laufenden Zimmer stattfindet.

Fresnel – einer der Begründer der modernen Lichttheorie – würde sagen: Nein, der Experimentator in der laufenden Kugel sieht etwas ganz anderes als der in der ruhenden Kugel! Er sieht folgendes: Zunächst sieht er die Lampe, dann ist es zirka zwei Stunden lang finster, dann aber sieht er zunächst den Äquator der Kugel aufleuchten (so heiße derjenige größte Kreis der Kugel, der auf der Bewegungsrichtung der Kugel senkrecht steht), nachher leuchten zwei Breitenkreise auf, die symmetrisch zum Äquator liegen. Diese Breitenkreise rücken symmetrisch gegen die Pole. Zuletzt leuchten noch gleichzeitig die beiden Pole der Kugel auf, und dann ist es wieder finster.

Wieso kommt Fresnel zu dieser merkwürdigen Behauptung?

Fresnel hat die folgende Hypothese über die Natur der Lichtfortpflanzung: Der ganze Weltraum ist von einem Äther erfüllt, der etwa relativ zu den Fixsternen ruht. Die Körper bewegen sich frei durch diesen Äther, ohne ihn mit sich zu reißen. Wenn eine Lampe Licht aussendet, so bedeutet das, daß sie jenem Äther irgendwelche Zustandsstörungen mitteilt; diese Zustandsstörungen pflanzen sich dann im Äther nach allen Richtungen hin fort; etwa so, wie sich ein Stoß in einem elastischen Stab fortpflanzt.

Angenommen, die Hohlkugel steht mit ihrem Experimentator relativ zum Äther fest. Die Lichterregung bildet dann eine Kugelwelle, die symmetrisch um den Mittelpunkt der Hohlkugel auseinander läuft; in einem bestimmten Moment trifft sie auf die Innenwand der Hohlkugel und zieht sich dann wieder symmetrisch nach dem Mittelpunkt der Hohlkugel zusammen.

Ganz anders liegen die Verhältnisse bei der zweiten Kugel, die zusammen mit ihrem Experimentator so enorm rasch durch den feststehenden Äther läuft. Der Experimentator befindet sich hier in einer ähnlichen Situation, wie wenn er auf einer Brücke stünde, unter der ein mächtiger Strom gleichmäßig dahinfließt; gerade ebenso strömt ja durch sein rasch laufendes Kugel-Laboratorium der feststehende Äther. – Was geschieht aber, wenn man von der Brücke aus einen Stein in den Strom fallen läßt? Es breiten sich auf der Wasseroberfläche Kreiswellen aus, die der Strom mit sich schleppt. Ebenso breitet sich der Lichtblitz der Lampe im Äther als Kugelwelle aus und ebenso wird diese Kugelwelle von dem Ätherwind verweht, der durch das Kugel-Laboratorium bläst. Hier verläuft also die Ausbreitung und Reflexion der Lichtwelle nicht mehr so symmetrisch um das Zentrum der Hohlkugel. Aber eine ganz elementare Rechnung genügt, um auch hier festzustellen, welche Teile der Lichtwelle früher zum Experimentator zurückkehren und welche später. Und man findet so das Ergebnis, das wir oben formuliert haben. Nämlich, daß der Experimentator in der laufenden Hohlkugel zuerst den Äquator aufleuchten sieht, dann die Breitenkreise und ganz zuletzt die beiden Pole. Das also ist die Prognose, die man auf Grund der Fresnel’schen Hypothese eines feststehenden Äthers machen würde.

Stokes nimmt an, daß die Körper den in ihnen befindlichen Lichtäther bei ihrer Bewegung mit sich schleppen. Wenn aber das laufende Kugel-Laboratorium seinen Äther mit sich führt, dann ist ohne weiteres klar, daß der Experimentator in der laufenden Kugel genau dasselbe beobachten muß, wie der Experimentator in der ruhenden Kugel.

Zusammenfassend sehen wir also:

Newtons Emissionstheorie und Stokes’ Theorie vom mitbewegten Äther sagen übereinstimmend: Der Experimentator in der laufenden Kugel beobachtet exakt dasselbe wie der Experimentator in der ruhenden Kugel.

Fresnels Theorie vom feststehenden Äther behauptet hingegen: Nein, er sieht ein ganz bestimmtes anderes Bild.

Welcher Prognose sollen wir Glauben schenken? Wie steht es denn überhaupt mit der Glaubwürdigkeit dieser drei verschiedenen Lichttheorien?

Was zunächst die Newton’sche Emissionstheorie betrifft, so ist ja folgendes von ihr allgemein bekannt: Während des ganzen 18. Jahrhunderts herrschte sie unumschränkt. Im Beginn des 19. Jahrhunderts wird sie dann plötzlich durch die Äthertheorie vollständig verdrängt. Es waren bekanntlich sehr gewichtige Gründe, die die Physiker veranlaßt haben, so plötzlich und radikal die Emissionstheorie fallen zu lassen. Wir können diese Gründe an dieser Stelle nicht besprechen.

Die Äthertheorie hingegen gewann allmählich eine geradezu beherrschende Stellung innerhalb der gesamten Physik. Insbesondere seit die Arbeiten von Maxwell und Hertz mit voller Evidenz gezeigt hatten, daß die optischen Erscheinungen nichts anderes sind als ein Spezialfall von elektromagnetischen Erscheinungen: daß die Lichtwellen nichts anderes sind als sehr kurze elektrische Wellen. Denn damit war der Lichtäther zugleich der Träger aller elektromagnetischen Erscheinungen überhaupt geworden.

Innerhalb der Äthertheorie bleiben aber noch fast bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zwei konkurrierende Auffassungen nebeneinander bestehen. Steht der Äther fest oder schleppt jeder Körper den in ihm befindlichen Äther mit sich? Wir wollen von jetzt ab für diese beiden konkurrierenden Theorien abkürzend folgende Bezeichnungen gebrauchen: Theorie des feststehenden Äthers, Theorie des mitbewegten Äthers.

Den Kampf zwischen diesen beiden Theorien und den schließlichen Sieg der Theorie vom feststehenden Äther müssen wir wenigstens mit einigen Schlagworten schildern.

Die Hypothese vom mitbewegten Äther wurde im Gebiet der optischen Erscheinungen besonders durch Stokes vertreten. Speziell nahm also Stokes auch an, daß die Erde bei ihrer Bewegung um die Sonne ihren Äther mit sich schleppt, geradeso wie sie ihre Luftatmosphäre mit sich führt. Hertz übertrug dann im Jahre 1890 die Hypothese des mitbewegten Äthers von der Optik auf die Theorie aller elektromagnetischen Erscheinungen überhaupt.

Die Hypothese vom feststehenden Äther wurde im Gebiete der optischen Erscheinungen besonders durch Fresnel vertreten. Nach ihm soll dann also die Erde bei ihrem Lauf um die Sonne durch den feststehenden Äther hindurchgleiten. Lorentz übertrug – ebenfalls in den neunziger Jahren – die Hypothese des feststehenden Äthers von den optischen Erscheinungen auf alle elektromagnetischen überhaupt.

Was waren die entscheidenden Momente für den Sieg, den der feststehende Äther der Fresnel-Lorentz’schen Theorie über den mitbeweglichen Äther der Stokes-Hertz’schen Theorie errang?

1. Lorentz bewies: Die von den Astronomen gemessene Aberration des Sternlichtes läßt sich nicht mit der Annahme von Stokes in Einklang bringen, daß die Erde ihre Ätherhülle mit sich führt. Hingegen läßt sie sich quantitativ richtig erklären, wenn man mit Fresnel annimmt, daß die Erde durch den feststehenden Äther gleitet.

2. Fizeau hatte experimentell festgestellt, daß die Lichtgeschwindigkeit in strömendem Wasser größer ist als in ruhendem Wasser; und zwar um einen ganz bestimmten Bruchteil der Strömungsgeschwindigkeit des Wassers. Es ist ein überaus bedeutsamer Erfolg der Lorentz’schen Theorie, daß sie dieses experimentelle Resultat in durchsichtiger Weise und quantitativ richtig erklären konnte. Die Hypothese vom mitbewegten Äther hingegen steht in unzweideutigem Widerspruch mit dem, was Fizeau fand; denn sie würde verlangen, daß die Lichtgeschwindigkeit im strömenden Wasser um den vollen Betrag der Strömungsgeschwindigkeit vergrößert ist.

3. Zu einem Zeitpunkt, wo übrigens der Sieg der Lorentz’schen Theorie schon durch ihre vielseitigen anderen Erfolge entschieden war, brachte ihr noch ein Experiment des russischen Physikers Eichenwald eine merkwürdig schöne Bestätigung. Läßt man einen elektrisierten Körper sehr rasch rotieren, so wirkt er auf eine Magnetnadel wie ein Magnet. Eichenwald wählte nun eine spezielle Anordnung, bei der die Lorentz’sche Theorie eine andere Größe für die magnetische Kraft erfordert als die Hertz’sche. Auch hier wieder entschied das Experiment scharf zugunsten des feststehenden und zu ungunsten des mitbewegten Äthers.

Kehren wir nun wieder zu unserem „Kugelexperiment“ zurück und erinnern wir uns an die Prognosen, die die drei Lichttheorien aufgestellt hatten. Die Newton’sche Emissionstheorie und die Stokes-Hertzsche Theorie vom mitbewegten Äther hatten übereinstimmend gesagt: Der Experimentator in der laufenden Kugel sieht genau dasselbe wie der Experimentator in der ruhenden Kugel. Können wir aber der Prognose dieser beiden Theorien noch Glauben schenken, nachdem sie beide von den Physikern aufgegeben worden sind? – Doch wohl nein. – Was sagt aber die siegreiche Hypothese vom feststehenden Äther? Sie verlangt, wie wir früher gesehen haben, daß der Experimentator in der laufenden Kugel – wegen des Ätherwindes, der seine Kugel durchströmt – etwas ganz anderes sieht, als der Experimentator in der ruhenden Kugel. Und das also ist es, was wir wohl erwarten müssten.

Unser Kugelexperiment ist offenbar nichts anderes als die groteske Übertreibung eines faktisch ausgeführten Experimentes: des berühmten Versuches von Michelson.

Michelson arbeitet mit einem Apparat von nur wenigen Metern Größe, und sein Apparat läuft nicht mit einem Zehntel, sondern nur mit einem Zehntausendstel der Geschwindigkeit des Lichtes durch den Äther; nämlich mit unserer Erde zusammen, die ja gerade mit dieser Geschwindigkeit um die Sonne läuft.

Wegen dieser weitaus ungünstigeren Verhältnisse mußte Michelson natürlich auch unendlich viel empfindlichere Meßmittel benützen, als wir in unserem „Kugelexperiment“. Das Prinzip aber bleibt dasselbe.

Wir dürfen also wohl zur Bequemlichkeit so sprechen, als habe Michelson direkt unser „Kugelexperiment“ ausgeführt. Was fand er? Fand er wirklich, daß die Pole später aufleuchten als der Äquator, wie es die Hypothese des feststehenden Äthers verlangt? – Seine Anordnung war weitaus empfindlich genug, um die berechnete Verspätung zu konstatieren, falls sie existierte.

Sie wissen, daß Michelson keine Spur dieser erwarteten Verspätung fand. Und bekanntlich hat man später noch andere – teils elektrische, teils optische – Experimente angestellt, um den Ätherwind zu konstatieren, der in unseren Laboratorien herrschen muß, wenn sich wirklich unsere Erde durch einen feststehenden Äther hindurchbewegt. – Sie wissen, daß alle diese Ätherwind-Experimente immer wieder ein prägnant-negatives Resultat lieferten. Immer wieder konnte man keine Spur von jenem Ätherwind entdecken. Und doch soll er mit einer Geschwindigkeit, die rund tausendmal größer ist, als die eines D-Trains, durch unsere Laboratorien – und auch durch diesen Saal hindurchbrausen!

Wie reagierten die Physiker auf das gemeinsame negative Resultat aller Ätherwind-Experimente? Wie stellten sie sich nun zur Ätherhypothese?

Ich will versuchen, die wichtigsten Standpunkte einander gegenüberzustellen. Verzeihen Sie, wenn ich dabei manches sehr Bekannte wiederholen muß.

Wir besprechen zunächst den Standpunkt von Lorentz in seiner Arbeit von 1904, ohne leider auf die stufenweise Entwicklung dieses Standpunktes eingehen zu können.

Die Hypothese vom feststehenden Äther sowie auch die andern Grund-Hypothesen der älteren Theorie von Lorentz werden in dieser 1904-Arbeit beibehalten. Deshalb geht auch keiner von den Erfolgen verloren, die jener älteren Lorentz’schen Theorie zu ihrem Sieg über die konkurrierenden Theorien verholfen hatten.

Neu ist in der 1904-Arbeit die systematische Verwertung zweier formell sehr einfacher Hypothesen. Nämlich darüber, wie sich infolge einer Bewegung durch den Äther
  1. die Kräfte zwischen den Molekülen,
  2. die geometrische Gestalt der Elektronen ändern.
Merkwürdigerweise beseitigen diese beiden Hypothesen absolut restlos den Widerspruch, der zwischen der Hypothese vom feststehenden Äther und dem prägnant-negativen Resultat aller Ätherwind-Experimente bestanden hatte. Dieser Widerspruch verschwand nun vollkommen. Denn ausgehend von jenen Grundannahmen gewinnt die 1904-Arbeit rein deduktiv für eine sehr umfassende Klasse von Experimenten den folgenden Satz: Angenommen, ein Laboratorium laufe mit beliebig großer Geschwindigkeit durch den Äther (nur nicht rascher als das Licht selbst). Wenn dann ein Experimentator in diesem Laboratorium ein Experiment ausführt, so beobachtet er genau denselben Verlauf des Experimentes, als er beobachten würde, falls sein Laboratorium relativ zum Äther ruhig stünde. – Gestatten Sie, diesen Satz weiterhin kurz als „1904 Theorem“ zu bezeichnen.

Es empfiehlt sich, dieses Theorem in seiner Anwendung auf ganz spezielle Fälle durchzudenken. Man überblickt dann in einem zusammenhängenden Bild, wieso es dank jener Hypothesen wirklich gelingt, vor dem Experimentator den Ätherwind zu verbergen.

Gestatten Sie, in einigen grellen Strichen das Bild zu skizzieren, das sich so ergibt: Der Ätherwind stört den Ablauf der Prozesse, mit denen der Experimentator operiert; derselbe Ätherwind verdirbt aber auch – wenn wir uns so ausdrücken dürfen – die Meßinstrumente des Experimentators: er deformiert die Maßstäbe, verändert den Gang der Uhren und die Federkraft in den Federwagen usw. Für alles das sorgen jene Grundhypothesen, insbesondere auch die Hypothese, daß die Bewegung durch den Äther die Anziehungskräfte zwischen den Molekülen verändert. Und wenn nun der Experimentator die durch den Ätherwind gestörten Prozesse mit seinen Instrumenten beobachtet, die derselbe Ätherwind verdorben hat, dann sieht er exakt das, was der ruhende Beobachter an den ungestörten Prozessen mit den unverdorbenen Instrumenten beobachtet.

Es ist erstaunlich, daß sich dieses Resultat für eine sehr umfangreiche Klasse von Experimenten aus so wenigen Grundannahmen streng beweisen ließ. Es ist wunderbar, daß es überhaupt gelungen ist, eine derartige Schlußkette lückenlos durchzuführen. Es wäre unbescheiden, wenn ich die besondere Methode, durch die Herr Lorentz diese Aufgabe bewältigt hat, durch irgend ein Epitheton [= Beiwort] bewerten wollte.

Speziell für unser „Kugelexperiment“ kann man sich den Inhalt des 1904-Theorems leicht plausibel machen. Auf Grund der Hypothese vom feststehenden Äther hatten wir erwartet, daß der Experimentator in der laufenden Kugel die Pole der Kugel später aufleuchten sieht als den Äquator; denn der Ätherwind verweht die Lichtwelle, die die Lampe aussendet. Auf Grund der Hypothese aber, daß der Ätherwind die Molekularkräfte stört, berechnen wir, daß der Ätherwind die große Kugel deformiert hat, – wie wir sie auch drehen, immer ist sie in der Richtung der Bewegung abgeplattet: die Pole liegen also näher am Zentrum als der Äquator, und zwar genau um so viel, daß der Experimentator nun doch die Pole exakt gleichzeitig mit dem Äquator aufleuchten sieht. Gerade so, wie das für den Experimentator in der ruhenden Kugel der Fall war.

Die Grundhypothesen der 1904-Arbeit sorgen dafür, daß auch bei allen anderen Ätherwindexperimenten immer wieder die Wirkung des Ätherwindes vor dem Experimentator verborgen bleibt.

Sie sehen: die 1904-Arbeit von Lorentz zeigt einen möglichen Ausweg aus der Krise, in die die Ätherhypothese geraten war.

Aber nicht alle Physiker glaubten sich mit dieser Lösung der Krise zufrieden geben zu können.

Wir kommen damit an die beiden Standpunkte heran, die Einstein im Jahre 1905 und Ritz im Jahre 1908 publizierten. Leider müssen wir uns versagen, im Rahmen dieser Rede eine Besprechung dieser Standpunkte zu versuchen. Wir begnügen uns, jene Züge in ihnen hervorzuheben, die ihre Stellung innerhalb der Ätherkrise markieren.

Das negative Ergebnis aller Ätherwind-Experimente führt beide Autoren zur Überzeugung, daß es überhaupt keinen Äther gibt. Der Raum zwischen den Körpern sei leer. Die Elektronen der Körper werfen einander durch diesen leeren Raum hindurch die elektromagnetischen Impulse und das Licht zu. Kurz, beide Autoren betonen, daß im Gegensatz zur Äthertheorie von Lorentz ihre Theorien wieder an die Emissionstheorie von Newton anknüpfen.

Trotz dieser Gemeinsamkeit bleibt ein tiefer Gegensatz zwischen dem Standpunkt von Einstein und dem von Ritz. Wir erkennen ihn am besten an Hand der folgenden Fragestellung:

Es möge eine Lichtquelle A vor uns ruhen, eine zweite Lichtquelle B möge mit großer Geschwindigkeit auf uns zulaufen. Wir lassen die Lichtstrahlen beider Lichtquellen durch ein leeres Rohr gehen, das vor uns ruht, und messen, ob beide Lichtstrahlen gleich rasch das Rohr durchlaufen oder nicht. Was soll sich ergeben? Die Äthertheorie von Lorentz verlangt: „Gleich rasch“ mit der Begründung: Weil das Licht beider Lichtquellen sich in ein und demselben Äther fortpflanzt.

Die ätherlose Emissionstheorie von Ritz verlangt: Die auf uns zulaufende Lichtquelle wirft ihr Licht mit größerer Geschwindigkeit durchs Rohr als die vor uns ruhende Lichtquelle. Begründung: Die Lichtquellen werfen ihr Licht so in den Raum hinaus wie eine zerplatzende Bombe ihre Splitter auswirft. Eine auf uns zulaufende Bombe wirft aber natürlich ihre Splitter mit größerer Geschwindigkeit durchs Rohr als eine Bombe, die – ruhig vor uns liegend – zerplatzt.

Die ätherlose Emissionstheorie von Einstein schließlich verlangt: „Gleich rasch“. Begründung? Wird keine versucht. Einstein stellt diese Aussage vielmehr als Postulat an die Spitze seiner Theorie. Nämlich als das „Postulat von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit“.

Wir sehen also, daß hier die ätherlose Theorie von Einstein genau dasselbe verlangt, wie die Äthertheorie von Lorentz. Auf diesem Umstand beruht dann auch, daß nach der Einsteinschen Theorie ein Beobachter an irgend welchen vor ihm laufenden Maßstäben, Uhren usw. exakt dieselben Kontraktionen, Gangänderungen usw. beobachten muß, wie nach der Lorentzschen Theorie. Und hier sei gleich allgemein bemerkt: Ganz prinzipiell gibt es kein experimentum crucis zwischen diesen beiden Theorien.

Die Ritzsche Theorie hingegen ist frei von jenen Kontraktionen der starren Körper, Gangänderungen der Uhren usw., eben weil sie die (aus der Äthertheorie stammende) Behauptung von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit verwirft und durch diejenige Behauptung ersetzt, die der Newtonschen Emissionstheorie entspricht. Auch lassen sich dann experimenta crucis angeben, die zwischen dem Standpunkt von Ritz einerseits und dem von Lorentz und Einstein anderseits entscheiden würden. Ein solches experimentum crucis würde vor allem das früher erwähnte Experiment mit den beiden Lichtquellen sein.

Dieses Experiment ist nicht ausgeführt, weil es eine Meßgenauigkeit erfordert, die wir mit unseren gegenwärtigen Hilfsmitteln noch nicht erreichen können.

Stellen wir uns aber einen Augenblick vor, es gelänge heute oder morgen, dieses momentan noch utopische Experiment zu bewältigen. Und zwar möge sich – horrible dictu [= schrecklich zu sagen!] – das von Ritz geforderte Ergebnis einstellen: Das wäre ein böser Schlag für die Ätherhypothese. In diesem Moment würden wir dann gerne zugeben, daß das Licht durch den leeren Raum geworfen wird. Wir wären damit eben überhaupt auf den Standpunkt der Ritzschen Theorie gelangt.

Aber beachten Sie bitte, daß man etwas ganz anderes von uns verlangt, wenn man uns auffordert, auf die Einsteinsche Weise den Äther zu leugnen! Denn dann verlangt man von uns, daß wir die folgenden drei Formeln unterschreiben:

1. Die Lichtquellen werfen uns die Lichtsignale als selbständige Gebilde durch den leeren Raum zu.
2. An den Lichtstrahlen einer Quelle, die auf uns zuläuft und einer anderen Quelle, die vor uns ruht, würden wir bei tatsächlicher Messung dieselbe Geschwindigkeit beobachten.
3. Wir erklären, daß uns die Kombination dieser beiden Aussagen befriedigt!!

Hochverehrte Zuhörer!

Absichtlich vermeide ich es, durch irgendwelche zusammenfassenden Thesen eine Vermutung über den zukünftigen Ausgang der Ätherkrise aufzustellen. Es kam mir nur darauf an, diese Krise zu exponieren und dabei die Überzeugung durchklingen zu lassen, daß wir eine völlig befriedigende Lösung dieser Krise noch nicht besitzen.

Ein Fragenkomplex, der für das weitere Schicksal der Ätherhypothese vielleicht geradezu die entscheidende Rolle übernehmen wird – wir meinen das wirre Knäuel von Problemen, das man jetzt gewöhnlich durch das Schlagwort „Lichtquanten“ markiert – dieser Fragenkomplex konnte hier nicht berührt werden, denn er ist noch nicht genügend geklärt. Wir mußten uns auf jene Gesichtspunkte beschränken, die durch das negative Ergebnis aller Ätherwindexperimente geliefert wurden. Da aber war es für eine genügend vielseitige Beleuchtung der Situation notwendig, den voll ausgegliederten Bauten der Theorien von Lorentz und Einstein auch die skizzenhaften Ansätze von Ritz an die Seite zu stellen. Der Tod hat Ritz verhindert, seine Gedanken weiter auszugestalten, und wir wissen nicht, wie er selbst die Schwierigkeiten bewältigt hätte, auf die wir stoßen, sobald wir die Lücken seiner Arbeit auszufüllen versuchen.

Jedenfalls verdient derjenige Gesichtspunkt unsere Beachtung, von dem Ritz sich hauptsächlich leiten ließ: Er bahnte eine Theorie an, die alle die Kontraktionen und anderen Funktionsstörungen bewegter Meßinstrumente vermeidet, welche für die Theorien von Lorentz und Einstein so charakteristisch sind.

(Rede von 1912 bei Antritt des Lehramts an der Reichsuniversität zu Leiden)

ZUM GEBURTSTAG DES PHYSIKERS

Über den Autor (1880-1933)