Hochverehrte Anwesende!
Gestatten Sie mir über eine Krise zu sprechen, die gegenwärtig eine
fundamentale Hypothese der Physik – die Ätherhypothese – schwer bedroht.
Diese Krise gibt, wie mir scheint, ein lebendiges Bild von der
eigentümlich revolutionären Stimmung, die augenblicklich die
theoretische Physik beherrscht.
Um anschaulich sprechen zu können, will ich von einem fiktiven
Experiment ausgehen, das ich weiterhin immer kurz „Kugelexperiment“
nennen werde. Dieses fiktive Experiment ist so gewählt, daß die Züge,
auf die es uns ankommt, möglichst grell hervortreten.
Entschuldigen Sie bitte, wenn eben deshalb unsere Konstruktion etwas phantastisch ausfällt.
Nehmen wir also an, wir hätten eine riesige Hohlkugel vor uns. Viel
größer als die Erde, viel größer als die Erdbahn. So groß, daß ein
Lichtstrahl zirka zwei Stunden brauchen würde, um sie quer zu
durchlaufen. Genau im Mittelpunkt der Hohlkugel sitze ein
Experimentator. Die Kugel soll ruhig vor uns liegen. Der Experimentator
möge folgendes Experiment machen: er läßt eine sehr helle Lampe einen
Augenblick lang aufleuchten und wartet, was er nun weiter sieht.
Zunächst
sieht
er einen Augenblick lang die Lampe. Dann ist es finster – zwei Stunden
lang. Denn eine Stunde läuft das Licht vom Zentrum nach der Innenwand
der Hohlkugel hinaus und von ihr reflektiert braucht es wieder eine
Stunde, um zum Experimentator zurückzukommen. Und jetzt erst sieht der
Experimentator die ganze Innenwand der Kugel gleichzeitig einen Moment
lang aufleuchten. Dann ist es wieder dunkel. – Nun sei uns noch eine
zweite, genau ebensolche Hohlkugel gegeben. Und wieder sitze genau im
Mittelpunkt der Kugel ein Experimentator. Diese zweite Kugel soll aber
nun nicht mehr vor uns ruhen, sondern soll mit einer enormen
Geschwindigkeit vor uns laufen, z. B. mit dem zehnten Teil der
Lichtgeschwindigkeit. Den Experimentator möge sie mit sich führen.
Dieser zweite Experimentator soll nun genau ebenso wie der erste auch
eine helle Lampe einen Augenblick lang aufleuchten lassen und ebenfalls
beobachten, was er weiterhin sieht. Wir fragen: Sieht der Experimentator
in der laufenden Kugel auch die ganze Kugelfläche in ein und demselben
Augenblick aufleuchten oder sieht er etwas anderes? Auf diese Frage
würden die Physiker zu verschiedenen Zeiten verschieden geantwortet
haben.
Newton würde auf Grund seiner Emissionstheorie des Lichtes
sagen: Der Experimentator in der laufenden Kugel muß genau dasselbe
sehen, wie der Experimentator in der ruhenden Kugel. Denn die Aussendung
des Lichtes aus der Lampe und die Reflexion an der
Innenwand
der Hohlkugel ist ein rein mechanischer Vorgang, nach Art eines
Ballspieles: Die Lampe wirft Lichtkörperchen durch den leeren Raum zur
Wand und von der Wand springen sie elastisch wieder zur Lampe zurück.
Der Verlauf eines solchen Ballspieles bleibt aber natürlich derselbe,
gleichgültig, ob es in einem vor uns ruhenden oder in einem vor uns
gleichförmig laufenden Zimmer stattfindet.
Fresnel – einer der Begründer der modernen Lichttheorie –
würde sagen: Nein, der Experimentator in der laufenden Kugel sieht etwas
ganz anderes als der in der ruhenden Kugel! Er sieht folgendes:
Zunächst sieht er die Lampe, dann ist es zirka zwei Stunden lang
finster, dann aber sieht er zunächst den Äquator der Kugel aufleuchten
(so heiße derjenige größte Kreis der Kugel, der auf der
Bewegungsrichtung der Kugel senkrecht steht), nachher leuchten zwei
Breitenkreise auf, die symmetrisch zum Äquator liegen. Diese
Breitenkreise rücken symmetrisch gegen die Pole. Zuletzt leuchten noch
gleichzeitig die beiden Pole der Kugel auf, und dann ist es wieder
finster.
Wieso kommt
Fresnel zu dieser merkwürdigen Behauptung?
Fresnel hat die folgende Hypothese über die Natur der
Lichtfortpflanzung: Der ganze Weltraum ist von einem Äther erfüllt, der
etwa relativ zu den Fixsternen ruht. Die Körper bewegen sich frei durch
diesen Äther, ohne ihn mit sich zu reißen. Wenn eine Lampe Licht
aussendet, so bedeutet das, daß sie jenem
Äther
irgendwelche Zustandsstörungen mitteilt; diese Zustandsstörungen
pflanzen sich dann im Äther nach allen Richtungen hin fort; etwa so, wie
sich ein Stoß in einem elastischen Stab fortpflanzt.
Angenommen, die Hohlkugel steht mit ihrem Experimentator relativ zum
Äther fest. Die Lichterregung bildet dann eine Kugelwelle, die
symmetrisch um den Mittelpunkt der Hohlkugel auseinander läuft; in einem
bestimmten Moment trifft sie auf die Innenwand der Hohlkugel und zieht
sich dann wieder symmetrisch nach dem Mittelpunkt der Hohlkugel
zusammen.
Ganz anders liegen die Verhältnisse bei der zweiten Kugel, die
zusammen mit ihrem Experimentator so enorm rasch durch den feststehenden
Äther läuft. Der Experimentator befindet sich hier in einer ähnlichen
Situation, wie wenn er auf einer Brücke stünde, unter der ein mächtiger
Strom gleichmäßig dahinfließt; gerade ebenso strömt ja durch sein rasch
laufendes Kugel-Laboratorium der feststehende Äther. – Was geschieht
aber, wenn man von der Brücke aus einen Stein in den Strom fallen läßt?
Es breiten sich auf der Wasseroberfläche Kreiswellen aus, die der Strom
mit sich schleppt. Ebenso breitet sich der Lichtblitz der Lampe im Äther
als Kugelwelle aus und ebenso wird diese Kugelwelle von dem Ätherwind
verweht, der durch das Kugel-Laboratorium bläst. Hier verläuft also die
Ausbreitung und Reflexion der Lichtwelle nicht mehr so symmetrisch um
das Zentrum der Hohlkugel. Aber eine ganz elementare Rechnung genügt, um
auch
hier
festzustellen, welche Teile der Lichtwelle früher zum Experimentator
zurückkehren und welche später. Und man findet so das Ergebnis, das wir
oben formuliert haben. Nämlich, daß der Experimentator in der laufenden
Hohlkugel zuerst den Äquator aufleuchten sieht, dann die Breitenkreise
und ganz zuletzt die beiden Pole. Das also ist die Prognose, die man auf
Grund der
Fresnel’schen Hypothese eines feststehenden Äthers machen würde.
Stokes nimmt an, daß die Körper den in ihnen befindlichen
Lichtäther bei ihrer Bewegung mit sich schleppen. Wenn aber das laufende
Kugel-Laboratorium seinen Äther mit sich führt, dann ist ohne weiteres
klar, daß der Experimentator in der laufenden Kugel genau dasselbe
beobachten muß, wie der Experimentator in der ruhenden Kugel.
Zusammenfassend sehen wir also:
Newtons Emissionstheorie und Stokes’ Theorie vom mitbewegten Äther
sagen übereinstimmend: Der Experimentator in der laufenden Kugel
beobachtet exakt dasselbe wie der Experimentator in der ruhenden Kugel.
Fresnels Theorie vom feststehenden Äther behauptet hingegen: Nein, er sieht ein ganz bestimmtes anderes Bild.
Welcher Prognose sollen wir Glauben schenken? Wie steht es denn
überhaupt mit der Glaubwürdigkeit dieser drei verschiedenen
Lichttheorien?
Was zunächst die
Newton’sche
Emissionstheorie betrifft, so ist ja folgendes von ihr allgemein
bekannt: Während des ganzen 18. Jahrhunderts herrschte sie unumschränkt.
Im Beginn des 19. Jahrhunderts wird sie dann plötzlich durch die
Äthertheorie
vollständig verdrängt. Es waren bekanntlich sehr gewichtige Gründe, die
die Physiker veranlaßt haben, so plötzlich und radikal die
Emissionstheorie fallen zu lassen. Wir können diese Gründe an dieser
Stelle nicht besprechen.
Die
Äthertheorie hingegen gewann allmählich eine geradezu
beherrschende Stellung innerhalb der gesamten Physik. Insbesondere seit
die Arbeiten von
Maxwell und
Hertz mit voller Evidenz
gezeigt hatten, daß die optischen Erscheinungen nichts anderes sind als
ein Spezialfall von elektromagnetischen Erscheinungen: daß die
Lichtwellen nichts anderes sind als sehr kurze elektrische Wellen. Denn
damit war der Lichtäther zugleich der Träger aller elektromagnetischen
Erscheinungen überhaupt geworden.
Innerhalb der Äthertheorie bleiben aber noch fast bis zum Ende des
19. Jahrhunderts zwei konkurrierende Auffassungen nebeneinander
bestehen. Steht der Äther fest oder schleppt jeder Körper den in ihm
befindlichen Äther mit sich? Wir wollen von jetzt ab für diese beiden
konkurrierenden Theorien abkürzend folgende Bezeichnungen gebrauchen:
Theorie des
feststehenden Äthers, Theorie des
mitbewegten Äthers.
Den Kampf zwischen diesen beiden Theorien und den schließlichen Sieg der Theorie vom
feststehenden Äther müssen wir wenigstens mit einigen Schlagworten schildern.
Die Hypothese vom
mitbewegten Äther wurde im Gebiet der optischen Erscheinungen besonders durch
Stokes vertreten. Speziell nahm also
Stokes
auch an, daß die Erde bei ihrer Bewegung um die Sonne ihren Äther mit
sich schleppt, geradeso wie sie ihre Luftatmosphäre mit sich führt.
Hertz
übertrug dann im Jahre 1890 die Hypothese des mitbewegten Äthers von
der Optik auf die Theorie aller elektromagnetischen Erscheinungen
überhaupt.
Die Hypothese vom
feststehenden Äther wurde im Gebiete der optischen Erscheinungen besonders durch
Fresnel vertreten. Nach ihm soll dann also die Erde bei ihrem Lauf um die Sonne durch den feststehenden Äther hindurchgleiten.
Lorentz
übertrug – ebenfalls in den neunziger Jahren – die Hypothese des
feststehenden Äthers von den optischen Erscheinungen auf alle
elektromagnetischen überhaupt.
Was waren die entscheidenden Momente für den Sieg, den der
feststehende Äther der
Fresnel-Lorentz’schen Theorie über den
mitbeweglichen Äther der
Stokes-Hertz’schen Theorie errang?
1.
Lorentz bewies: Die von den Astronomen gemessene Aberration des Sternlichtes läßt sich nicht mit der Annahme von
Stokes in Einklang bringen, daß die Erde ihre Ätherhülle mit sich führt. Hingegen läßt
sie sich quantitativ richtig erklären, wenn man mit
Fresnel annimmt, daß die Erde durch den feststehenden Äther gleitet.
2.
Fizeau hatte experimentell festgestellt, daß die Lichtgeschwindigkeit in
strömendem Wasser
größer ist als in
ruhendem
Wasser; und zwar um einen ganz bestimmten Bruchteil der
Strömungsgeschwindigkeit des Wassers. Es ist ein überaus bedeutsamer
Erfolg der
Lorentz’schen Theorie, daß sie dieses experimentelle
Resultat in durchsichtiger Weise und quantitativ richtig erklären
konnte. Die Hypothese vom
mitbewegten Äther hingegen steht in unzweideutigem Widerspruch mit dem, was
Fizeau
fand; denn sie würde verlangen, daß die Lichtgeschwindigkeit im
strömenden Wasser um den vollen Betrag der Strömungsgeschwindigkeit
vergrößert ist.
3. Zu einem Zeitpunkt, wo übrigens der Sieg der
Lorentz’schen
Theorie schon durch ihre vielseitigen anderen Erfolge entschieden war,
brachte ihr noch ein Experiment des russischen Physikers
Eichenwald
eine merkwürdig schöne Bestätigung. Läßt man einen elektrisierten
Körper sehr rasch rotieren, so wirkt er auf eine Magnetnadel wie ein
Magnet.
Eichenwald wählte nun eine spezielle Anordnung, bei der die
Lorentz’sche Theorie eine andere Größe für die magnetische Kraft erfordert als die
Hertz’sche. Auch hier wieder entschied das Experiment scharf zugunsten des feststehenden und zu ungunsten des mitbewegten Äthers.
Kehren
wir nun wieder zu unserem „Kugelexperiment“ zurück und erinnern wir uns
an die Prognosen, die die drei Lichttheorien aufgestellt hatten. Die
Newton’sche Emissionstheorie und die
Stokes-Hertzsche
Theorie vom mitbewegten Äther hatten übereinstimmend gesagt: Der
Experimentator in der laufenden Kugel sieht genau dasselbe wie der
Experimentator in der ruhenden Kugel. Können wir aber der Prognose
dieser beiden Theorien noch Glauben schenken, nachdem sie beide von den
Physikern aufgegeben worden sind? – Doch wohl nein. – Was sagt aber die
siegreiche Hypothese vom
feststehenden Äther? Sie verlangt, wie wir früher gesehen haben, daß der Experimentator in der
laufenden
Kugel – wegen des Ätherwindes, der seine Kugel durchströmt – etwas ganz
anderes sieht, als der Experimentator in der ruhenden Kugel. Und das
also ist es, was wir wohl erwarten müssten.
Unser Kugelexperiment ist offenbar nichts anderes als die groteske
Übertreibung eines faktisch ausgeführten Experimentes: des berühmten
Versuches von
Michelson.
Michelson arbeitet mit einem Apparat von nur wenigen Metern Größe, und sein Apparat läuft nicht mit einem
Zehntel, sondern nur mit einem
Zehntausendstel
der Geschwindigkeit des Lichtes durch den Äther; nämlich mit unserer
Erde zusammen, die ja gerade mit dieser Geschwindigkeit um die Sonne
läuft.
Wegen dieser weitaus ungünstigeren Verhältnisse
mußte
Michelson natürlich auch unendlich viel empfindlichere Meßmittel benützen, als wir in unserem „Kugelexperiment“. Das
Prinzip aber bleibt dasselbe.
Wir dürfen also wohl zur Bequemlichkeit so sprechen, als habe
Michelson
direkt unser „Kugelexperiment“ ausgeführt. Was fand er? Fand er
wirklich, daß die Pole später aufleuchten als der Äquator, wie es die
Hypothese des feststehenden Äthers verlangt? – Seine Anordnung war
weitaus empfindlich genug, um die berechnete Verspätung zu konstatieren,
falls sie existierte.
Sie wissen, daß
Michelson keine Spur dieser erwarteten
Verspätung fand. Und bekanntlich hat man später noch andere – teils
elektrische, teils optische – Experimente angestellt, um den Ätherwind
zu konstatieren, der in unseren Laboratorien herrschen muß, wenn sich
wirklich unsere Erde durch einen feststehenden Äther hindurchbewegt. –
Sie wissen, daß alle diese Ätherwind-Experimente immer wieder ein
prägnant-negatives Resultat lieferten. Immer wieder konnte man keine
Spur von jenem Ätherwind entdecken. Und doch soll er mit einer
Geschwindigkeit, die rund tausendmal größer ist, als die eines D-Trains,
durch unsere Laboratorien – und auch durch diesen Saal hindurchbrausen!
Wie reagierten die Physiker auf das gemeinsame negative Resultat
aller Ätherwind-Experimente? Wie stellten sie sich nun zur
Ätherhypothese?
Ich will versuchen, die wichtigsten Standpunkte
einander gegenüberzustellen. Verzeihen Sie, wenn ich dabei manches sehr Bekannte wiederholen muß.
Wir besprechen zunächst den
Standpunkt von Lorentz in seiner Arbeit von 1904, ohne leider auf die stufenweise Entwicklung dieses Standpunktes eingehen zu können.
Die Hypothese vom feststehenden Äther sowie auch die andern Grund-Hypothesen der älteren Theorie von
Lorentz werden in dieser 1904-Arbeit beibehalten. Deshalb geht auch keiner von den Erfolgen verloren, die jener älteren
Lorentz’schen Theorie zu ihrem Sieg über die konkurrierenden Theorien verholfen hatten.
Neu ist in der 1904-Arbeit die systematische Verwertung zweier
formell sehr einfacher Hypothesen. Nämlich darüber, wie sich infolge
einer Bewegung durch den Äther
- die Kräfte zwischen den Molekülen,
- die geometrische Gestalt der Elektronen ändern.
Merkwürdigerweise beseitigen diese beiden Hypothesen absolut restlos
den Widerspruch, der zwischen der Hypothese vom feststehenden Äther und
dem prägnant-negativen Resultat aller Ätherwind-Experimente bestanden
hatte. Dieser Widerspruch verschwand nun vollkommen. Denn ausgehend von
jenen Grundannahmen gewinnt die 1904-Arbeit rein deduktiv für eine sehr
umfassende Klasse von Experimenten den folgenden Satz: Angenommen, ein
Laboratorium laufe mit beliebig großer Geschwindigkeit durch den Äther
(nur
nicht rascher als das Licht selbst). Wenn dann ein Experimentator in
diesem Laboratorium ein Experiment ausführt, so beobachtet er genau
denselben Verlauf des Experimentes, als er beobachten würde, falls sein
Laboratorium relativ zum Äther ruhig stünde. – Gestatten Sie, diesen
Satz weiterhin kurz als „1904 Theorem“ zu bezeichnen.
Es empfiehlt sich, dieses Theorem in seiner Anwendung auf ganz
spezielle Fälle durchzudenken. Man überblickt dann in einem
zusammenhängenden Bild, wieso es dank jener Hypothesen wirklich gelingt,
vor dem Experimentator den Ätherwind zu verbergen.
Gestatten Sie, in einigen grellen Strichen das Bild zu skizzieren,
das sich so ergibt: Der Ätherwind stört den Ablauf der Prozesse, mit
denen der Experimentator operiert; derselbe Ätherwind verdirbt aber auch – wenn wir uns so ausdrücken dürfen – die Meßinstrumente des
Experimentators: er deformiert die Maßstäbe, verändert den Gang der
Uhren und die Federkraft in den Federwagen usw. Für alles das sorgen
jene Grundhypothesen, insbesondere auch die Hypothese, daß die Bewegung
durch den Äther die Anziehungskräfte zwischen den Molekülen verändert.
Und wenn nun der Experimentator die durch den Ätherwind gestörten
Prozesse mit seinen Instrumenten beobachtet, die derselbe Ätherwind
verdorben hat, dann sieht er exakt das, was der ruhende Beobachter an
den ungestörten Prozessen mit den unverdorbenen Instrumenten beobachtet.
Es
ist erstaunlich, daß sich dieses Resultat für eine sehr umfangreiche
Klasse von Experimenten aus so wenigen Grundannahmen streng beweisen
ließ. Es ist wunderbar, daß es überhaupt gelungen ist, eine derartige
Schlußkette lückenlos durchzuführen. Es wäre unbescheiden, wenn ich die
besondere Methode, durch die Herr
Lorentz diese Aufgabe bewältigt hat, durch irgend ein Epitheton [= Beiwort] bewerten wollte.
Speziell für unser „Kugelexperiment“ kann man sich den Inhalt des
1904-Theorems leicht plausibel machen. Auf Grund der Hypothese vom
feststehenden Äther hatten wir erwartet, daß der Experimentator in der
laufenden Kugel die Pole der Kugel
später aufleuchten sieht als
den Äquator; denn der Ätherwind verweht die Lichtwelle, die die Lampe
aussendet. Auf Grund der Hypothese aber, daß der Ätherwind die
Molekularkräfte stört, berechnen wir, daß der Ätherwind die große Kugel
deformiert hat, – wie wir sie auch drehen, immer ist sie in der Richtung
der Bewegung abgeplattet: die Pole liegen also näher am Zentrum als der
Äquator, und zwar genau um so viel, daß der Experimentator nun doch die
Pole exakt gleichzeitig mit dem Äquator aufleuchten sieht. Gerade so,
wie das für den Experimentator in der ruhenden Kugel der Fall war.
Die Grundhypothesen der 1904-Arbeit sorgen dafür, daß auch bei allen
anderen Ätherwindexperimenten immer wieder die Wirkung des Ätherwindes
vor dem Experimentator verborgen bleibt.
Sie sehen: die 1904-Arbeit von
Lorentz zeigt
einen möglichen Ausweg aus der Krise, in die die Ätherhypothese geraten war.
Aber nicht alle Physiker glaubten sich mit
dieser Lösung der Krise zufrieden geben zu können.
Wir kommen damit an die beiden Standpunkte heran, die
Einstein im Jahre 1905 und
Ritz im Jahre 1908 publizierten. Leider müssen wir uns versagen, im Rahmen dieser Rede eine
Besprechung dieser Standpunkte zu versuchen. Wir begnügen uns,
jene Züge in ihnen hervorzuheben, die ihre Stellung innerhalb der Ätherkrise markieren.
Das negative Ergebnis aller Ätherwind-Experimente führt beide Autoren zur Überzeugung,
daß es überhaupt keinen Äther gibt.
Der Raum zwischen den Körpern sei leer. Die Elektronen der Körper
werfen einander durch diesen leeren Raum hindurch die
elektromagnetischen Impulse und das Licht zu. Kurz, beide Autoren
betonen, daß im Gegensatz zur Äthertheorie von
Lorentz ihre Theorien wieder an die Emissionstheorie von
Newton anknüpfen.
Trotz dieser Gemeinsamkeit bleibt ein tiefer Gegensatz zwischen dem Standpunkt von
Einstein und dem von
Ritz. Wir erkennen ihn am besten an Hand der folgenden Fragestellung:
Es möge eine Lichtquelle A vor uns ruhen, eine zweite Lichtquelle B
möge mit großer Geschwindigkeit auf uns zulaufen. Wir lassen die
Lichtstrahlen beider Lichtquellen durch ein leeres Rohr gehen, das vor
uns ruht, und messen, ob beide Lichtstrahlen gleich rasch
das Rohr durchlaufen oder nicht. Was soll sich ergeben? Die Äthertheorie von
Lorentz verlangt: „Gleich rasch“ mit der Begründung: Weil das Licht beider Lichtquellen sich in ein und demselben Äther fortpflanzt.
Die ätherlose Emissionstheorie von
Ritz verlangt: Die auf uns
zulaufende Lichtquelle wirft ihr Licht mit größerer Geschwindigkeit
durchs Rohr als die vor uns ruhende Lichtquelle. Begründung: Die
Lichtquellen werfen ihr Licht so in den Raum hinaus wie eine
zerplatzende Bombe ihre Splitter auswirft. Eine auf uns zulaufende Bombe
wirft aber natürlich ihre Splitter mit größerer Geschwindigkeit durchs
Rohr als eine Bombe, die – ruhig vor uns liegend – zerplatzt.
Die ätherlose Emissionstheorie von
Einstein schließlich verlangt: „Gleich rasch“. Begründung? Wird keine versucht.
Einstein stellt diese Aussage vielmehr als Postulat an die Spitze seiner Theorie. Nämlich als das „
Postulat von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit“.
Wir sehen also, daß hier die ätherlose Theorie von
Einstein genau dasselbe verlangt, wie die Äthertheorie von
Lorentz. Auf diesem Umstand beruht dann auch, daß nach der
Einsteinschen
Theorie ein Beobachter an irgend welchen vor ihm laufenden Maßstäben,
Uhren usw. exakt dieselben Kontraktionen, Gangänderungen usw. beobachten
muß, wie nach der
Lorentzschen Theorie. Und hier sei gleich
allgemein bemerkt: Ganz prinzipiell gibt es kein experimentum crucis
zwischen diesen beiden Theorien.
Die
Ritzsche
Theorie hingegen ist frei von jenen Kontraktionen der starren Körper,
Gangänderungen der Uhren usw., eben weil sie die (aus der Äthertheorie
stammende) Behauptung von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit verwirft
und durch diejenige Behauptung ersetzt, die der
Newtonschen
Emissionstheorie entspricht. Auch lassen sich dann experimenta crucis
angeben, die zwischen dem Standpunkt von Ritz einerseits und dem von
Lorentz und
Einstein
anderseits entscheiden würden. Ein solches experimentum crucis würde
vor allem das früher erwähnte Experiment mit den beiden Lichtquellen
sein.
Dieses Experiment ist nicht ausgeführt, weil es eine Meßgenauigkeit
erfordert, die wir mit unseren gegenwärtigen Hilfsmitteln noch nicht
erreichen können.
Stellen wir uns aber einen Augenblick vor, es gelänge heute oder
morgen, dieses momentan noch utopische Experiment zu bewältigen.
Und zwar möge sich – horrible dictu [= schrecklich zu sagen!] – das von
Ritz
geforderte Ergebnis einstellen: Das wäre ein böser Schlag für die
Ätherhypothese. In diesem Moment würden wir dann gerne zugeben, daß das
Licht durch den leeren Raum geworfen wird. Wir wären damit eben
überhaupt auf den Standpunkt der
Ritzschen Theorie gelangt.
Aber beachten Sie bitte, daß man etwas
ganz anderes von uns verlangt, wenn man uns auffordert,
auf die
Einsteinsche Weise den Äther zu leugnen! Denn dann verlangt man von uns, daß wir die folgenden drei Formeln unterschreiben:
1. Die Lichtquellen werfen uns die Lichtsignale als selbständige Gebilde durch den leeren Raum zu.
2. An den Lichtstrahlen einer Quelle, die auf uns zuläuft und einer
anderen Quelle, die vor uns ruht, würden wir bei tatsächlicher Messung
dieselbe Geschwindigkeit beobachten.
3. Wir erklären, daß uns die Kombination dieser beiden Aussagen befriedigt!!
Hochverehrte Zuhörer!
Absichtlich vermeide ich es, durch irgendwelche zusammenfassenden
Thesen eine Vermutung über den zukünftigen Ausgang der Ätherkrise
aufzustellen. Es kam mir nur darauf an, diese Krise zu exponieren und
dabei die Überzeugung durchklingen zu lassen,
daß wir eine völlig
befriedigende Lösung dieser Krise noch nicht besitzen.
Ein Fragenkomplex, der für das weitere Schicksal der Ätherhypothese
vielleicht geradezu die entscheidende Rolle übernehmen wird – wir meinen
das wirre Knäuel von Problemen, das man jetzt gewöhnlich durch das
Schlagwort „
Lichtquanten“ markiert – dieser Fragenkomplex konnte
hier nicht berührt werden, denn er ist noch nicht genügend geklärt. Wir
mußten uns auf jene Gesichtspunkte beschränken, die durch
das
negative Ergebnis aller Ätherwindexperimente geliefert wurden. Da aber
war es für eine genügend vielseitige Beleuchtung der Situation
notwendig, den voll ausgegliederten Bauten der Theorien von
Lorentz und
Einstein auch die skizzenhaften Ansätze von
Ritz an die Seite zu stellen. Der Tod hat
Ritz
verhindert, seine Gedanken weiter auszugestalten, und wir wissen nicht,
wie er selbst die Schwierigkeiten bewältigt hätte, auf die wir stoßen,
sobald wir die Lücken seiner Arbeit auszufüllen versuchen.
Jedenfalls verdient
derjenige Gesichtspunkt unsere Beachtung, von dem
Ritz
sich hauptsächlich leiten ließ: Er bahnte eine Theorie an, die alle die
Kontraktionen und anderen Funktionsstörungen bewegter Meßinstrumente
vermeidet, welche für die Theorien von
Lorentz und
Einstein so charakteristisch sind.
(
Rede von 1912 bei Antritt des Lehramts an der Reichsuniversität zu Leiden)
ZUM GEBURTSTAG DES PHYSIKERS
Über den Autor (1880-1933)