Wer heute die Frage aufnimmt, ob das menschliche Leben einen Sinn und
Wert hat, der kann nicht zweifelhaft darüber sein, daß es hier nicht
einen vorhandenen Besitz zu beschreiben, sondern eine Aufgabe zu
bezeichnen gilt, eine Aufgabe, die für uns nicht gelöst ist, auf deren
Lösung sich aber unmöglich verzichten läßt. Daß der heutige Lebensstand
uns hier keine sichere und freudige Bejahung zuführt, das wird genauer
zu zeigen sein; daß wir das Suchen danach nicht einstellen können, ist
ohne viel Erörterung klar. Das Leben stellt uns Menschen unter
mannigfache Eindrücke und Aufgaben, sie bilden nicht unmittelbar eine
Einheit, es hebt sich nicht leicht und sicher aus ihrer Fülle ein
leitendes Ziel hervor. Dabei ist das Leben keineswegs eitel Freude und
Genuß, es kostet Mühe und Arbeit, es fordert Entsagung und Opfer; die
Frage erwacht, ob sich solche Mühe und Arbeit auch lohne, ob der Gewinn
des Ganzen alle Gefahren und Verluste im einzelnen aufwiege und eine
Bejahung rechtfertige. Das ist kein Problem der bloßen Theorie; das
Leben selbst kann seine Höhe erst erreichen, wenn es sich eines
bedeutenden Gesamtzieles
sicher weiß, und wenn von da aus Spannung und Lust in jede einzelne Betätigung strömt.
Nun gibt es Zeiten, wo die Frage schlummert, weil Überlieferung
und Gemeinschaft dem Streben eine sichere Richtung geben und keinerlei
Zweifel an den dargebotenen Zielen aufkommen lassen. Erwacht aber einmal
der Zweifel, ein Zweifel über das Ganze, so greift er leicht wie ein
verheerendes Feuer um sich, die Frage verwickelt sich um so mehr, je
mehr wir über sie grübeln; wir finden uns an der Grenze unseres
Vermögens, wenn wir erwiesen haben möchten, daß unser Leben bei aller
Verworrenheit des ersten Anblicks schließlich einen Sinn und Wert
besitzt und sich von da aus zuversichtlich bejahen läßt. Unter der Macht
solches Zweifels steht unsere eigne Zeit. Ihre Schwäche an dieser
Stelle verrät schon der Umstand, daß sie inmitten staunenswerter
Leistungen und unaufhörlicher Fortschritte kein rechtes Glücksgefühl in
sich trägt, daß der Mensch als Ganzes sich keineswegs sicher und
geborgen weiß, daß er sich selbst herabzusetzen und von seiner Stellung
im All gering zu denken geneigt ist. Bei näherem Zusehen finden wir viel
Streben nach Einheit des Lebens, aber wir finden zugleich, daß dies
Streben sich bei sich selbst bis zu vollem Gegensatze entzweit:
grundverschiedene Synthesen und Typen des Lebens bieten sich dar und
umwerben den Menschen. Aber indem keine von ihnen siegreich und sicher
die anderen bewältigt, spalten widerstreitende Wirkungen und Schätzungen
die Menschheit; was dem einen ein hohes Gut, das dünkt dem andern ein
lästiges Übel, und der eine weiß nicht hart genug zu verdammen, was den
andern entzückt
und
begeistert. So ergibt sich bei überströmendem Reichtum im Einzelnen eine
peinliche Armut im Ganzen, auch ein völliges Unsicherwerden über das
Ziel und die Art unseres Weges. Solche Lage treibt zwingend die Frage
hervor, ob sich gegenüber aller Verdunklung, Verwirrung, Verneinung ein
Sinn und Wert des Lebens erringen lasse, ob alle Widersprüche
schließlich einer Einheit weichen, die das Ja dem Nein überlegen macht.
Die Frage kann keine Antwort finden, ohne daß sich das Leben in
ein Ganzes faßt; erst eine solche Zusammenfassung ermöglicht ein Urteil
darüber, ob es lebenswert ist. Aber wie erreichen wir solche Verbindung
zum Ganzen? Wohl drängt zu ihr unser Begehren nach Glück, das
Glücksverlangen eines denkenden Wesens, das nicht völlig in die
einzelnen Augenblicke aufgehen kann, das nach einem umfassenden Ziele
fragen muß. Aber mit allem Wünschen und Wollen, mit aller Aufregung und
Leidenschaft erreicht der Mensch einen solchen Abschluß nicht
unmittelbar im eignen Bereiche. Er ist in die große Welt verwickelt und
an ihr Geschehen gebunden, er muß sich mit ihr auseinandersetzen und
einen Ausgleich suchen, er muß das eigne Unternehmen an ihrem Bestande
prüfen, er kann auf keinem Glücke bestehen, das der Wahrheit der Dinge
und der Wahrheit seiner eignen Natur widerspricht. Wird sich nun wohl
zusammenfinden, was er an Glück begehrt, und was von ihm die Wahrheit
fordert? Es muß eine solche Vereinbarkeit von Glück und Wahrheit hoffen,
wer einen Sinn und Wert des Lebens erstrebt; aber ob sich die Hoffnung
erfüllt, das ist eine andere Frage. Jedenfalls verbleibt und
treibt das
Problem, kein Einzelner hat es bereitet, es steigt aus dem innersten
Wesen der Zeit empor, die weltgeschichtliche Lage legt es uns mit
Notwendigkeit auf. Daß aber dies Problem der Menschheit zugleich eine
Aufgabe der Philosophie bedeutet, das kann nur bezweifeln, wer von
dieser niedrig denkt.
(Einleitung des 1908 erschienenen Werks)
ZUM GEBURTSTAG DES PHILOSOPHEN
Über den Autor (1846-1926)
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