Wenn uns die Beantwortung eines mathematischen Problems nicht gelingen
will, so liegt häufig der Grund darin, daß wir noch nicht den
allgemeineren Gesichtspunkt erkannt haben, von dem aus das vorgelegte
Problem nur als einzelnes Glied einer Kette verwandter Probleme
erscheint. Nach Auffindung dieses Gesichtspunktes wird häufig nicht
nur das vorgelegte Problem unserer Erforschung zugänglicher, sondern
wir gelangen so zugleich in den Besitz einer Methode, die auf die
verwandten Probleme anwendbar ist. Als Beispiel diene die
Einführung complexer Integrationswege in der Theorie der bestimmten
Integrale durch Cauchy und die Aufstellung des Idealbegriffes in der
Zahlentheorie durch Kummer. Dieser Weg zur Auffindung allgemeiner
Methoden ist gewiß der gangbarste und sicherste; denn wer, ohne
ein bestimmtes Problem vor Auge zu haben, nach Methoden sucht, dessen
Suchen ist meist vergeblich.
Eine noch wichtigere Rolle als das Verallgemeinern spielt - wie ich
glaube - bei der Beschäftigung mit mathematischen Problemen das
Specialisiren. Vielleicht in den meisten Fällen, wo wir die
Antwort auf eine Frage vergeblich suchen, liegt die Ursache des
Mißlingens darin, daß wir einfachere und leichtere
Probleme als das vorgelegte noch nicht oder noch unvollkommen erledigt
haben. Es kommt dann Alles darauf an, diese leichteren Probleme
aufzufinden und ihre Lösung mit möglichst vollkommenen
Hilfsmitteln und durch verallgemeinerungsfähige Begriffe zu
bewerkstelligen. Diese Vorschrift ist einer der wichtigsten Hebel zur
Ueberwindung mathematischer Schwierigkeiten und es scheint mir,
daß man sich dieses Hebels meistens - wenn auch unbewußt -
bedient.
Mitunter kommt es vor, daß wir die Beantwortung unter
ungenügenden Voraussetzungen oder in unrichtigem Sinne erstreben und
in Folge dessen nicht zum Ziele gelangen. Es entsteht dann die
Aufgabe, die Unmöglichkeit der Lösung des Problems unter den
gegebenen Voraussetzungen und in dem verlangten Sinne nachzuweisen.
Solche Unmöglichkeitsbeweise wurden schon von den Alten geführt,
indem sie z. B. zeigten, daß die Hypotenuse eines
gleichschenkligen rechtwinkligen Dreiecks zur Kathete in einem
irrationalen Verhältnisse steht. In der neueren Mathematik spielt
die Frage nach der Unmöglichkeit gewisser Lösungen eine
hervorragende Rolle und wir nehmen so gewahr, daß alte schwierige
Probleme wie der Beweis des Parallelenaxioms, die Quadratur des
Kreises oder die Auflösung der Gleichungen 5ten Grades durch
Wurzelziehen, wenn auch in anderem als dem ursprünglich gemeinten
Sinne, dennoch eine völlig befriedigende und strenge Lösung
gefunden haben.
Diese merkwürdige Thatsache neben anderen philosophischen
Gründen ist es wohl, welche in uns eine Ueberzeugung entstehen
läßt, die jeder Mathematiker gewiß teilt, die aber
bis jetzt wenigstens niemand durch Beweise gestutzt hat - ich meine
die Ueberzeugung, daß ein jedes bestimmte mathematische Problem
einer strengen Erledigung notwendig fähig sein müsse, sei
es, daß es gelingt, die Beantwortung der gestellten Frage zu
geben, sei es, daß die Unmöglichkeit seiner Lösung und
damit die Notwendigkeit des Mißlingens aller Versuche dargethan
wird. Man lege sich irgend ein bestimmtes ungelöstes Problem
vor, etwa die Frage nach der Irrationalität der
Euler-Mascheronischen Constanten C oder die Frage, ob es
unendlich viele Primzahlen von der Form n+1
giebt. So unzugänglich diese Probleme uns erscheinen und so
ratlos wir zur Zeit ihnen gegenüber stehen - wir haben dennoch
die sichere Ueberzeugung, daß ihre Lösung durch eine
endliche Anzahl rein logischer Schlüsse gelingen muß.
Ist dieses Axiom von der Lösbarkeit eines jeden Problems eine dem
mathematischen Denken allein charakteristische Eigentümlichkeit,
oder ist es vielleicht ein allgemeines dem inneren Wesen unseres
Verstandes anhaftendes Gesetz, daß alle Fragen, die er stellt,
auch durch ihn einer Beantwortung fähig sind? Trifft man doch
auch in anderen Wissenschaften alte Probleme an, die durch den Beweis
der Unmöglichkeit in der befriedigendsten Weise und zum
höchsten Nutzen der Wissenschaft erledigt worden sind. Ich
erinnere an das Problem des Perpetuum mobile. Nach den vergeblichen
Versuchen der Construktion eines Perpetuum mobile forschte man
vielmehr nach den Beziehungen, die zwischen den Naturkräften
bestehen müssen, wenn ein Perpetuum mobile unmöglich sein
soll (Vgl. Helmholtz, Ueber die Wechselwirkung der
Naturkräfte und die darauf bezüglichen neuesten
Ermittelungen der Physik. Vortrag, gehalten in Königsberg 1854),
und diese umgekehrte Fragestellung führte auf die Entdeckung des
Gesetzes von der Erhaltung der Energie, das seinerseits die
Unmöglichkeit des Perpetuum mobile in dem ursprünglich,
verlangten Sinne erklärt. Diese Ueberzeugung von der
Lösbarkeit eines jeden mathematischen Problems ist uns ein
kräftiger Ansporn während der Arbeit; wir hören in uns
den steten Zuruf: Da ist das Problem, suche die Lösung. Du
kannst sie durch reines Denken finden; denn in der Mathematik giebt
es kein Ignorabimus!
Unermeßlich ist die Fülle von Problemen in der Mathematik, und
sobald ein Problem gelöst ist, tauchen an dessen Stelle zahllose
neue Probleme auf. Gestatten Sie mir im Folgenden, gleichsam zur
Probe, aus verschiedenen mathematischen Disciplinen einzelne bestimmte
Probleme zu nennen, von deren Behandlung eine Förderung der
Wissenschaft sich erwarten läßt.
(Aus der am 8. August 1900 gehaltenen Rede auf dem internationalen Mathematikerkongress in Paris)
ZUM GEBURTSTAG DES MATHEMATIKERS
Über den Autor (1862-1943)
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