Freitag, 23. Januar 2015

David Hilbert: Mathematische Probleme

Wenn uns die Beantwortung eines mathematischen Problems nicht gelingen will, so liegt häufig der Grund darin, daß wir noch nicht den allgemeineren Gesichtspunkt erkannt haben, von dem aus das vorgelegte Problem nur als einzelnes Glied einer Kette verwandter Probleme erscheint. Nach Auffindung dieses Gesichtspunktes wird häufig nicht nur das vorgelegte Problem unserer Erforschung zugänglicher, sondern wir gelangen so zugleich in den Besitz einer Methode, die auf die verwandten Probleme anwendbar ist. Als Beispiel diene die Einführung complexer Integrationswege in der Theorie der bestimmten Integrale durch Cauchy und die Aufstellung des Idealbegriffes in der Zahlentheorie durch Kummer. Dieser Weg zur Auffindung allgemeiner Methoden ist gewiß der gangbarste und sicherste; denn wer, ohne ein bestimmtes Problem vor Auge zu haben, nach Methoden sucht, dessen Suchen ist meist vergeblich.

Eine noch wichtigere Rolle als das Verallgemeinern spielt - wie ich glaube - bei der Beschäftigung mit mathematischen Problemen das Specialisiren. Vielleicht in den meisten Fällen, wo wir die Antwort auf eine Frage vergeblich suchen, liegt die Ursache des Mißlingens darin, daß wir einfachere und leichtere Probleme als das vorgelegte noch nicht oder noch unvollkommen erledigt haben. Es kommt dann Alles darauf an, diese leichteren Probleme aufzufinden und ihre Lösung mit möglichst vollkommenen Hilfsmitteln und durch verallgemeinerungsfähige Begriffe zu bewerkstelligen. Diese Vorschrift ist einer der wichtigsten Hebel zur Ueberwindung mathematischer Schwierigkeiten und es scheint mir, daß man sich dieses Hebels meistens - wenn auch unbewußt - bedient.

Mitunter kommt es vor, daß wir die Beantwortung unter ungenügenden Voraussetzungen oder in unrichtigem Sinne erstreben und in Folge dessen nicht zum Ziele gelangen. Es entsteht dann die Aufgabe, die Unmöglichkeit der Lösung des Problems unter den gegebenen Voraussetzungen und in dem verlangten Sinne nachzuweisen. Solche Unmöglichkeitsbeweise wurden schon von den Alten geführt, indem sie z. B. zeigten, daß die Hypotenuse eines gleichschenkligen rechtwinkligen Dreiecks zur Kathete in einem irrationalen Verhältnisse steht. In der neueren Mathematik spielt die Frage nach der Unmöglichkeit gewisser Lösungen eine hervorragende Rolle und wir nehmen so gewahr, daß alte schwierige Probleme wie der Beweis des Parallelenaxioms, die Quadratur des Kreises oder die Auflösung der Gleichungen 5ten Grades durch Wurzelziehen, wenn auch in anderem als dem ursprünglich gemeinten Sinne, dennoch eine völlig befriedigende und strenge Lösung gefunden haben.

Diese merkwürdige Thatsache neben anderen philosophischen Gründen ist es wohl, welche in uns eine Ueberzeugung entstehen läßt, die jeder Mathematiker gewiß teilt, die aber bis jetzt wenigstens niemand durch Beweise gestutzt hat - ich meine die Ueberzeugung, daß ein jedes bestimmte mathematische Problem einer strengen Erledigung notwendig fähig sein müsse, sei es, daß es gelingt, die Beantwortung der gestellten Frage zu geben, sei es, daß die Unmöglichkeit seiner Lösung und damit die Notwendigkeit des Mißlingens aller Versuche dargethan wird. Man lege sich irgend ein bestimmtes ungelöstes Problem vor, etwa die Frage nach der Irrationalität der Euler-Mascheronischen Constanten C oder die Frage, ob es unendlich viele Primzahlen von der Form 2n+1 giebt. So unzugänglich diese Probleme uns erscheinen und so ratlos wir zur Zeit ihnen gegenüber stehen - wir haben dennoch die sichere Ueberzeugung, daß ihre Lösung durch eine endliche Anzahl rein logischer Schlüsse gelingen muß.

Ist dieses Axiom von der Lösbarkeit eines jeden Problems eine dem mathematischen Denken allein charakteristische Eigentümlichkeit, oder ist es vielleicht ein allgemeines dem inneren Wesen unseres Verstandes anhaftendes Gesetz, daß alle Fragen, die er stellt, auch durch ihn einer Beantwortung fähig sind? Trifft man doch auch in anderen Wissenschaften alte Probleme an, die durch den Beweis der Unmöglichkeit in der befriedigendsten Weise und zum höchsten Nutzen der Wissenschaft erledigt worden sind. Ich erinnere an das Problem des Perpetuum mobile. Nach den vergeblichen Versuchen der Construktion eines Perpetuum mobile forschte man vielmehr nach den Beziehungen, die zwischen den Naturkräften bestehen müssen, wenn ein Perpetuum mobile unmöglich sein soll (Vgl. Helmholtz, Ueber die Wechselwirkung der Naturkräfte und die darauf bezüglichen neuesten Ermittelungen der Physik. Vortrag, gehalten in Königsberg 1854), und diese umgekehrte Fragestellung führte auf die Entdeckung des Gesetzes von der Erhaltung der Energie, das seinerseits die Unmöglichkeit des Perpetuum mobile in dem ursprünglich, verlangten Sinne erklärt. Diese Ueberzeugung von der Lösbarkeit eines jeden mathematischen Problems ist uns ein kräftiger Ansporn während der Arbeit; wir hören in uns den steten Zuruf: Da ist das Problem, suche die Lösung. Du kannst sie durch reines Denken finden; denn in der Mathematik giebt es kein Ignorabimus!
 
Unermeßlich ist die Fülle von Problemen in der Mathematik, und sobald ein Problem gelöst ist, tauchen an dessen Stelle zahllose neue Probleme auf. Gestatten Sie mir im Folgenden, gleichsam zur Probe, aus verschiedenen mathematischen Disciplinen einzelne bestimmte Probleme zu nennen, von deren Behandlung eine Förderung der Wissenschaft sich erwarten läßt.

(Aus der am 8. August 1900 gehaltenen Rede auf dem internationalen Mathematikerkongress in Paris)

ZUM GEBURTSTAG DES MATHEMATIKERS

Über den Autor (1862-1943)

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