Samstag, 17. Januar 2015

Adam Müller: Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland

Es ist eine goldne Regel, eine Haupterfahrung, die uns bei allen unsern Erwägungen der Redekunst an keiner Stelle verlassen darf, daß nämlich das Gemüt des vollständigen und gesunden Menschen beständig in kriegerischer Disposition und zum Widerspruche geneigt ist. Wollen wir also mit den Waffen der Rede oder des Arms verteidigen, so müssen wir anzuklagen und anzugreifen wissen, was verteidigt werden soll. Der Sachverwalter eines Verbrechers muß die stärkste Anklage gegen ihn führen, um ihn mit wahrem Erfolge verteidigen zu können: der Sachwalter der Tugend muß alle Ränke kennen, die seinen Gegenstand verunglimpfen können, ebenso wie der wahre Gottesgelehrte ohne gründliche Erkenntnis des Teufels nicht zu denken ist. Dies ist die erhabene Kunst, welche unter den Lobrednern des letzten Jahrhunderts den großen Bossuet so weit über den Thomas, und die unter den gerichtlichen Sachwaltern den britischen Redner Erskine weit über alle seine Standesgenossen erhebt. Dies ist die zierliche Kunst, welche die Frauen mit dem sichersten und glücklichsten Erfolge üben, ja das ganze Geheimnis ihrer weltlichen Herrschaft: sie klagen an, was sie verteidigen, raten ab von dem, was sie erreichen wollen: sie verdecken Falten und Eigenheiten der Seele, die sie zeigen wollen, sie scheinen auszuweichen dem, was sie wünschen: kurz dies Geschlecht versetzt alles in die Disposition, es zu verteidigen.

Auf gleiche Weise kann man sicher glauben, daß überhaupt die Anhänglichkeit an einen geliebten Gegenstand noch nicht weit bei uns gediehen, so lange unser Lob noch unbegrenzt ist: aber wenn wir bescheiden werden, im Namen des geliebten Gegenstandes, wenn wir ihn mit Rückhalt, mit Einschränkung und Ausnahmen zu loben anfangen, so etwa, wie ein Bruder von der Schönheit seiner Schwester spricht, dann beschäftigt er uns ganz. Kurz, wo wir aus Liebe ungerecht werden könnten gegen die Welt, und ausschweifend und abgöttisch werden könnten im Lobe, da hat uns die Natur schon wieder sanft in die Bahn der Gerechtigkeit eingelenkt.

Was aber sagt diese ganze Regel: »Wisse anzuklagen, wo du verteidigen willst«.

(Aus dem Vorwort der 1816 erschienenen Schrift)

ZUM TODESTAG DES POLITIKERS

Über den Autor (1779-1829)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen