Es ist eine eigene Empfindung, die wir haben, wenn in unserem
selbstbewußten Denken wir uns deutlich machen, mit welcher
eigentümlichen und hohen Gesetzmäßigkeit und Schönheit in uns und
anderen Lebendigen lange vor allem Denken das Wirklichwerden und
Erhalten unserer Gestaltung geleitet wird. Je mehr wir hier in die
Tiefen der Bildungsvorgänge eindringen, um so höher steigt unsere
Ehrfurcht vor diesem Walten!
Wer die Schritt für Schritt mit unverrückter Stetigkeit geschehenden
Kristallisationen der Ur-Teile nur eines einzigen Organismus verfolgt
hat, wer gesehen hat, wie durch unendliche Wiederholungen der einzigen
Urgestalt des mikroskopischen ersten Eibläschens eine eigentümliche
Zellenbildung entsteht, welche überall die Grundlage ist, aus welcher
dann Gefäße, Nerven, Muskeln, Knochen je nach bestimmten Strahlungen und
Metamorphosen hervorgehen, dem muß allmählich verständlich werden, welch eine Weisheit, Macht und Schönheit noch ohne alles Selbstbewußtsein
ein sich individualisierendes Göttliches zu offenbaren vermag. Es ist
dann sogar nicht zu vermeiden, daß wir zu der Frage kommen: kann die
freie Wirksamkeit der selbstbewußten Seele zu einer Höhe sich erheben,
welche der Schönheit, dem Reichtum, der inneren Vollendung dessen
gleichkommt, was ein unbewußtes Walten des seelischen Prinzips täglich
und stündlich vor unseren Augen entfaltet? – Alles, was über Verhältnis
und Gegenüberstehen von Natur und Kunst gesagt worden ist, kann hierher
gezogen werden; nicht das Geringste wirklich zu schaffen vermag
irgend die Kunst, und überall wird man sich überzeugen müssen, daß die
innere Vollendung und höchste Zweckmäßigkeit der Bildung durch jenes
Unbewußte unendlich voransteht allem und jedem, was der bewußte Geist in
ähnlicher Weise hervorzubringen vermag. Ja, wenn uns dann deutlich
wird, daß alles, was wir die Wissenschaft der bewußten Seele nennen, nur
ein Nachgehen und ein Aufsuchen der Verhältnisse und Gesetze ist,
welche fort und fort im unbewußten Walten des verschiedenen Lebendigen
um und in uns, vom Weltkörper bis zum Blutkörperchen, sich betätigen, so
entsteht uns ein eigener Kreislauf der Ideenwelt, welche aus dem
Unbewußtsein bis zum Bewußtsein sich entwickelt und als solches doch
wieder zuhöchst das Unbewußte sucht und in dem möglichsten Verständnis
desselben sich erst befriedigt findet. – Freilich zeigt sich zuletzt auch
hier, daß ein vollständiges Erreichen der Natur durch wissenschaftliche Konstruktion ein Unmögliches ist und stets zuletzt irgendein Bruch übrigbleiben muß.
Aus der Verehrung, welche, auch ohne noch ganz in die Erkenntnis
übergegangen zu sein, den Menschen gegen dieses Unbewußte durchdringt
und durchdringen muß, erklärt sich vieles in den Vorstellungen der
Menschheit, und zwar schon in den ältesten Zeiten: die eigene Ehrfurcht
vor der Kindesnatur, noch ehe ein höheres selbstbewußtes Leben in ihr
sich entwickelt hat, die Scheu vor der Tötung des Menschen, ja bei dem
Hindu die Scheu vor Zerstörung alles animalischen Lebens und bei so
vielen Völkern selbst die Verehrung menschlicher Bildung, ja sogar
mancher Tiergestalten als ein Göttliches. Freilich, je weiter noch die
Erkenntnis zurück war, desto mehr Mißverständnisse gaben sich in diesen
Vorstellungen kund, indem hier das, was nur
ein Göttliches – ein einzelner Strahl des einen von uns nur geahnten
absoluten Gottes war – oft als selbst Gottheit genommen wurde, und
gerade hier hat sich denn überhaupt die Quelle des eigentlichen Irrtums
des Pantheismus eröffnet. Dieser Pantheismus, die Meinung, daß vieles
einzelne schon eine absolute Gottheit sein könnte, steht im vollkommenen
Gegensatz zu dem, was man vielleicht am besten Entheismus, d. h.
Erkenntnis des Göttlichen in allem, zu nennen berechtigt wäre, und so
klar es sein muß, daß dieser Entheismus die eigentliche alleinige
gesunde Anschauung der Welt bezeichnet, so gewiß ist es, daß ein
vollkommener Pantheismus eigentlich gleich dem wirklichen Atheismus zu
absurd ist, als daß er jemals bei nur einiger Entwickelung der
Intelligenz dem Menschen im vollen Sinne des Wortes hätte genügen
können.
Übrigens bewegt sich noch unsere heutige Theologie gleich einer
sehr verbreiteten Art von Physiologie bei der Lehre von Dingen dieser
Art in einem sonderbaren Zirkel. Es wird die Vortrefflichkeit und
Weisheit des Göttlichen in den Naturbildungen und ebenso in der
Organisation des Menschen anerkannt, ihr Studium wohl gar zur Vermehrung
der Erkenntnis des Göttlichen überhaupt empfohlen, und dessenungeachtet
wird zwischen diesem unbewußten Walten eines sich individualisierenden
Göttlichen und dem bewußten Göttlichen, welches wir in der entwickelten
menschlichen Seele gewahr werden, als zwischen zwei durchaus
Entgegengesetzten unterschieden. Jenes erste Unbewußte wird dann wieder
gegenüber der Seele etwa als Lebenskraft angesprochen, und diese
letztere erscheint alsdann bald zu einem bloßen Mechanismus
herabgesetzt, bald wird sie wohl auch als besonders dämonisch
aufgefaßt, so daß zuletzt nicht viel fehlte, man hätte sie als
Offenbarung des bösen, satanischen Prinzips dem bewußten Psychischen als
der Offenbarung des guten und eigentlich divinen Prinzips geradezu
gegenübergestellt, während doch die innere wahrhaft göttliche Vollendung
aller Produktionen des ersteren unbewußten Waltens nicht geleugnet
werden kann. Dies sind Verirrungen, die hier nur beiläufig angedeutet
werden sollen, die aber eigentlich weiter von der Wahrheit sich
verlieren als die des sogenannten Pantheismus selbst.
Ich sagte nun aber schon im Eingange, daß es schwer sei, in der
Region des bewußten Seelenlebens den Begriff vom unbewußten Leiden und
Tun der Seele in der Wahrheit zu erfassen, daß aber doch auch wiederum
nur eben hier der Schlüssel zu einer wahren Psychologie gefunden werden könne.
Versuchen wir daher zunächst dadurch uns zu fördern, daß wir Achtung
geben, wie vieles auch innerhalb des bewußten Zustandes unserer Seele
allerdings nur als ein Unbewußtes sich bewegt und vollendet. So ist denn
z.B. keinem Zweifel unterworfen, daß die Muskeln, welche der Bewegung
des Atemholens dienen, durch die zu ihnen sich verbreitenden Wirkungen
des Nervenlebens der Willkür unseres bewußten Seelenlebens gehorchen.
Wir können diese Bewegungen eine Zeitlang hemmen, wir können sie
absichtlich beschleunigen, unterbrechen, verstärken oder schwächen und
empfinden daran deren volle Abhängigkeit von unserer selbstbewußten
Seele. Nichtsdestoweniger geschehen diese Bewegungen in der Regel und
fortwährend unser ganzes Leben hindurch größtenteils vollkommen unbewußt und machen es uns verständlich, daß zwischen Bewußtsein und
Unbewußtsein eine sehr bewegliche Grenze liegt, und daß das Bewußte wie
das Unbewußte Strahlungen einer und derselben Einheit sind. Noch
auffallender vielleicht ist dies bei allen Bewegungen, welche
irgendeiner Kunstfertigkeit dienen. Hier, ganz in der Region des
Bewußtseins und ausgeführt von durchaus der Willkür unterworfenen
Muskeln, ist das, was wir »Einlernen«, »Einübung« nennen, gar nichts
anderes als ein Bestreben, etwas, das dem Bewußtsein angehört, wieder in
die Region des Unbewußtseins zu bringen. Man denke sich den
Klavierspieler: jede einzelne Fingersetzung, Fingerschnellung ist
ursprünglich willkürlich und muß zuerst durch absichtlich einzeln
gewollte Nervenströmung auf die geeigneten Muskeln hervorgerufen werden.
Wird sie nun vielfältig hervorgerufen und immer wieder erneut, so geht
sie allmählich in ihrer besonderen Komplikation ganz ins Reich des
Unbewußtseins über und wird dergestalt dem Bewußtsein entzogen, daß sie
einzeln gar nicht mehr gedacht zu werden braucht, sondern daß die
Vorstellung vom Realisieren gewisser Tonfolgen überhaupt schon genug
ist, um sie ganz unbewußt in ihrer Gesamtheit und in jeder gewollten
Zeitfolge ebenso sicher hervorzurufen, wie die Atmungsbewegungen ohne
unser Darandenken sich folgen. Dasselbe ist der Fall mit dem Erlernen
unserer wesentlichsten Ortsbewegung, dem Gehen, und so mit hundert
anderem; woraus sich denn klärlich ergibt, daß im Können auf gleiche Weise wie im Wissen das Hinübergreifen aus dem Bewußten ins Unbewußte zur Höhe menschlicher Vollendung wahrhaft gehört.
Letzteres ist eine Bemerkung, welche die volle Beachtung des Psychologen verdient und bisher noch nicht in genügendem Grade verfolgt worden ist, obwohl E. Stahl
bereits auf manches dieser Art sehr bestimmt aufmerksam gemacht hat. Es
ist nämlich gewiß sehr merkwürdig, daß dem Tun, dem Können, der Kunst
des Menschen hier ganz ähnliche Bahnen vorgezeichnet sind als dem
Erkennen, dem Wissen, der Wissenschaft. Wie es eine um so größere Höhe
der Wissenschaft bezeichnet, je tiefer das bewußte Erkennen des Menschen
eindringt in das Wahrnehmen der Ideen der Gesetze, welche unbewußt in
unserem eigenen Organismus und in dem der Welterscheinung um uns her
sich betätigen, wie es eben darum auch die höchste Aufgabe der Lehre von
der Seele ist, in die Regionen einzudringen, wo das Seelenleben noch
ganz ohne Bewußtsein sich wirksam erweist, so wird auch ein jedes Können
erst dadurch wirklich zur Kunst, daß alles Tun, insofern es einem
gewissen Zweck des Willens dienen soll, wieder an und für sich unbewußt
vollzogen werde und eben dadurch nun die höchste Leichtigkeit jeder
Produktion begünstige, indem es nämlich nur dann erst überflüssig wird,
daß die Seele aller der einzelnen Willensäußerungen besonders und
absichtlich gedenke, welche nötig sind, irgendeine vorgesetzte Tat zur
Ausführung zu bringen, so daß ihr jetzt mit dem Willen, ihn zu
erreichen, allein der Zweck rein und lebendig vorzuschweben braucht, um
frisch und leicht die Kunsttätigkeit zur Erreichung dieses Zweckes in
Gang zu setzen.
Wenden wir uns übrigens wieder zu dem, was wir im bewußten
Seelenleben das Wissen, das Erkennen nennen, so verstehen wir
gegenwärtig auch, indem wir auf das Hervorgehen desselben aus dem
Unbewußtsein achten, warum Plato schon alles Erkennenlernen darstellte als ein Erinnern, als ein » im Innern finden«; also da
finden, wo bisher noch kein Wissen war, und wo diese Wahrheit, dieser
Gedanke doch war wie der unbewußte Embryo in der bewußten Mutter; ein
Vorgang, wegen dessen eben Sokrates so oft das Entwickeln des
Gedankens, das heißt eben das Erreichen höherer Erkenntnis, als einen
geburtshelferischen Akt angesehen wissen will. Alles dieses deutet denn
mit Bestimmtheit auf die reiche eigentümliche Welt, die wir dunkel in
unserem Innern tragen, und jedes Bedenken dieser Art muß uns sofort das
merkwürdige Verhältnis zwischen Bewußtsein und Unbewußtsein deutlicher
gestalten können. Ein noch helleres Licht kann es übrigens hierauf
werfen, wenn wir an das allmähliche Hervortreten angeborener besonderer
Richtungen der bewußten Seele denken wollen. Hier zeigt sich zugleich,
wie weit wir in der Geschichte der Idee unseres Daseins – und eben also
in das Reich des unbewußten Daseins – zurückgehen müssen, wenn wir zur
Auffindung der ersten Gründe der Besonderheit dieses Daseins
gelangen wollen. Ich erinnere nämlich hier zuerst daran, wie viel ganz
eigentümliche Züge auch des bewußten Seelenlebens sich von Eltern auf
Kinder fortpflanzen können, wie manche eigentümliche Richtungen des
Geistes, manche besondere Neigungen, manche Kunstanlagen auf diese Weise
das Eigentum von Personen werden, in welchen sie noch überdies oft
ziemlich spät erst wirklich hervortreten, obwohl sie der Anlage nach von
Haus aus in ihnen vorhanden sein mußten. Jetzt mache man sich nun aber
anschaulich, in welchem völlig bewußtlosen Zustande die Seele sich
befindet zu der Zeit, wo in den ersten Bildungsperioden des Eies
dergleichen
Übertragungen allein möglich waren. Man mache sich deutlich, wie hier in
der Seele des Embryo, während sie einzig und allein als bildende,
entwickelnde, Stoffe heranziehende und Stoffe verteilende Macht sich
betätigt, doch unbewußter Weise alle jene später sich kundgebenden
Geistesrichtungen des bewußten Lebens schon wirklich vorgebildet sind!
und man wird eines der merkwürdigsten und für die Geschichte des
Verhältnisses zwischen Bewußtsein und Unbewußtsein lehrreichsten Momente
vor sich haben. Gewiß, an dergleichen muß es deutlich werden, wie durch
und durch unser bewußtes Seelenleben auf der Region des unbewußten ruht
und aus ihr hervorgeht, wie es ganz eigentlich der erste schaffende Akt
der als Seele sich darlebenden Idee ist, noch ganz unbewußt die
bewundernswürdige Mannigfaltigkeit des Organismus zu begründen, und wie
auch dann, wenn in der Widerspiegelung der Idee in dieser Schöpfung das
Bewußtsein sich erschlossen hat, die unbewußte Strahlung jenes
Göttlichen der unversiegbare Born ist, aus welchem immer neue und neue
Bereicherungen des Bewußtseins hervorgehen.
Gerade weil wir es also für so höchst wichtig erkennen, behufs
der Wissenschaft von der Seele so tief als möglich einzudringen in das
Verständnis der bewußtlos in uns waltenden Idee, wird es zunächst hier
unbedingt erfordert, mit schärferen Zügen die Geschichte des werdenden
Organismus und namentlich des menschlichen zu zeichnen. Es ist hierbei
insbesondere notwendig, die Wesenheit des Entwicklungsvorganges, dagegen
nicht gerade alle einzelnen Modifikationen desselben, deutlich
einzusehen: eine Einsicht, welche allerdings erst durch die
sorgfältigen, dem
Laien durchaus und selbst vielen Ärzten noch bisher ganz fremden
Untersuchungen der neuesten Zeit möglich geworden ist. Nur aus dieser
Deutlichkeit der Einsicht wird auch der Rückschluß auf die
Eigentümlichkeit, mit welcher ein unbewußt bildendes Seelenleben sich
überhaupt betätigt, wahrhaft möglich werden. Hätte E. Stahl, dem
schon im 17. Jahrhundert der Gedanke kam: es sei nur die Seele das
eigentlich Schaffende und Bildende des Organismus, zu seiner Zeit schon
klarere Vorstellungen von diesem Bilden und dem wahren Verhältnis einer
Idee zu ihrem Sichdarleben in einer Form erfassen können, und wäre er
nicht von reineren Anschauungen immer noch durch die Annahme einer
gewissen Materialität der Seele zurückgehalten gewesen, so hätte schon
ihm sich die ganze Wesenheit dieser Verhältnisse erschließen müssen. Ihm
war nämlich der Unterschied des bewußten und unbewußten Seelenlebens
allerdings aufgegangen, und ganz treffend sagte er: »das Unbewußte und
Unwillkürliche im Organismus geschehe zwar auch ratione oder λóγω, aber
nicht ratiocinio oder λóγιςμω«, welche Erkenntnis ihn denn auch so
erfüllte und befriedigte, daß er mit einer gewissen Verachtung auf die
Physiologie seines Zeitgenossen F. Hoffmann herabblickte und selbst mit Leibniz
in entschiedene Differenzen geriet, als welcher letztere zwar die Seele
an und für sich in ihrer Immaterialität gewiß richtiger erfaßt hatte
als er, allein, da ihm nun wieder ihr Verhältnis zum Organismus ferner
lag, noch eine zweite Entelechie, die Kraft der Bewegung, außer der
Seele im Organismus annahm, welche Stahl allerdings verwerfen
mußte, da ihm der Begriff der Einheit des Organismus einmal wahrhaft
aufgegangen und deutlich geworden war.
(Beginn des ersten Kapitels, "Vom unbewussten Leben der Seele", aus dem 1846 erschienenen Werk)
ZUM GEBURTSTAG DES ARZTES
Über den Autor (1789-1869)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen