Samstag, 3. Januar 2015

Carl Gustav Carus: Psyche

Es ist eine eigene Empfindung, die wir haben, wenn in unserem selbstbewußten Denken wir uns deutlich machen, mit welcher eigentümlichen und hohen Gesetzmäßigkeit und Schönheit in uns und anderen Lebendigen lange vor allem Denken das Wirklichwerden und Erhalten unserer Gestaltung geleitet wird. Je mehr wir hier in die Tiefen der Bildungsvorgänge eindringen, um so höher steigt unsere Ehrfurcht vor diesem Walten! Wer die Schritt für Schritt mit unverrückter Stetigkeit geschehenden Kristallisationen der Ur-Teile nur eines einzigen Organismus verfolgt hat, wer gesehen hat, wie durch unendliche Wiederholungen der einzigen Urgestalt des mikroskopischen ersten Eibläschens eine eigentümliche Zellenbildung entsteht, welche überall die Grundlage ist, aus welcher dann Gefäße, Nerven, Muskeln, Knochen je nach bestimmten Strahlungen und Metamorphosen hervorgehen, dem muß allmählich verständlich werden, welch eine Weisheit, Macht und Schönheit noch ohne alles Selbstbewußtsein ein sich individualisierendes Göttliches zu offenbaren vermag. Es ist dann sogar nicht zu vermeiden, daß wir zu der Frage kommen: kann die freie Wirksamkeit der selbstbewußten Seele zu einer Höhe sich erheben, welche der Schönheit, dem Reichtum, der inneren Vollendung dessen gleichkommt, was ein unbewußtes Walten des seelischen Prinzips täglich und stündlich vor unseren Augen entfaltet? – Alles, was über Verhältnis und Gegenüberstehen von Natur und Kunst gesagt worden ist, kann hierher gezogen werden; nicht das Geringste wirklich zu schaffen vermag irgend die Kunst, und überall wird man sich überzeugen müssen, daß die innere Vollendung und höchste Zweckmäßigkeit der Bildung durch jenes Unbewußte unendlich voransteht allem und jedem, was der bewußte Geist in ähnlicher Weise hervorzubringen vermag. Ja, wenn uns dann deutlich wird, daß alles, was wir die Wissenschaft der bewußten Seele nennen, nur ein Nachgehen und ein Aufsuchen der Verhältnisse und Gesetze ist, welche fort und fort im unbewußten Walten des verschiedenen Lebendigen um und in uns, vom Weltkörper bis zum Blutkörperchen, sich betätigen, so entsteht uns ein eigener Kreislauf der Ideenwelt, welche aus dem Unbewußtsein bis zum Bewußtsein sich entwickelt und als solches doch wieder zuhöchst das Unbewußte sucht und in dem möglichsten Verständnis desselben sich erst befriedigt findet. – Freilich zeigt sich zuletzt auch hier, daß ein vollständiges Erreichen der Natur durch wissenschaftliche Konstruktion ein Unmögliches ist und stets zuletzt irgendein Bruch übrigbleiben muß.

Aus der Verehrung, welche, auch ohne noch ganz in die Erkenntnis übergegangen zu sein, den Menschen gegen dieses Unbewußte durchdringt und durchdringen muß, erklärt sich vieles in den Vorstellungen der Menschheit, und zwar schon in den ältesten Zeiten: die eigene Ehrfurcht vor der Kindesnatur, noch ehe ein höheres selbstbewußtes Leben in ihr sich entwickelt hat, die Scheu vor der Tötung des Menschen, ja bei dem Hindu die Scheu vor Zerstörung alles animalischen Lebens und bei so vielen Völkern selbst die Verehrung menschlicher Bildung, ja sogar mancher Tiergestalten als ein Göttliches. Freilich, je weiter noch die Erkenntnis zurück war, desto mehr Mißverständnisse gaben sich in diesen Vorstellungen kund, indem hier das, was nur ein Göttliches – ein einzelner Strahl des einen von uns nur geahnten absoluten Gottes war – oft als selbst Gottheit genommen wurde, und gerade hier hat sich denn überhaupt die Quelle des eigentlichen Irrtums des Pantheismus eröffnet. Dieser Pantheismus, die Meinung, daß vieles einzelne schon eine absolute Gottheit sein könnte, steht im vollkommenen Gegensatz zu dem, was man vielleicht am besten Entheismus, d. h. Erkenntnis des Göttlichen in allem, zu nennen berechtigt wäre, und so klar es sein muß, daß dieser Entheismus die eigentliche alleinige gesunde Anschauung der Welt bezeichnet, so gewiß ist es, daß ein vollkommener Pantheismus eigentlich gleich dem wirklichen Atheismus zu absurd ist, als daß er jemals bei nur einiger Entwickelung der Intelligenz dem Menschen im vollen Sinne des Wortes hätte genügen können.

Übrigens bewegt sich noch unsere heutige Theologie gleich einer sehr verbreiteten Art von Physiologie bei der Lehre von Dingen dieser Art in einem sonderbaren Zirkel. Es wird die Vortrefflichkeit und Weisheit des Göttlichen in den Naturbildungen und ebenso in der Organisation des Menschen anerkannt, ihr Studium wohl gar zur Vermehrung der Erkenntnis des Göttlichen überhaupt empfohlen, und dessenungeachtet wird zwischen diesem unbewußten Walten eines sich individualisierenden Göttlichen und dem bewußten Göttlichen, welches wir in der entwickelten menschlichen Seele gewahr werden, als zwischen zwei durchaus Entgegengesetzten unterschieden. Jenes erste Unbewußte wird dann wieder gegenüber der Seele etwa als Lebenskraft angesprochen, und diese letztere erscheint alsdann bald zu einem bloßen Mechanismus herabgesetzt, bald wird sie wohl auch als besonders dämonisch aufgefaßt, so daß zuletzt nicht viel fehlte, man hätte sie als Offenbarung des bösen, satanischen Prinzips dem bewußten Psychischen als der Offenbarung des guten und eigentlich divinen Prinzips geradezu gegenübergestellt, während doch die innere wahrhaft göttliche Vollendung aller Produktionen des ersteren unbewußten Waltens nicht geleugnet werden kann. Dies sind Verirrungen, die hier nur beiläufig angedeutet werden sollen, die aber eigentlich weiter von der Wahrheit sich verlieren als die des sogenannten Pantheismus selbst.

Ich sagte nun aber schon im Eingange, daß es schwer sei, in der Region des bewußten Seelenlebens den Begriff vom unbewußten Leiden und Tun der Seele in der Wahrheit zu erfassen, daß aber doch auch wiederum nur eben hier der Schlüssel zu einer wahren Psychologie gefunden werden könne. Versuchen wir daher zunächst dadurch uns zu fördern, daß wir Achtung geben, wie vieles auch innerhalb des bewußten Zustandes unserer Seele allerdings nur als ein Unbewußtes sich bewegt und vollendet. So ist denn z.B. keinem Zweifel unterworfen, daß die Muskeln, welche der Bewegung des Atemholens dienen, durch die zu ihnen sich verbreitenden Wirkungen des Nervenlebens der Willkür unseres bewußten Seelenlebens gehorchen. Wir können diese Bewegungen eine Zeitlang hemmen, wir können sie absichtlich beschleunigen, unterbrechen, verstärken oder schwächen und empfinden daran deren volle Abhängigkeit von unserer selbstbewußten Seele. Nichtsdestoweniger geschehen diese Bewegungen in der Regel und fortwährend unser ganzes Leben hindurch größtenteils vollkommen unbewußt und machen es uns verständlich, daß zwischen Bewußtsein und Unbewußtsein eine sehr bewegliche Grenze liegt, und daß das Bewußte wie das Unbewußte Strahlungen einer und derselben Einheit sind. Noch auffallender vielleicht ist dies bei allen Bewegungen, welche irgendeiner Kunstfertigkeit dienen. Hier, ganz in der Region des Bewußtseins und ausgeführt von durchaus der Willkür unterworfenen Muskeln, ist das, was wir »Einlernen«, »Einübung« nennen, gar nichts anderes als ein Bestreben, etwas, das dem Bewußtsein angehört, wieder in die Region des Unbewußtseins zu bringen. Man denke sich den Klavierspieler: jede einzelne Fingersetzung, Fingerschnellung ist ursprünglich willkürlich und muß zuerst durch absichtlich einzeln gewollte Nervenströmung auf die geeigneten Muskeln hervorgerufen werden. Wird sie nun vielfältig hervorgerufen und immer wieder erneut, so geht sie allmählich in ihrer besonderen Komplikation ganz ins Reich des Unbewußtseins über und wird dergestalt dem Bewußtsein entzogen, daß sie einzeln gar nicht mehr gedacht zu werden braucht, sondern daß die Vorstellung vom Realisieren gewisser Tonfolgen überhaupt schon genug ist, um sie ganz unbewußt in ihrer Gesamtheit und in jeder gewollten Zeitfolge ebenso sicher hervorzurufen, wie die Atmungsbewegungen ohne unser Darandenken sich folgen. Dasselbe ist der Fall mit dem Erlernen unserer wesentlichsten Ortsbewegung, dem Gehen, und so mit hundert anderem; woraus sich denn klärlich ergibt, daß im Können auf gleiche Weise wie im Wissen das Hinübergreifen aus dem Bewußten ins Unbewußte zur Höhe menschlicher Vollendung wahrhaft gehört.

Letzteres ist eine Bemerkung, welche die volle Beachtung des Psychologen verdient und bisher noch nicht in genügendem Grade verfolgt worden ist, obwohl E. Stahl bereits auf manches dieser Art sehr bestimmt aufmerksam gemacht hat. Es ist nämlich gewiß sehr merkwürdig, daß dem Tun, dem Können, der Kunst des Menschen hier ganz ähnliche Bahnen vorgezeichnet sind als dem Erkennen, dem Wissen, der Wissenschaft. Wie es eine um so größere Höhe der Wissenschaft bezeichnet, je tiefer das bewußte Erkennen des Menschen eindringt in das Wahrnehmen der Ideen der Gesetze, welche unbewußt in unserem eigenen Organismus und in dem der Welterscheinung um uns her sich betätigen, wie es eben darum auch die höchste Aufgabe der Lehre von der Seele ist, in die Regionen einzudringen, wo das Seelenleben noch ganz ohne Bewußtsein sich wirksam erweist, so wird auch ein jedes Können erst dadurch wirklich zur Kunst, daß alles Tun, insofern es einem gewissen Zweck des Willens dienen soll, wieder an und für sich unbewußt vollzogen werde und eben dadurch nun die höchste Leichtigkeit jeder Produktion begünstige, indem es nämlich nur dann erst überflüssig wird, daß die Seele aller der einzelnen Willensäußerungen besonders und absichtlich gedenke, welche nötig sind, irgendeine vorgesetzte Tat zur Ausführung zu bringen, so daß ihr jetzt mit dem Willen, ihn zu erreichen, allein der Zweck rein und lebendig vorzuschweben braucht, um frisch und leicht die Kunsttätigkeit zur Erreichung dieses Zweckes in Gang zu setzen.

Wenden wir uns übrigens wieder zu dem, was wir im bewußten Seelenleben das Wissen, das Erkennen nennen, so verstehen wir gegenwärtig auch, indem wir auf das Hervorgehen desselben aus dem Unbewußtsein achten, warum Plato schon alles Erkennenlernen darstellte als ein Erinnern, als ein » im Innern finden«; also da finden, wo bisher noch kein Wissen war, und wo diese Wahrheit, dieser Gedanke doch war wie der unbewußte Embryo in der bewußten Mutter; ein Vorgang, wegen dessen eben Sokrates so oft das Entwickeln des Gedankens, das heißt eben das Erreichen höherer Erkenntnis, als einen geburtshelferischen Akt angesehen wissen will. Alles dieses deutet denn mit Bestimmtheit auf die reiche eigentümliche Welt, die wir dunkel in unserem Innern tragen, und jedes Bedenken dieser Art muß uns sofort das merkwürdige Verhältnis zwischen Bewußtsein und Unbewußtsein deutlicher gestalten können. Ein noch helleres Licht kann es übrigens hierauf werfen, wenn wir an das allmähliche Hervortreten angeborener besonderer Richtungen der bewußten Seele denken wollen. Hier zeigt sich zugleich, wie weit wir in der Geschichte der Idee unseres Daseins – und eben also in das Reich des unbewußten Daseins – zurückgehen müssen, wenn wir zur Auffindung der ersten Gründe der Besonderheit dieses Daseins gelangen wollen. Ich erinnere nämlich hier zuerst daran, wie viel ganz eigentümliche Züge auch des bewußten Seelenlebens sich von Eltern auf Kinder fortpflanzen können, wie manche eigentümliche Richtungen des Geistes, manche besondere Neigungen, manche Kunstanlagen auf diese Weise das Eigentum von Personen werden, in welchen sie noch überdies oft ziemlich spät erst wirklich hervortreten, obwohl sie der Anlage nach von Haus aus in ihnen vorhanden sein mußten. Jetzt mache man sich nun aber anschaulich, in welchem völlig bewußtlosen Zustande die Seele sich befindet zu der Zeit, wo in den ersten Bildungsperioden des Eies dergleichen Übertragungen allein möglich waren. Man mache sich deutlich, wie hier in der Seele des Embryo, während sie einzig und allein als bildende, entwickelnde, Stoffe heranziehende und Stoffe verteilende Macht sich betätigt, doch unbewußter Weise alle jene später sich kundgebenden Geistesrichtungen des bewußten Lebens schon wirklich vorgebildet sind! und man wird eines der merkwürdigsten und für die Geschichte des Verhältnisses zwischen Bewußtsein und Unbewußtsein lehrreichsten Momente vor sich haben. Gewiß, an dergleichen muß es deutlich werden, wie durch und durch unser bewußtes Seelenleben auf der Region des unbewußten ruht und aus ihr hervorgeht, wie es ganz eigentlich der erste schaffende Akt der als Seele sich darlebenden Idee ist, noch ganz unbewußt die bewundernswürdige Mannigfaltigkeit des Organismus zu begründen, und wie auch dann, wenn in der Widerspiegelung der Idee in dieser Schöpfung das Bewußtsein sich erschlossen hat, die unbewußte Strahlung jenes Göttlichen der unversiegbare Born ist, aus welchem immer neue und neue Bereicherungen des Bewußtseins hervorgehen.

Gerade weil wir es also für so höchst wichtig erkennen, behufs der Wissenschaft von der Seele so tief als möglich einzudringen in das Verständnis der bewußtlos in uns waltenden Idee, wird es zunächst hier unbedingt erfordert, mit schärferen Zügen die Geschichte des werdenden Organismus und namentlich des menschlichen zu zeichnen. Es ist hierbei insbesondere notwendig, die Wesenheit des Entwicklungsvorganges, dagegen nicht gerade alle einzelnen Modifikationen desselben, deutlich einzusehen: eine Einsicht, welche allerdings erst durch die sorgfältigen, dem Laien durchaus und selbst vielen Ärzten noch bisher ganz fremden Untersuchungen der neuesten Zeit möglich geworden ist. Nur aus dieser Deutlichkeit der Einsicht wird auch der Rückschluß auf die Eigentümlichkeit, mit welcher ein unbewußt bildendes Seelenleben sich überhaupt betätigt, wahrhaft möglich werden. Hätte E. Stahl, dem schon im 17. Jahrhundert der Gedanke kam: es sei nur die Seele das eigentlich Schaffende und Bildende des Organismus, zu seiner Zeit schon klarere Vorstellungen von diesem Bilden und dem wahren Verhältnis einer Idee zu ihrem Sichdarleben in einer Form erfassen können, und wäre er nicht von reineren Anschauungen immer noch durch die Annahme einer gewissen Materialität der Seele zurückgehalten gewesen, so hätte schon ihm sich die ganze Wesenheit dieser Verhältnisse erschließen müssen. Ihm war nämlich der Unterschied des bewußten und unbewußten Seelenlebens allerdings aufgegangen, und ganz treffend sagte er: »das Unbewußte und Unwillkürliche im Organismus geschehe zwar auch ratione oder λóγω, aber nicht ratiocinio oder λóγιςμω«, welche Erkenntnis ihn denn auch so erfüllte und befriedigte, daß er mit einer gewissen Verachtung auf die Physiologie seines Zeitgenossen F. Hoffmann herabblickte und selbst mit Leibniz in entschiedene Differenzen geriet, als welcher letztere zwar die Seele an und für sich in ihrer Immaterialität gewiß richtiger erfaßt hatte als er, allein, da ihm nun wieder ihr Verhältnis zum Organismus ferner lag, noch eine zweite Entelechie, die Kraft der Bewegung, außer der Seele im Organismus annahm, welche Stahl allerdings verwerfen mußte, da ihm der Begriff der Einheit des Organismus einmal wahrhaft aufgegangen und deutlich geworden war.

(Beginn des ersten Kapitels, "Vom unbewussten Leben der Seele", aus dem 1846 erschienenen Werk)

ZUM GEBURTSTAG DES ARZTES

Über den Autor (1789-1869)

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