Mittwoch, 21. Januar 2015

Egon Friedell: Die Hegemonie des Schriftstellers

Wir haben uns daran gewöhnt, in einem Dichter einen Menschen zu sehen, der irgendwo außerhalb, ganz an der Peripherie des wirklichen Lebens in einem Zimmer sitzt, Stoffe und Materialien sammelt, nachdenkt, schreibt, innehält, ausstreicht, wieder nachdenkt, wieder schreibt, zusammensetzt und umarbeitet, und wenn er schließlich viele Bogen mit vielen weisen oder schönen Dingen gefüllt hat, ein gedrucktes Buch herausgibt, kurz: einen Menschen, der die eine Hälfte seines Daseins mit Lesen und die andere mit Schreiben verbringt und dessen Lebenssymbol das Buch ist.

Diese Vorstellung scheint uns so selbstverständlich, daß wir uns gar nicht denken können, daß man es jemals anders aufgefaßt hat. Und dennoch ist dieser Begriff vom Dichter verhältnismäßig noch sehr jung, er ist eine Neuerwerbung des achtzehnten Jahrhunderts. Damals wurde in ganz Europa die Literatur übermächtig. Jene Art der menschlichen Geistestätigkeit, die uns heute fast als das Kulturferment schlechtweg erscheint, hat sich erst damals ihre Vorherrschaft erobert. In England entstand der Typus des schreibenden Gelehrten, der schreibt, schreibt, nicht bloß um seine eigene Forschung zu fördern, sondern auch um andere zu unterweisen, und seitdem versorgt England den ganzen Kontinent mit weltläufiger, lehr- und lernbarer Wissenschaft: Wissenschaft als Literaturprodukt. Gleichzeitig wurde in Frankreich die Figur des Publizisten konzipiert, der alles: Leben und Kunst, Glauben und Staat in geschickter, aktueller, interessanter Form zu behandeln weiß; an der Spitze Voltaire, der vollendetste Journalist, der je gelebt hat. Diese Strömungen rannen dann zusammen in das, was wir »Aufklärung« zu nennen pflegen. Alles wurde mit einemmal ein Gegenstand der Literatur: die Politik, die Gesellschaft, die Religion. Gott wurde nicht mehr in inbrünstiger Ekstase hinter düstern Klostermauern gesucht wie im Mittelalter, nicht mehr mit der Pike oder der Sense in der Hand erkämpft wie in den Zeiten der Reformation, nicht mehr im Kunstwerk verherrlicht wie in der Renaissance, sondern er begab sich in Bücher, Broschüren und Flugschriften, lehrhafte Romane und philosophische Dialoge: er war eine literarische Angelegenheit geworden. Und dazu kam dann die Ausdehnung der Presse, gefördert durch das neue billige Holzpapier, die Druckmaschine, die Erfindung schnellerer Verkehrsmittel, und vollendete diese ganze Entwicklung. Das, was wir heute zusammenfassend »Geistesleben« nennen, ruht zu drei Vierteln auf dem Schrifttum.

Es ist aber durchaus nicht immer so gewesen. Die Griechen hatten große Dichter und Philosophen, aber gar keine Berufsschriftsteller. Auch so ausgezeichnete Autoren wie Thukydides, Xenophon oder Plato schrieben immer nur gewissermaßen im Nebenamt: ihre literarische Tätigkeit war nur eine Fußnote und Randglosse zu ihrem wirklichen Leben. Erst mit dem Verfall der griechischen Kultur, mit dem Alexandrinertum, beginnt das Bibliothekswesen, die Polyhistorie und die Vielschreiberei. Auch Homer hat eigentlich nicht für die Griechen geschrieben, denn seine Dichtungen wurden durch mündliche Überlieferungen fortgepflanzt, und seine lebendige Wirkung bestand nicht darin, daß man ihn las, sondern darin, daß man ihn rezitierte.

In der darauffolgenden Zeit, im Mittelalter konnte von öffentlicher Schriftstellerei überhaupt keine Rede sein, und zwar aus einem sehr betrüblichen Grunde: weil die meisten Leute nicht lesen konnten. Und übrigens konnten auch viele Dichter nicht schreiben.

Dann in der Renaissancezeit hatten die Leute ganz andere Dinge im Kopfe. Zunächst wurde ein großer Teil der Energien vom öffentlichen Leben absorbiert. Jeder mußte für sich einstehen, man lebte unter dem Drucke einer fortwährenden Lebensgefahr, ganz Italien war eine organisierte Anarchie. Das Leben befand sich in fortgesetzter Vibration, man hatte nicht oft die Möglichkeit, beschaulich im Zimmer zu sitzen. Sodann: man wollte auch gar nicht. Es drängte jeden hinaus in das Glücksspiel der politischen Karriere: die Aussicht, Herzog oder Kardinal zu werden, war eigentlich für jeden begabten und tatkräftigen Menschen vorhanden. Und endlich: der Ehrgeiz und die Schöpferkraft des Menschen richtete sich auf die bildende Kunst. Ein großer Mann war der, der schöne Bildsäulen oder Gemälde machen konnte. Benvenuto Cellini war einer der populärsten Menschen in ganz Italien, und war doch nur ein einfacher Goldschmied. Die große aufwühlende Wirkung, die heutzutage ein Werk wie der »Faust« oder der »Zarathustra« hat, hatte damals eine Marmorgruppe oder ein Kolossalgemälde. Allerdings verstand man auch unter einem bildenden Künstler damals etwas anderes als heute. Man erwartete von ihm nicht nur eine besonders treue oder besonders eigenartige Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern auch Gedanken, ein vollständiges Weltbild: seine ganze geistige Persönlichkeit mit allen ihren Höhen und Tiefen, seine ganze Anschauung von Gott, Leben und Menschheit mußte in dem Werk enthalten sein. Man kann daher sagen, daß die führenden Maler und Bildhauer für jene Zeit genau dasselbe waren, was für uns heute ein führender Schriftsteller ist. Man dichtete eben damals in anderem Material.

In England, das nicht viel später seine Blüte erreichte, wurden allerdings vorwiegend Dramen, Gedichte und Abhandlungen produziert. Aber sie waren dennoch auch dort nicht wesentlich schriftstellerische Dinge. Sondern: der Ausdruck und Abglanz eines bestimmten bewegten Lebens. Sie waren nur der Schatten, den die Wirklichkeit warf, und diese Wirklichkeit war das, worum es sich drehte. Shakespeare war durchaus kein Schriftsteller; er war ein Theatermensch. Man könnte sagen: er machte Theaterstücke und schrieb sie nebenher auf, aus dem ganz mechanischen Grunde, weil die Schauspieler sie sonst nicht hätten auswendig lernen können. Es wäre Shakespeare niemals eingefallen, ein großes Drama zu dichten, ohne an eine Aufführung zu denken, wie es Goethe mehr als einmal getan hat. Erst das achtzehnte Jahrhundert hat aus Shakespeare eine Sache der Literatur gemacht. In England selbst wurde er nicht als Schriftsteller behandelt, seine Dramen lebten nur als Rollenhefte weiter. Man hat den Engländern vorgeworfen, sie hätten ihren Shakespeare nicht zu würdigen gewußt, sonst hätten sie seine Bücher nicht so verkommen lassen. Aber dieser Vorwurf ist ungerecht: die Unachtsamkeit ist begründet im Geist der Zeit, man hatte damals noch keinen Respekt vor geschriebenen Dramen, es fiel niemandem ein, daß diese Schauspiele auch außerhalb der realen Bühne, eingesargt in gedruckte Bücher, noch ein Leben haben könnten. Der Schriftsteller war damals noch nicht erfunden.

Heute aber steht er auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung und seines Einflusses. Er ist der geistige Repräsentant des Menschengeschlechts. Er hat fast alle denkenden Berufe in sich aufgesaugt. Das Organ der Politik ist nicht mehr die Rednertribüne, sondern die Presse. Das Organ des Handels ist nicht mehr der Marktplatz, sondern das Kontor, in dem geschrieben wird. ... da also heutzutage nahezu jeder Mensch, der geistig wirken will, auf das Schreiben hingewiesen ist, darf es uns nicht verwundern, daß der Dichter, der dieser Tätigkeit näher steht als irgendein anderer Mensch, heute Schriftsteller ist, und nichts als Schriftsteller.

Diese ganze Entwicklung ist aber allem Anschein nach im Begriff, ihren Höhepunkt zu überschreiten. Es ist nicht ausgemacht, daß die Literatur von nun an ein für allemal das wichtigste geistige Ausdrucksmittel bleiben wird. Zunächst aus einem äußerlichen Grunde. In früheren Zeiten konnte der Schriftsteller nicht dominieren, weil die Verkehrstechnik zu unvollkommen entwickelt war. Es gab keine organisierte Post, keine billigen Transportmittel, keine internationale Gütersekurität. Das geschriebene Wort hatte keinen wesentlichen Vorsprung vor dem gesprochenen. Es ist aber nun sehr wohl möglich, daß sich in der kommenden Zeit gerade das Umgekehrte ereignen wird: der Schriftsteller wird zurücktreten, weil die Technik zu vollkommen entwickelt ist. Man wird wieder auf die persönliche Wirkung zurückkommen können. Zunächst werden die Entfernungen immer geringer: wie schnell und leicht ein Mensch vorwärtskommen kann, ist nur noch ein praktisches Problem, eine Kraftfrage; theoretisch ist der Sache gar keine Grenze vorauszusagen. Ferner stehen Einrichtungen wie Telephon, Grammophon und Kinematograph ja erst ganz am Anfang ihrer Entwicklung, sie sind der unbeschränktesten Vervollkommnung fähig. Höchstwahrscheinlich steht uns auch die Erfindung des Fernsehers bevor. Nimmt man nun alle diese Dinge ein wenig im Geiste vorweg, so darf man sagen: es ist gar nicht ausgeschlossen, daß es in hundert Jahren eine Art der publizistischen Wirksamkeit geben wird, die der Schriftstellerei an Eindringlichkeit, Vielseitigkeit und Beweglichkeit ebenso überlegen ist wie das Buch und die Tageszeitung dem Kanzelredner und Wanderprediger.

(Aus dem 1912 erschienenen Essayband 'Ecce Poeta')

ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1878-1938)

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