Wir haben uns daran gewöhnt, in einem Dichter einen Menschen zu
sehen, der irgendwo außerhalb, ganz an der Peripherie des wirklichen
Lebens in einem Zimmer sitzt, Stoffe und Materialien sammelt, nachdenkt,
schreibt, innehält, ausstreicht, wieder nachdenkt, wieder schreibt,
zusammensetzt und umarbeitet, und wenn er schließlich viele Bogen mit
vielen weisen oder schönen Dingen gefüllt hat, ein gedrucktes Buch
herausgibt, kurz: einen Menschen, der die eine Hälfte seines Daseins mit
Lesen und die andere mit Schreiben verbringt und dessen Lebenssymbol
das Buch ist.
Diese
Vorstellung scheint uns so selbstverständlich, daß wir uns gar nicht
denken können, daß man es jemals anders aufgefaßt hat. Und dennoch ist
dieser Begriff vom Dichter verhältnismäßig noch sehr jung, er ist eine
Neuerwerbung des achtzehnten Jahrhunderts. Damals wurde in ganz Europa
die Literatur übermächtig. Jene Art der menschlichen Geistestätigkeit,
die uns heute fast als das Kulturferment schlechtweg erscheint, hat sich
erst damals ihre Vorherrschaft erobert. In England entstand der Typus
des schreibenden Gelehrten, der schreibt, schreibt, nicht bloß um seine
eigene Forschung zu fördern, sondern auch um andere zu unterweisen, und
seitdem versorgt England den ganzen Kontinent mit weltläufiger, lehr-
und lernbarer Wissenschaft: Wissenschaft als Literaturprodukt.
Gleichzeitig wurde in Frankreich die Figur des Publizisten konzipiert,
der alles: Leben und Kunst, Glauben und Staat in geschickter, aktueller,
interessanter Form zu behandeln weiß; an der Spitze Voltaire, der
vollendetste Journalist, der je gelebt hat. Diese Strömungen rannen dann
zusammen in das, was wir »Aufklärung« zu nennen pflegen. Alles wurde
mit einemmal ein Gegenstand der Literatur: die Politik, die
Gesellschaft, die Religion. Gott wurde nicht mehr in inbrünstiger
Ekstase hinter düstern Klostermauern gesucht wie im Mittelalter, nicht
mehr mit der Pike oder der Sense in der Hand erkämpft wie in den Zeiten
der
Reformation, nicht mehr im Kunstwerk verherrlicht wie in der
Renaissance, sondern er begab sich in Bücher, Broschüren und
Flugschriften, lehrhafte Romane und philosophische Dialoge: er war eine
literarische Angelegenheit geworden. Und dazu kam dann die Ausdehnung
der Presse, gefördert durch das neue billige Holzpapier, die
Druckmaschine, die Erfindung schnellerer Verkehrsmittel, und vollendete
diese ganze Entwicklung. Das, was wir heute zusammenfassend
»Geistesleben« nennen, ruht zu drei Vierteln auf dem Schrifttum.
Es ist aber durchaus nicht immer so gewesen. Die Griechen
hatten große Dichter und Philosophen, aber gar keine
Berufsschriftsteller. Auch so ausgezeichnete Autoren wie Thukydides,
Xenophon oder Plato schrieben immer nur gewissermaßen im Nebenamt: ihre
literarische Tätigkeit war nur eine Fußnote und Randglosse zu ihrem
wirklichen Leben. Erst mit dem Verfall der griechischen Kultur, mit dem
Alexandrinertum, beginnt das Bibliothekswesen, die Polyhistorie und die
Vielschreiberei. Auch Homer hat eigentlich nicht für die Griechen
geschrieben, denn seine Dichtungen wurden durch mündliche
Überlieferungen fortgepflanzt, und seine lebendige Wirkung bestand nicht
darin, daß man ihn las, sondern darin, daß man ihn rezitierte.
In der darauffolgenden Zeit, im Mittelalter konnte von öffentlicher Schriftstellerei
überhaupt keine Rede sein, und zwar aus einem sehr betrüblichen Grunde:
weil die meisten Leute nicht lesen konnten. Und übrigens konnten auch
viele Dichter nicht schreiben.
Dann in der Renaissancezeit hatten die Leute ganz andere Dinge
im Kopfe. Zunächst wurde ein großer Teil der Energien vom öffentlichen
Leben absorbiert. Jeder mußte für sich einstehen, man lebte unter dem
Drucke einer fortwährenden Lebensgefahr, ganz Italien war eine
organisierte Anarchie. Das Leben befand sich in fortgesetzter Vibration,
man hatte nicht oft die Möglichkeit, beschaulich im Zimmer zu sitzen.
Sodann: man wollte auch gar nicht. Es drängte jeden hinaus in das
Glücksspiel der politischen Karriere: die Aussicht, Herzog oder Kardinal
zu werden, war eigentlich für jeden begabten und tatkräftigen Menschen
vorhanden. Und endlich: der Ehrgeiz und die Schöpferkraft des Menschen
richtete sich auf die bildende Kunst. Ein großer Mann war der, der
schöne Bildsäulen oder Gemälde machen konnte. Benvenuto Cellini war
einer der populärsten Menschen in ganz Italien, und war doch nur ein
einfacher Goldschmied. Die große aufwühlende Wirkung, die heutzutage ein
Werk wie der »Faust« oder der »Zarathustra« hat, hatte damals eine
Marmorgruppe oder ein Kolossalgemälde. Allerdings verstand man auch
unter einem bildenden Künstler damals etwas anderes als heute. Man
erwartete von ihm nicht
nur eine
besonders treue oder besonders eigenartige Wiedergabe der Wirklichkeit,
sondern auch Gedanken, ein vollständiges Weltbild: seine ganze geistige
Persönlichkeit mit allen ihren Höhen und Tiefen, seine ganze Anschauung
von Gott, Leben und Menschheit mußte in dem Werk enthalten sein. Man
kann daher sagen, daß die führenden Maler und Bildhauer für jene Zeit
genau dasselbe waren, was für uns heute ein führender Schriftsteller
ist. Man dichtete eben damals in anderem Material.
In England, das nicht viel später seine Blüte erreichte, wurden
allerdings vorwiegend Dramen, Gedichte und Abhandlungen produziert.
Aber sie waren dennoch auch dort nicht wesentlich schriftstellerische
Dinge. Sondern: der Ausdruck und Abglanz eines bestimmten bewegten
Lebens. Sie waren nur der Schatten, den die Wirklichkeit warf, und diese
Wirklichkeit war das, worum es sich drehte. Shakespeare war durchaus
kein Schriftsteller; er war ein Theatermensch. Man könnte sagen: er
machte Theaterstücke und schrieb sie nebenher auf, aus dem ganz
mechanischen Grunde, weil die Schauspieler sie sonst nicht hätten
auswendig lernen können. Es wäre Shakespeare niemals eingefallen, ein
großes Drama zu dichten, ohne an eine Aufführung zu denken, wie es
Goethe mehr als einmal getan hat. Erst das achtzehnte Jahrhundert hat
aus Shakespeare eine Sache der Literatur gemacht. In England selbst
wurde er
nicht als
Schriftsteller behandelt, seine Dramen lebten nur als Rollenhefte
weiter. Man hat den Engländern vorgeworfen, sie hätten ihren Shakespeare
nicht zu würdigen gewußt, sonst hätten sie seine Bücher nicht so
verkommen lassen. Aber dieser Vorwurf ist ungerecht: die Unachtsamkeit
ist begründet im Geist der Zeit, man hatte damals noch keinen Respekt
vor geschriebenen Dramen, es fiel niemandem ein, daß diese Schauspiele
auch außerhalb der realen Bühne, eingesargt in gedruckte Bücher, noch
ein Leben haben könnten. Der Schriftsteller war damals noch nicht
erfunden.
Heute aber steht er auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung und
seines Einflusses. Er ist der geistige Repräsentant des
Menschengeschlechts. Er hat fast alle denkenden Berufe in sich
aufgesaugt. Das Organ der Politik ist nicht mehr die Rednertribüne,
sondern die Presse. Das Organ des Handels ist nicht mehr der Marktplatz,
sondern das Kontor, in dem geschrieben wird. ... da also heutzutage
nahezu jeder Mensch, der geistig wirken will, auf das Schreiben
hingewiesen ist, darf es uns nicht verwundern, daß der Dichter, der
dieser Tätigkeit näher steht als irgendein anderer Mensch, heute
Schriftsteller ist, und nichts als Schriftsteller.
Diese ganze Entwicklung ist aber allem Anschein nach im
Begriff, ihren Höhepunkt zu überschreiten. Es ist nicht ausgemacht, daß
die
Literatur
von nun an ein für allemal das wichtigste geistige Ausdrucksmittel
bleiben wird. Zunächst aus einem äußerlichen Grunde. In früheren Zeiten
konnte der Schriftsteller nicht dominieren, weil die Verkehrstechnik zu
unvollkommen entwickelt war. Es gab keine organisierte Post, keine
billigen Transportmittel, keine internationale Gütersekurität. Das
geschriebene Wort hatte keinen wesentlichen Vorsprung vor dem
gesprochenen. Es ist aber nun sehr wohl möglich, daß sich in der
kommenden Zeit gerade das Umgekehrte ereignen wird: der Schriftsteller
wird zurücktreten, weil die Technik zu vollkommen entwickelt ist. Man
wird wieder auf die persönliche Wirkung zurückkommen können. Zunächst
werden die Entfernungen immer geringer: wie schnell und leicht ein
Mensch vorwärtskommen kann, ist nur noch ein praktisches Problem, eine
Kraftfrage; theoretisch ist der Sache gar keine Grenze vorauszusagen.
Ferner stehen Einrichtungen wie Telephon, Grammophon und Kinematograph
ja erst ganz am Anfang ihrer Entwicklung, sie sind der unbeschränktesten
Vervollkommnung fähig. Höchstwahrscheinlich steht uns auch die
Erfindung des Fernsehers bevor. Nimmt man nun alle diese Dinge ein wenig
im Geiste vorweg, so darf man sagen: es ist gar nicht ausgeschlossen,
daß es in hundert Jahren eine Art der publizistischen Wirksamkeit geben
wird, die der Schriftstellerei an Eindringlichkeit,
Vielseitigkeit und Beweglichkeit ebenso überlegen ist wie das Buch und die Tageszeitung dem Kanzelredner und Wanderprediger.
(Aus dem 1912 erschienenen Essayband 'Ecce Poeta')
ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1878-1938)
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