Ein Mann, der Unwahrheit unter entgegengesetzter Überzeugung in guter
Absicht ebenso scharfsinnig als bescheiden durchzusetzen sucht, ist
unendlich mehr wert als ein Mann, der die beste, edelste Wahrheit aus
Vorurteil, mit Verschreiung seiner Gegner, auf alltägliche Weise
verteidigt.
Will es denn eine Klasse von Leuten nie lernen, daß es
schlechterdings nicht wahr ist, daß jemals ein Mensch wissentlich und
vorsetzlich sein selbst verblendet habe? Es ist nicht wahr, sag ich; aus
keinem geringern Grunde, als weil es nicht möglich ist. Was wollen sie
denn also mit ihrem Vorwurfe mutwilliger Verstockung, geflissentlicher
Verhärtung, mit Vorbedacht gemachter Plane, Lügen auszustaffieren, die
man Lügen zu sein weiß? Was wollen sie damit? Was anders, als - - Nein;
weil ich auch ihnen diese Wahrheit muß zugute kommen lassen; weil ich
auch von ihnen glauben muß, daß sie vorsetzlich und wissentlich kein
falsches verleumdrisches Urteil fällen können: so schweige ich und
enthalte mich alles Widerscheltens.
Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu
sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat,
hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht
durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern
sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit
bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz -
Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den
einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich
immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle!
Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! die reine
Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!
(Aus 'Eine Duplik' von 1778)
ZUM GEBURTSTAG DES DICHTERS
Über den Autor (1729-1781)
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