Die
warme Herbstsonne, die mit glitzernden Strahlenfüßchen wie ein
übermütiger Knabe in der luftigen Laubhütte umhersprang, hatte ihn
eingeschläfert; die tolle, ausgelassene Schar der Enkel, die zu Ehren
des Festtages beim Großvater in der Laubhütte gespeist hatte, war wohl
auch etwas zu viel für den alten Herrn gewesen.
Jetzt
drang das laute Jubeln und Jauchzen der Kleinen, welche in die
Haselnussstauden des großen Gartens geraten waren, gedämpft herüber. Nur
Rudi, sonst einer der wildesten, tat heute nicht mit beim fröhlichen
Spiel, der drückte sich scheu und in sich gekehrt in den großen
Korbsessel. Unstet ließ er seine Augen in dem prächtig geschmückten Raum
umherwandern. Über die bunten Teppiche, welche die Wände zierten, über
das lustige Tannengewinde mit den leuchtenden Astern irrte sein Blick,
da die zierlich geflochtenen Blumenkörbchen, die flimmernden Silber-
und Goldpapierketten, die sich durch den schmalen Raum der Laubhütte
zogen – es war wie im Märchen.
Aber
Rudi, der sich wie alle anderen Kinder schon das ganze Jahr auf die
Festtage in der Laubhütte des Großvaters gefreut hatte, wurde des
schönen Tages nicht froh. Immer wieder glitt sein Blick verstohlen von
dem tiefblauen Himmel, der durch den laubumwundenen Bogen des offenen
Daches der Hütte hineinlugte, zu dem schlafenden Großvater hinüber.
Wie ernst er aussah – gar nicht so gütig wie sonst – sollte er am Ende ...
Rudis
Herz begann plötzlich schneller zu schlagen – poch – poch – poch – so
laut pochte es, dass Rudi erschreckt zum Großvater hinüberschaute, ob er
von dem Lärm nicht aufgewacht.
Nein
– Großvater schlief ruhig weiter, der ahnte nicht, was für einen bösen
Enkel er hatte. Er würde es ja auch nie erfahren, versuchte Rudi sich
selbst zu beruhigen; trotzig warf er den Kopf zurück, aber laut und
vernehmlich sprach die Stimme des Gewissens.
„Du hast gelogen – zum ersten Mal in Deinem Leben – und noch dazu Deinen lieben alten Großvater belogen.“
Ja,
er hatte gelogen – als Großvater vorhin seine drei ältesten Enkel
gefragt hatte, ob die auch morgens den Segensspruch über den Feststrauß
und den Paradiesapfel, wie es die religiöse Sitte am Laubhüttenfest
vorschrieb, gesprochen hatten, da hatten die anderen beiden ein helles
freudiges „Ja!“ geantwortet, nur Rudi hatte schnell und verlegen mit dem
Kopf genickt. Und der gute Großvater hatte ihm wie den anderen mit
einem „Brav, mein Sohn.“ über das Haar gestrichen.
Er
hatte sich geschämt, vor allem einzugestehen, dass er heute zu beten
vergessen hatte. Lieber hatte er gelogen – und dabei wusste er doch, wie
verabscheuungswürdig und feige eine Lüge war.
Still
– ganz still war’s in der Laubhütte. Nur das leise Rascheln der
windbewegten Zweige, nur das Summen einer Spätfliege und die friedlichen
gleichmäßigen Atemzüge des Großvaters.
Dort
drüben in der Ecke lehnte von goldigen Sonnenstrahlen eingesponnen der
Feststrauß, daneben die silberne Büchse mit dem Paradiesapfel. Erst
blickten sie zu dem kleinen Sünder herüber.
Und
jetzt – träumte er oder wachte er – da sprang der Feststrauß mit einem
Satz aus seiner Wasserschale heraus, gravitätisch wackelte er auf den
sich verkriechenden Rudi zu. Trotz seiner Furcht schaute Rudi genauer
hin – das war ja gar kein Strauß mehr, drei Weiblein waren es, die
langsam näher und immer näher kamen.
Voran
stolperte die Größte, die hatte ein grünes, fächerartig gefaltetes
Kleid an, auf langem schlanken Hals wiegte sie ihr Köpfchen mit der
grünen Palmenkrone.
Auch
die Zweite trug ein dunkelgrünes Gewand, aus runden, kleinen Blättchen
war es zusammen gewebt und über und über mit weißen Blüten bestreut.
Mitten auf der Stirn aber, und das war das Merkwürdige, hatte sie ein
großes Auge, damit sah sie strafend auf Rudi.
Das von grauenen Silberschleiern umwogte Haupt tief zur Erde geneigt, folgte ihnen demütig und bescheiden die Dritte.
„Töff – töff – töff“ – tönte es plötzlich – was war denn das?
Rudi richtete sich ein wenig empor.
Da
kam im großen Bogen die kleine Silberbüchse, in welcher der
Paradiesapfel gelegen, wie das niedlichste Automobil vorgefahren, und
drinnen saß ein winziges Männlein im gelben Röckchen mit gelbem
verschrumpften Gesicht und langem grünen Bart, seine Augen aber waren
wie zwei kleine schwarze Pfefferkörner.
Rudi
nahm allen Mut zusammen. „Was wollt ihr von mir?“ fragte er mit
zitternder Stimme, denn die Vier waren ihm schon so nahe gekommen, dass
er kaum noch atmen konnte.
Hops
– da sprang das Männlein aus seiner Büchse und griff mit der welken
Hand nach Rudis Herzen. „Au!“ schrie Rudi, aber so sehr das Herz auch
zuckte und sich wehrte, das Männlein ließ es nicht aus den dürren
Fingern.
Sonderbar
war nur, dass Rudi ohne Herz noch atmen und sprechen konnte. „Bin ich
denn jetzt nicht tot?“ fragte er das Männlein ganz erstaunt.
„Naseweis!“
verwies das Männlein ihn bitterböse. „Du hast nur zu reden, wenn du
gefragt wirst. Da – schau her – dies ist Dein Herz, guck hinein.“
Und
Rudi beugte sich tief darüber, da sah er wie in einen blanken Spiegel.
Rosenrot wimmelte es dort unten, fragend sah Rudi auf das Männlein, denn
er traute sich nicht mehr, unaugefordert zu sprechen.
„Das
sind die Eigenschaften deines Herzens“, sagte das Männlein bedächtig
und feierlich, „siehst Du, hier sitzt die Liebe für Eltern und
Verwandte, dort ganz in der Ecke kauert der Fleiß und der Gehorsam, und
dies hier in dem lichten Gewande, das ist Deine Frömmigkeit. Aber schau
nur den hässlichen Fleck auf ihrem reinen Kleide, weißt du wohl auch,
wer denselben gemacht hat.“
Der Knabe senkte verstockt den Kopf. Er wollte nicht antworten, aber eine geheime Macht zwang ihn dazu.
„Meine Lüge.“ sprach er leise.
„Ja.
Deine Lüge.“ kopfnickte das Männlein traurig. „Nicht eher bekommst du
Dein Herz wieder zurück, als bis der hässliche Fleck getilgt ist.“
„Warte,“
rief Rudi erleichtert. „Ich werde Wasser und Seife herholen und
Bimstein. Ja, mit Bimstein kriege ich sogar den schwärzesten Tintenfleck
von den Fingern herunter.“
„Wasser,
Seife und Bimstein nützen nichts.“ meinte das Männlein, und es war
Rudi, als ob es belustigt unter dem langen Bart zuckte, aber gleich war
es wieder ernst. „Hast du noch nie bemerkt, dass der Paradiesapfel die
Form eines Herzen hat?“ fragte er von neuem und schrumpfte noch mehr
zusammen.
Rudi schüttelte den Kopf.
„Gott
hat mir die Form eines Herzens gegeben, dass ich über die Herzen wache; ohne Fehl, ohne Falsch und ohne Flecken sollen sie sein. Nun
schau zu, dass du dein Herz wieder zurückerlangst.“ Damit fasste er
Rudis Herz noch fester und sprang in seine Büchse zurück, nur die grüne
Spitze seiner Zipfelmütze guckte heraus.
Da
wandte sich Rudi an die Schönste und Stattlichste der Weiblein. „Hilf
du mir, den Fleck von meinen Herzen fortzuwaschen.“ bat er.
Sie
tat den Mund auf und sprach: „Wenn unser Bruder, der Paradiesapfel, Dir
Dein Herz genommen, musst du selbst das Mittel finden, den Schandfleck
zu löschen, aber wir Schwestern wollen dich auf den rechten Weg bringen.
Sieh
mich an, als stolze Palme strecke ich mein Haupt zu den Wolken empor,
so sollt auch ihr Menschen zum Höchsten streben. Gerade und aufrecht
gehe ich wie die Wahrheit, so sollt auch ihr nie Recht und Wahrheit
beugen und stets den Mut haben, Euer Unrecht einzugestehen.“
Sie schwieg und Rudi machte ein höchst schuldbewusstes Gesicht.
„Auch an mir, der Myrthe, sollst du dir ein Beispiel nehmen.“ sprach die zweite Schwester mit mahnender Stimme.
„Schau
mir ins Auge!“ Rudi hob den Kopf, aber vor den blendenden Strahlen
ihres einen Auges auf der Stirn musste er den Blick sogleich wieder
senken. „Gib Dir keine Mühe, Du kannst die leuchtende Helle meines
Blickes nicht ertragen, nur schuldlose Menschen können es.“ fuhr sie
fort. „Rein und licht wie die weißen Blüten auf meinem grünen Gewande
soll Dein Herz sein. Und gleich meinen Blättern, welche die Form eines
Auges haben, sollst Du jeden guten Menschen stets frei und offen
anschauen können. Sag, konntest Du Deinem Großvater heute ehrlich in das
alte gütige Auge blicken?“
Immer
tiefer neigte sich Rudis Kopf, und jetzt begannen sich die ersten
glänzenden Tropfen von seinen Wimpern zu lösen. Da hub das silbergraue
Weiblein an: „Ich bin die dritte der Schwestern, am Bachesrand neige ich
meine Weidenzweige tief zur Erde nieder. Bescheidenheit und Demut lehre
ich Euch Menschenkinder. Wer gefehlt hat, soll bescheiden seine
Schwäche eingestehen und demütig die Strafe auf sich nehmen. Weißt Du
noch immer nicht, Rudi, was Du zu tun hast?“
Da begannen Rudis zurückgehaltene Tränen schneller und schneller zu fließen.
„Ja
– ja!“ rief er schluchzend. „Ich will es ja dem Großvater demütig
eingestehen, wie schlecht ich gewesen, offen und ehrlich will ich ihm
ins Auge sehen und mein Haupt wieder frei empor heben – ...“ Tränen
erstickten seine Stimme.
„Brav
gesprochen, Rudi.“ wisperte das gelbe Paradiesapfel-Männlein aus seiner
Büchse heraus. „Du hast das richtige Mittel gefunden. Schau her. Deine
Reuetränen haben den hässlichen Fleck fortgewaschen. Hier hast du dein
Herz zurück.“
„Au!“ – tat das wieder weh. Laut schrie Rudi – er fuhr empor. Ja, wo war er denn?
Er
saß immer noch in seinem Korbsessel in der Laubhütte. Statt des
putzigen gelben Männleins und der drei Weiblein aber stand der Großvater
vor ihm und schaute ihn lächelnd an.
„Langschläfer!“ sagte er und klopfte liebevoll Rudis heiße Wangen. „So ein großer Junge schläft am hellen lichten Tage.“
„Großvater,
ach lieber Großvater.“ unterbrach ihn Rudi. „Du weißt ja gar nicht, wie
schlecht ich bin.“ Und stoßweise kam es heraus, das Schreckliche, dass
er den guten Großvater belogen.
Großvater
war zuerst recht betrübt, aber als er sah, wie leid seinem Enkel das
Unrecht tat, und wie heiß er Besserung gelobte, verzieh er ihm gern. Und
als die übrigen Kinder wieder lachend und jauchzend in die Laubhütte
stürzten, verkroch sich Rudi nicht mehr scheu. Jetzt war er wieder einer
der fröhlichsten.
In
der Ecke der Laubhütte aber stand er still, als ob nichts gewesen wäre,
der Feststrauß und der Paradiesapfel. Nur Rudi sah, wie freundlich er zu
ihm herüberblickte.
(Im 'Wegweiser für die Jugendliteratur' 1911 erschienene Kindergeschichte)
ZUM TODESTAG DER SCHRIFTSTELLERIN
Über die Autorin (1877-1943)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen