Dienstag, 13. Januar 2015

Else Ury: Die erste Lüge

             Großvater war eingenickt.
Die warme Herbstsonne, die mit glitzernden Strahlenfüßchen wie ein übermütiger Knabe in der luftigen Laubhütte umhersprang, hatte ihn eingeschläfert; die tolle, ausgelassene Schar der Enkel, die zu Ehren des Festtages beim Großvater in der Laubhütte gespeist hatte, war wohl auch etwas zu viel für den alten Herrn gewesen.
Jetzt drang das laute Jubeln und Jauchzen der Kleinen, welche in die Haselnussstauden des großen Gartens geraten waren, gedämpft herüber. Nur Rudi, sonst einer der wildesten, tat heute nicht mit beim fröhlichen Spiel, der drückte sich scheu und in sich gekehrt in den großen Korbsessel. Unstet ließ er seine Augen in dem prächtig geschmückten Raum umherwandern. Über die bunten Teppiche, welche die Wände zierten, über das lustige Tannengewinde mit den leuchtenden Astern irrte sein Blick, da die zierlich geflochtenen Blumenkörbchen, die flimmernden Silber- und Goldpapierketten, die sich durch den schmalen Raum der Laubhütte zogen – es war wie im Märchen.
Aber Rudi, der sich wie alle anderen Kinder schon das ganze Jahr auf die Festtage in der Laubhütte des Großvaters gefreut hatte, wurde des schönen Tages nicht froh. Immer wieder glitt sein Blick verstohlen von dem tiefblauen Himmel, der durch den laubumwundenen Bogen des offenen Daches der Hütte hineinlugte, zu dem schlafenden Großvater hinüber.
Wie ernst er aussah – gar nicht so gütig wie sonst – sollte er am Ende ...
Rudis Herz begann plötzlich schneller zu schlagen – poch – poch – poch – so laut pochte es, dass Rudi erschreckt zum Großvater hinüberschaute, ob er von dem Lärm nicht aufgewacht.
Nein – Großvater schlief ruhig weiter, der ahnte nicht, was für einen bösen Enkel er hatte. Er würde es ja auch nie erfahren, versuchte Rudi sich selbst zu beruhigen; trotzig warf er den Kopf zurück, aber laut und vernehmlich sprach die Stimme des Gewissens.
„Du hast gelogen – zum ersten Mal in Deinem Leben – und noch dazu Deinen lieben alten Großvater belogen.“
Ja, er hatte gelogen – als Großvater vorhin seine drei ältesten Enkel gefragt hatte, ob die auch morgens den Segensspruch über den Feststrauß und den Paradiesapfel, wie es die religiöse Sitte am Laubhüttenfest vorschrieb, gesprochen hatten, da hatten die anderen beiden ein helles freudiges „Ja!“ geantwortet, nur Rudi hatte schnell und verlegen mit dem Kopf genickt. Und der gute Großvater hatte ihm wie den anderen mit einem „Brav, mein Sohn.“ über das Haar gestrichen.
Er hatte sich geschämt, vor allem einzugestehen, dass er heute zu beten vergessen hatte. Lieber hatte er gelogen – und dabei wusste er doch, wie verabscheuungswürdig und feige eine Lüge war.
Still – ganz still war’s in der Laubhütte. Nur das leise Rascheln der windbewegten Zweige, nur das Summen einer Spätfliege und die friedlichen gleichmäßigen Atemzüge des Großvaters.
Dort drüben in der Ecke lehnte von goldigen Sonnenstrahlen eingesponnen der Feststrauß, daneben die silberne Büchse mit dem Paradiesapfel. Erst blickten sie zu dem kleinen Sünder herüber.
Und jetzt – träumte er oder wachte er – da sprang der Feststrauß mit einem Satz aus seiner Wasserschale heraus, gravitätisch wackelte er auf den sich verkriechenden Rudi zu. Trotz seiner Furcht schaute Rudi genauer hin – das war ja gar kein Strauß mehr, drei Weiblein waren es, die langsam näher und immer näher kamen.
Voran stolperte die Größte, die hatte ein grünes, fächerartig gefaltetes Kleid an, auf langem schlanken Hals wiegte sie ihr Köpfchen mit der grünen Palmenkrone.
Auch die Zweite trug ein dunkelgrünes Gewand, aus runden, kleinen Blättchen war es zusammen gewebt und über und über mit weißen Blüten bestreut. Mitten auf der Stirn aber, und das war das Merkwürdige, hatte sie ein großes Auge, damit sah sie strafend auf Rudi.
Das von grauenen Silberschleiern umwogte Haupt tief zur Erde geneigt, folgte ihnen demütig und bescheiden die Dritte.
„Töff – töff – töff“ – tönte es plötzlich – was war denn das?
Rudi richtete sich ein wenig empor.
Da kam im großen Bogen die kleine Silberbüchse, in welcher der Paradiesapfel gelegen, wie das niedlichste Automobil vorgefahren, und drinnen saß ein winziges Männlein im gelben Röckchen mit gelbem verschrumpften Gesicht und langem grünen Bart, seine Augen aber waren wie zwei kleine schwarze Pfefferkörner.
Rudi nahm allen Mut zusammen. „Was wollt ihr von mir?“ fragte er mit zitternder Stimme, denn die Vier waren ihm schon so nahe gekommen, dass er kaum noch atmen konnte.
Hops – da sprang das Männlein aus seiner Büchse und griff mit der welken Hand nach Rudis Herzen. „Au!“ schrie Rudi, aber so sehr das Herz auch zuckte und sich wehrte, das Männlein ließ es nicht aus den dürren Fingern.
Sonderbar war nur, dass Rudi ohne Herz noch atmen und sprechen konnte. „Bin ich denn jetzt nicht tot?“ fragte er das Männlein ganz erstaunt.
„Naseweis!“ verwies das Männlein ihn bitterböse. „Du hast nur zu reden, wenn du gefragt wirst. Da – schau her – dies ist Dein Herz, guck hinein.“
Und Rudi beugte sich tief darüber, da sah er wie in einen blanken Spiegel. Rosenrot wimmelte es dort unten, fragend sah Rudi auf das Männlein, denn er traute sich nicht mehr, unaugefordert zu sprechen.
„Das sind die Eigenschaften deines Herzens“, sagte das Männlein bedächtig und feierlich, „siehst Du, hier sitzt die Liebe für Eltern und Verwandte, dort ganz in der Ecke kauert der Fleiß und der Gehorsam, und dies hier in dem lichten Gewande, das ist Deine Frömmigkeit. Aber schau nur den hässlichen Fleck auf ihrem reinen Kleide, weißt du wohl auch, wer denselben gemacht hat.“
Der Knabe senkte verstockt den Kopf. Er wollte nicht antworten, aber eine geheime Macht zwang ihn dazu.
„Meine Lüge.“ sprach er leise.
„Ja. Deine Lüge.“ kopfnickte das Männlein traurig. „Nicht eher bekommst du Dein Herz wieder zurück, als bis der hässliche Fleck getilgt ist.“
„Warte,“ rief Rudi erleichtert. „Ich werde Wasser und Seife herholen und Bimstein. Ja, mit Bimstein kriege ich sogar den schwärzesten Tintenfleck von den Fingern herunter.“
„Wasser, Seife und Bimstein nützen nichts.“ meinte das Männlein, und es war Rudi, als ob es belustigt unter dem langen Bart zuckte, aber gleich war es wieder ernst. „Hast du noch nie bemerkt, dass der Paradiesapfel die Form eines Herzen hat?“ fragte er von neuem und schrumpfte noch mehr zusammen.
Rudi schüttelte den Kopf.
„Gott hat mir die Form eines Herzens gegeben, dass ich über die Herzen wache; ohne Fehl, ohne Falsch und ohne Flecken sollen sie sein. Nun schau zu, dass du dein Herz wieder zurückerlangst.“ Damit fasste er Rudis Herz noch fester und sprang in seine Büchse zurück, nur die grüne Spitze seiner Zipfelmütze guckte heraus.
Da wandte sich Rudi an die Schönste und Stattlichste der Weiblein. „Hilf du mir, den Fleck von meinen Herzen fortzuwaschen.“ bat er.
Sie tat den Mund auf und sprach: „Wenn unser Bruder, der Paradiesapfel, Dir Dein Herz genommen, musst du selbst das Mittel finden, den Schandfleck zu löschen, aber wir Schwestern wollen dich auf den rechten Weg bringen.
Sieh mich an, als stolze Palme strecke ich mein Haupt zu den Wolken empor, so sollt auch ihr Menschen zum Höchsten streben. Gerade und aufrecht gehe ich wie die Wahrheit, so sollt auch ihr nie Recht und Wahrheit beugen und stets den Mut haben, Euer Unrecht einzugestehen.“
Sie schwieg und Rudi machte ein höchst schuldbewusstes Gesicht.
„Auch an mir, der Myrthe, sollst du dir ein Beispiel nehmen.“ sprach die zweite Schwester mit mahnender Stimme.
„Schau mir ins Auge!“ Rudi hob den Kopf, aber vor den blendenden Strahlen ihres einen Auges auf der Stirn musste er den Blick sogleich wieder senken. „Gib Dir keine Mühe, Du kannst die leuchtende Helle meines Blickes nicht ertragen, nur schuldlose Menschen können es.“ fuhr sie fort. „Rein und licht wie die weißen Blüten auf meinem grünen Gewande soll Dein Herz sein. Und gleich meinen Blättern, welche die Form eines Auges haben, sollst Du jeden guten Menschen stets frei und offen anschauen können. Sag, konntest Du Deinem Großvater heute ehrlich in das alte gütige Auge blicken?“
Immer tiefer neigte sich Rudis Kopf, und jetzt begannen sich die ersten glänzenden Tropfen von seinen Wimpern zu lösen. Da hub das silbergraue Weiblein an: „Ich bin die dritte der Schwestern, am Bachesrand neige ich meine Weidenzweige tief zur Erde nieder. Bescheidenheit und Demut lehre ich Euch Menschenkinder. Wer gefehlt hat, soll bescheiden seine Schwäche eingestehen und demütig die Strafe auf sich nehmen. Weißt Du noch immer nicht, Rudi, was Du zu tun hast?“
Da begannen Rudis zurückgehaltene Tränen schneller und schneller zu fließen.
„Ja – ja!“ rief er schluchzend. „Ich will es ja dem Großvater demütig eingestehen, wie schlecht ich gewesen, offen und ehrlich will ich ihm ins Auge sehen und mein Haupt wieder frei empor heben – ...“ Tränen erstickten seine Stimme.
„Brav gesprochen, Rudi.“ wisperte das gelbe Paradiesapfel-Männlein aus seiner Büchse heraus. „Du hast das richtige Mittel gefunden. Schau her. Deine Reuetränen haben den hässlichen Fleck fortgewaschen. Hier hast du dein Herz zurück.“
„Au!“ – tat das wieder weh. Laut schrie Rudi – er fuhr empor. Ja, wo war er denn?
Er saß immer noch in seinem Korbsessel in der Laubhütte. Statt des putzigen gelben Männleins und der drei Weiblein aber stand der Großvater vor ihm und schaute ihn lächelnd an.
„Langschläfer!“ sagte er und klopfte liebevoll Rudis heiße Wangen. „So ein großer Junge schläft am hellen lichten Tage.“
„Großvater, ach lieber Großvater.“ unterbrach ihn Rudi. „Du weißt ja gar nicht, wie schlecht ich bin.“ Und stoßweise kam es heraus, das Schreckliche, dass er den guten Großvater belogen.
Großvater war zuerst recht betrübt, aber als er sah, wie leid seinem Enkel das Unrecht tat, und wie heiß er Besserung gelobte, verzieh er ihm gern. Und als die übrigen Kinder wieder lachend und jauchzend in die Laubhütte stürzten, verkroch sich Rudi nicht mehr scheu. Jetzt war er wieder einer der fröhlichsten.
In der Ecke der Laubhütte aber stand er still, als ob nichts gewesen wäre, der Feststrauß und der Paradiesapfel. Nur Rudi sah, wie freundlich er zu ihm herüberblickte.

(Im 'Wegweiser für die Jugendliteratur' 1911 erschienene Kindergeschichte)

ZUM TODESTAG DER SCHRIFTSTELLERIN

Über die Autorin (1877-1943)

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