Im Frühjahr 1802, ein Jahr früher als
Wilhelm, der um diese Zeit lange und gefährlich kränkelte, bezog ich die
Universität Marburg. Die Trennung von ihm, mit dem ich stets in einer
Stube gewohnt und in einem Bett geschlafen hatte, gieng mir sehr nahe;
allein es galt der geliebten Mutter, deren Vermögen fast
zusammengeschmolzen war, durch eine zeitige Beendigung meiner Studien
und den Erfolg einer gewünschten Anstellung einen Theil ihrer Sorge
abnehmen und einen kleinen Theil der grossen Liebe, die sie uns mit der
standhaftesten Selbstverleugnung bewies, ersetzen zu können. Jura
studierte ich hauptsächlich, weil mein seel. Vater ein Jurist gewesen
war und es die Mutter so am liebsten hatte; denn was verstehn Kinder
oder Jünglinge zu der Zeit, wo sie solche Entschlüsse fest und
entschieden fassen, von der wahren Bedeutung eines solchen Studiums? Es
liegt aber in diesem Haften bei dem Stande des Vaters
an sich etwas Natürliches, Unschädliches und sogar Rathsames. In viel
späteren Jahren hätte mich zu keiner andern Wissenschaft Lust
angewandelt, als etwa zur Botanik. Der seel. Vater selbst hatte auch
gewissermassen vorgearbeitet und mir noch vor dem zehnten Jahr allerhand
Definitionen und Regeln aus dem Corpus Juris eingeprägt, er
hatte auch wohl zum dereinstigen Gebrauch seiner Kinder aus seiner
Praxis merkwürdige Fälle mit sauberer Hand aufgeschrieben. Zu Marburg
musste ich eingeschränkt leben; es war uns, aller Verheissungen
ungeachtet, nie gelungen, die geringste Unterstützung zu erlangen,
obgleich die Mutter Wittwe eines Amtmanns war, und fünf Söhne für den
Staat gross zog; die fettesten Stipendien wurden daneben an meinen
Schulkameraden von der Malsburg ausgetheilt, der zu dem vornehmen
hessischen Adel gehörte und einmal der reichste Gutsbesitzer des Landes
werden sollte. Doch hat es mich nie geschmerzt, vielmehr habe ich oft
hernach das Glück und auch die Freiheit mässiger Vermögensumstände
empfunden. Dürftigkeit spornt zu Fleiss und Arbeit an, bewahrt vor
mancher Zerstreuung und flösst einen nicht unedlen Stolz ein, den das
Bewusstseyn des Selbstverdienstes, gegenüber dem, was andern Stand und
Reichthum gewähren, aufrecht erhält. Ich möchte sogar die Behauptung
allgemeiner fassen, und vieles von dem, was Deutsche überhaupt geleistet
haben, gerade dem beilegen, dass sie kein reiches Volk sind. Sie
arbeiten von unten herauf und brechen sich viele eigenthümliche Wege,
während andere Völker mehr auf einer breiten, gebahnten Heerstrasse
wandeln. In Marburg hörte ich nach einander bei Bering Logik und
Naturrecht (ohne aus beiden wahre Frucht zu ziehen); bei Weiss
Institutionen, Pandekten, zuletzt auch ein lat. Examinatorium; bei
Erxleben
Pandekten und Canonicum, bei Robert Reichsgeschichte, Staatsrecht, Lehnrecht und die Practica; bei Bauer deutsches Privatrecht und Criminale;
unter diesen allen zog mich wohl der muntere und gelehrte Vortrag von
Weiss am meisten an, bei Erxleben herrschte Eintönigkeit und eine
bereits veraltende Manier. Was kann ich aber von Savigny's Vorlesungen
anders sagen, als dass sie mich auf's gewaltigste ergriffen und auf mein
ganzes Leben und Studieren entschiedensten Einfluss erlangten? Ich
hörte bei ihm Winter 1802 bis 1803, juristische Methodologie, sowie
Intestaterbfolge (das im Sommer 1802 von ihm gelesene testamentarische
Erbrecht wurde aus Heften anderer Studenten abgeschrieben und
nachgeholt); Sommer 1803 römische Rechtsgeschichte, Winter 1803–4
Institutionen und Obligationenrecht. Im Jahre 1803 war das Buch über den
Besitz erschienen, welches begierig gelesen und studiert wurde. Savigny
pflegte damals in seinen Kollegien den Zuhörern die Interpretation
einzelner schwieriger Gesetzstellen aufzugeben und die eingegangenen
Arbeiten erst schriftlich auf dem eingereichten Bogen selbst und dann
öffentlich zu rezensiren. Einer meiner ersten Aufsätze betraf die Collation,
und ich hatte die darin aufgestellte Frage vollkommen begriffen und
richtig gelöst; welche unbeschreibliche Freude mir das machte und
welchen neuen Eifer das meinen Studien gab, wäre zu bemerken unnöthig.
Das Ueberbringen dieser Ausarbeitungen veranlasste nun öftere Besuche
bei Savigny. In seiner damals schon reichen und auserwählten Bibliothek
bekam ich dann auch andere nicht juristische Bücher zu sehen, z.B. die
Bodmer'sche Ausgabe der deutschen Minnesinger, die ich später so oft in
die Hand nehmen sollte, und auf welche Tieks Buch und dessen
hinreissende Vorrede mich gespannt gemacht hatte. Im Sommer
1804 verliess Savigny die Universität um eine literarische Reise nach Paris anzutreten.
Je älter man wird, desto leichter in Versuchung
geräth man, die Zeit seiner Jugend in Vergleich mit dem später erlebten
zu erheben und für musterhafter zu halten. Aus den Jünglingsjahren sind
wir uns der ersten Kraft und des reinsten Willens am sichersten bewusst,
und es kommt uns da auch von andern überall entgegen. Ich möchte nun
auch den damals unter den Marburger Studierenden waltenden Geist rühmen;
es war im ganzen ein frischer, unbefangener; Wachler's freimüthige
Vorlesungen über Geschichte und Literaturgeschichte machten auf die
Mehrzahl lebendigen Eindruck, und besonders erfreute ein Publicum, das
er im grossen öffentlichen Hörsaal wöchentlich las, sich eines
ungetheilten Beifalls. Die Obergewalt des Staates hat seitdem merklich
mehr in die Aufsicht der Schulen und Universitäten eingegriffen. Sie
will sich ihrer Angestellten fast allzu ängstlich versichern und wähnt,
dies durch eine Menge von zwängenden Prüfungen zu erreichen. Mir scheint
es, als ob man von der Strenge solcher Ansicht in Zukunft wieder
nachlassen werde. Zu geschweigen, dass sie der Freiheit des sich
aufschwingenden Menschen die Flügel stutzt und einem gewissen, für die
übrige Zeit des Lebens wohlthätigen, harmlosen Sich gehen lassen können,
das hernach doch nicht wiederkehrt, Schranken setzt; so ist es
ausgemacht, dass, wenn auch das gewöhnliche Talent messbar seyn mag, das
ungewöhnliche nur schwer gemessen werden kann, das Genie vollends gar
nicht. Es entspringt also aus den vielen Studienvorschriften, wenn sie
durchzusetzen sind, einförmige Regelmässigkeit, mit welcher der Staat in
schwierigen Hauptfällen doch nicht berathen ist. Wahr ist es, das ganz
schlechte wird dadurch aus Schule und Universität abgewehrt, aber
vielleicht wird auch das ganz gute und ausgezeichnete dadurch gehemmt
und zurückgehalten. Im Durchschnitt betreten jetzt die Schüler die
Akademie mit gründlicheren Kenntnissen, als vormals; aber im
Durchschnitt geht dennoch daraus nur gewisse Mittelmässigkeit der
Studien hervor. Es ist alles zu viel vorausgesehn und vorausgeordnet,
auch im Kopf der Studierenden. Die Arbeit des Semesters nimmt unbewusst
ihre Richtung nach dem Examen; der Student muss alle Kollegia hören,
worüber er Zeugnisse beizubringen hat, ohne das würde er manche nicht
gehört haben, entweder weil ihn der sie vortragende Professor nicht
anzieht, oder weil ihn seine Neigung anderswohin lenkt. Dagegen bleibt
ihm beinahe keine Zeit übrig diejenigen zu hören, die ihm nicht
vorgeschrieben sind. Der Staat hat dadurch gewisse Vorlesungen gleichsam
zu offiziellen gestempelt und die übrigen, die nebenbei gehört werden
können, herabgesetzt. Ganz etwas anders ist, wenn der Student blos auf
seine Hand und nach seiner Tradition einen ähnlichen Unterschied
zwischen Brotkollegien und den übrigen aufstellte, denn davon konnte
sich jeder so viel Dispensationen und Ausnahmen machen, als er Lust
hatte. Möge es nur den Professoren selbst niemals vorgeschrieben werden,
was und wie sie lesen sollen!
Januar 1805 traf durch Weiss ein
unerwartetes Anerbieten ein. Savigny schlug mir vor, ungesäumt nach
Paris zu kommen, und ihm dort bei seinen literarischen Arbeiten zu
helfen. Wiewohl ich in meinem letzten halben Jahr studierte und gedachte
auf Ostern oder im Sommer abzugehen, so war doch die Aussicht einer
näheren Verbindung mit Savigny selbst und die Reise nach Frankreich
reizend genug, dass ich mich gleich entschied und nichts Eilenderes zu
thun hatte, als Briefe an Mutter und Tante abzusenden, die mir ihre
Einwilligung erbitten sollten. Wenig Wochen darauf sass ich schon im
Postwagen und traf über Mainz, Metz und Chalons Anfangs Februar
glücklich zu Paris ein. Die liebe Mutter war jede Nacht aus dem Bett
aufgestanden, um nach dem kalten Wetter zu schauen, was mir später
einmal die Schwester erzählte; Frankreich schien ihr ganz aus dem
Bereich und sie hatte nur mit heimlicher Angst ihren Willen zu der Reise
gegeben. Ich befand mich aber vortrefflich aufgehoben und verlebte das
Frühjahr und den Sommer auf die angenehmste und lehrreichste Weise. Was
ich von Savigny empfieng, überwog bei weitem die Dienste, die ich ihm
leisten konnte, durch eine öffentliche Anerkennung derselben in der
Vorrede zum ersten Bande der Geschichte des römischen Rechts hat er mir
viele Jahre nachher die grösste Freude zubereitet. Auch ist ein
ununterbrochen fortgesetzter Briefwechsel die Folge unserer näheren
Bekanntschaft gewesen. September 1805 wurde die Heimreise angetreten und
Ende des Monats traf ich mit Wilhelm, den ich zu Marburg mitgenommen
hatte, gesund und vergnügt bei der Mutter in Kassel ein, die
unterdessen, damit sie ihr Alter in ihrer Kinder Mitte ruhig verleben
könnte, aus Steinau nach Kassel gezogen war.
Um meine Anstellung wurde sich nun gleich noch
denselben Winter beworben. Ich wünschte Assessor oder Sekretär bei der
Regierung zu werden, aber alles war versperrt, und mit genauer Noth
erlangte ich endlich den Akzess beim Sekretariat des Kriegskollegiums
und 100 Rthlr. Gehalt (ohngefähr Jan. 1806). Die viele und geistlose
Arbeit wollte mir wenig schmecken, wenn ich sie mit der
verglich, die ich ein Vierteljahr vorher zu Paris verrichtete, und gegen
die neumodische Pariser Kleidung musste ich in steifer Uniform mit
Puder und Zopf stecken. Dennoch war ich zufrieden und suchte alle meine
Musse dem Studium der Literatur und Dichtkunst des Mittelalters
zuzuwenden, wozu die Neigung auch in Paris durch Benutzung und Ansicht
einiger Handschriften, sowie durch den Ankauf seltener Bücher angefacht
worden war.
Auf diese Weise verstrich nicht völlig ein Jahr,
als ungeahnte Stürme über unser Vaterland hereinbrachen, die auch mich
betreffen und aus dem kaum betretenen Wirkungskreise stossen sollten.
Gleich nach der feindlichen Okkupation verwandelte sich das Departement
des Kriegskollegiums, wobei ich den Dienst zu versehen hatte, in eine
für's ganze Land er richtete Truppenverpflegungskommission. Mit der
französischen Sprache konnte ich mir besser als die übrigen helfen, und
ein grosser Theil der lästigsten Geschäfte fiel auf meine Schultern, so
dass ich ein halbes Jahr weder Tag noch Abend Ruhe hatte. Müde, mich mit
den franz. Kommissärs und Verwaltungsbeamten, die uns damals
überschwemmten, länger zu befassen und fest entschlossen, bei der neu
bevorstehenden Organisation um keinen Preis in diesem Fach angestellt zu
bleiben, nahm ich, so bald es angieng, meine Entlassung, fand mich nun
aber eine Zeit lang wieder ausser Diensten und unfähiger als vorher, zur
Erleichterung der Mutter und der Geschwister beizutragen. Ich glaubte
um einen Posten bei der öffentlichen Bibliothek in Kassel werben zu
können, da ich mich theils in das Lesen von Handschriften eingeübt,
theils durch Privatstudien mit der Geschichte der Literatur vertrauter
gemacht hatte, auch wohl fühlte, dass ich in diesem Fache grössere
Fortschritte
thun würde, während mir die Erlernung des französ. Rechts, in das sich
unsere Jurisprudenz zu verwandeln drohte, ganz verhasst war. Allein die
gewünschte Stelle wurde einem andern zu Theil, und nachdem das
kummervolle Jahr 1807 vergangen und das neue mit stets getäuschten
Aussichten begonnen war, hatte ich bald den tiefsten Schmerz zu
empfinden, der mich in meinem ganzen Leben betroffen hat. Den 27. Mai
1808 starb, erst 52 Jahr alt, die beste Mutter, an der wir alle mit
warmer Liebe hiengen, und nicht einmal mit dem Troste, eins ihrer sechs
Kinder, die traurig ihr Sterbebett umstanden, versorgt zu wissen. Hätte
sie nur noch wenige Monate gelebt, wie innig würde sie sich meiner
verbesserten Lage erfreut haben.
Ich war durch Joh. v. Müller's Empfehlung dem
damaligen Kabinetssekretär des Königs Cousin de Marinville bekannt und
als tauglich zur Verwaltung der Privatbibliothek, die in Wilhelmshöhe
aufgestellt war, vorgeschlagen worden. Es muss an andern begünstigten
Mitbewerbern gefehlt haben, sonst wäre mir schwerlich eine solche
Stelle, wie es den 5. Juli 1808 wirklich geschah, zu Theil geworden.
Meine Fähigkeit dazu war von Niemand geprüft. Die ganze Instruktion des
königl. Kabinetssekretärs bestand in den Worten: vous ferez mettre en grands caractères sur la porte: Bibliothèque particulière du Roi.
Ich hatte nun alsbald 2000 Franken Gehalt, der sich nach einigen
Monaten, vermuthlich weil man mit mir zufrieden war, auf 3000 erhöhte.
Nachdem wieder einige Zeit verflossen war, kündigte mir eines Morgens
der König selbst an, dass er mich zum Auditeur au Conseil d'Etat ernannt
habe, doch solle ich die Bibliotheksstelle daneben und hauptsächlich
bekleiden (17. Febr. 1809). Das Amt eines Auditors beim Staatsrathe galt
damals für ein
besonderes Glück und führte leicht zu höheren Stufen. Da es überdem
meine Besoldung um 1000 Fr. mehrte, so genoss ich nun einen Gehalt von
über 1000 Rthlr., der ich ein Jahr zuvor keinen Pfennig bezogen hatte,
und alle Nahrungssorgen verschwanden.
Dabei war mein Amt als Bibliothekar keineswegs
lästig, ich hatte mich blos einige Stunden in der Bibliothek oder im
Kabinet aufzuhalten, konnte auch während dieser nach Besorgung des neu
einzutragenden ruhig für mich lesen oder exzerpieren. Bücher oder
Nachsuchungen in Büchern wurden vom König nur selten verlangt, an Andere
wurde aber gar nichts ausgeliehen. Die ganze übrige Zeit war mein, ich
verwandte sie fast unverkümmert auf das Studium der altdeutschen Poesie
und Sprache. Denn der Staatsrath machte mir, ausser dass ich in
gestickter Staatsuniform den Sitzungen beiwohnen musste, wenig zu
schaffen und bald merkte ich, dass, wenigstens wenn der König nicht
persönlich den Vorsitz hatte, ich auch in den Sitzungen nicht immer zu
erscheinen nöthig hatte. Von allen Gesellschaften wusste ich mich
auszuschliessen und lebte, wenn man hinzurechnet, dass der König oft
Monate lang abwesend war, dann das ungestörteste Leben. Von dem König
kann ich nicht übel reden; er benahm sich gegen mich immer freundlich
und anständig, er schien, besonders in den letzten Jahren, zu mir, als
dem einzigen Deutschen im Kabinet, weniger Zutrauen zu haben, als zu den
übrigen Angestellten, die sämmtlich Franzosen waren; und ich finde das
natürlich. Vielleicht wäre ich doch von der Stelle entfernt worden, wenn
mich nicht der Kabinetssekretär Bruguiere (nachmals Baron von Sorsum),
der bald jenem Cousin de Marinville nachfolgte, gehalten hätte. Dieser
war ein gebildeter Mann, selbst
Schriftsteller und in der englischen Literatur, auch in der
orientalischen, soweit man es aus Uebersetzungen seyn kann, gut belesen;
gegen mich bewies er sich besonders freundschaftlich und ich habe ihn
später zu Paris wieder gesehen. Er ist vor vier oder fünf Jahren
verstorben.
Widriges kam aber doch auch dazwischen.
Eines Morgens sollte der Saal im Wilhelmshöher (damals einfältig genug
Napoleonshöher) Schloss, der die Bibliothek enthielt, schnell zu andern
Zwecken umgeschaffen werden. Auf das Unterbringen der Bücher anderswo
war nicht der mindeste Bedacht genommen. Auf der Stelle musste ich in
anderthalb Tagen alle Schränke räumen, alle Bücher über einander werfen,
und so gut oder übel das gehen wollte, in einen grossen beinahe dunklen
Bodenraum schleppen lassen. Da lag nun das, wofür mein Amt geschaffen
worden war, in leidigster Unordnung. Bald darauf wurden jedoch einige
tausend Bände, die man für die nützlichsten hielt, ausgesucht, um im
Kasseler Schloss zu den andern, die sich schon früher dort befanden,
aufgestellt zu werden. Dort stand ihnen aber eine neue noch grössere
Gefahr bevor. Im Nov. 1811 gerieth um Mitternacht das Schloss in Brand;
als ich hineilte, standen gerade die Gemächer unter dem
Bibliothekszimmer in voller Flamme. In Rauch und Qualm wurden alle
Bücher von Leibgardisten, die Lichter trugen, aus den Fächern genommen,
in grosse Leinentücher gepackt und auf den Schlossplatz geschüttet.
Neben und unter uns knisterte alles. Im Heruntergehen verirrte ich mich
auf einer der kleinen Wendeltreppen, und musste ein Paar Minuten nach
dem rechten Ausgang im Dunkeln umhertappen. Die wenigsten Bücher, was zu
verwundern ist, giengen verloren, ehe aber neue Schränke bestellt und
gemacht
worden und ein neuer Ort für sie ausgewählt war, lag alles auf einem Haufen. Das waren nicht meine angenehmsten Tage.
1813, als der Krieg dem Königreich drohend näher
rückte, wurde Befehl ertheilt, die kostbarsten Bücher zu Kassel und
Wilhelmshöhe einzupacken, um sie nach Frankreich zu versenden. Ich fuhr
mit Bruguiere nach Wilhelmshöhe, der besonders auf die Kupferstichwerke
drang, und suchte wenigstens die Sammlung von Handschriften, die sich
auf hessische Kriegsgeschichte bezogen und vom 30jährigen Krieg an
begannen (es war Eigenhändiges von Gustav Adolph, von Amalie Elisabeth
u.s.w. darunter), als unwichtig darzustellen. Auch blieben sie
uneingepackt. Die eingepackten aber bekam ich erst 1814 zu Paris wieder
zu sehen, als sie mir derselbe Huissier (er hiess Leloup), der sie hatte
packen helfen, dort für den Kurfürsten wieder ausliefern musste. Der
Mann machte grosse Augen als er mich erblickte.
Die endliche, kaum gehoffte Rückkehr des alten
Kurfürsten, gegen Ende des Jahres 1813, war ein unbeschreiblicher Jubel
und für mich war die Freude nicht kleiner, auch die geliebte Tante, die
ich nur einmal in Gotha besucht hatte, im Gefolge des Kurfürsten wieder
einziehen zu sehen. Wir liefen an dem offnen Wagen durch die Strassen
hin, die mit Blumengewinden behangen waren. In jenen Monaten war alles
in aufgeregter Bewegung. Ich stand doch noch gut angeschrieben und kam
in Vorschlag, als Legationssekretär den hessischen Gesandten zu
begleiten, der in's grosse Hauptquartier der verbündeten Heere
abgeschickt werden sollte. Meine Ernennung ist vom 23. Dez. 1813. Zwei
meiner Brüder machten den Feldzug in der Landwehr
mit, sie waren aus München und Hamburg, wo sie gelebt hatten, dazu in's
Vaterland herbeigeeilt. Der gewählte Gesandte hiess Graf Keller, von
Geburt kein Hesse, ein schon bejahrter und gutherziger, zuweilen
eigensinniger, auffahrender Mann, dem der recht hessische Trieb fehlte,
aber wer hätte in jener grossartigen Zeit nicht jeden Anstoss übersehen?
Ich reiste um Neujahr 1814 von Kassel ab, über Frankfurt, Darmstadt,
Karlsruhe, Freiburg, Basel, Mümpelgart, Vesoul, Langres, Chaumont,
Troyes. Von da gieng es zum Theil wieder in eilender Flucht rückwärts
bis Dijon; dann nach vierzehntägiger Rast neuerdings vorwärts über
Chatillon, Troyes, Nogent in das frisch eingenommene Paris (April 1814).
Vor zehn Jahren kein Gedanke, so bald und auf diesem Wege nochmals
dahin zu kommen. Unterwegs hatte ich nicht versäumt alle Bibliotheken zu
besuchen, und jeder freie Augenblick in Paris wurde benutzt, um in den
Handschriften zu arbeiten. Mittlerweile war auch mein nachheriger
College Völkel zu Paris eingetroffen, um die aus Hessen weggeschleppten
Antiken und Gemälde zurückzufordern; ich half die entführten Bücher
wieder erlangen, wie ich schon erwähnt habe. Im Sommer trat ich die
Rückreise nach Kassel an, und rüstete mich bald von neuem zu der Fahrt
nach dem Wiener Kongress. In Wien brachte ich zu von Okt. 1814 bis Juni
1815, eine Zeit, die auch für meine Privatarbeiten nicht nutzlos
verstrich, und mir Bekanntschaft mehrerer gelehrten Männer verschaffte.
Von besonderm Vortheil für meine Studien war, dass ich mich damals auch
mit der slavischen Sprache anfieng bekannt zu machen. Aus Kassel
empfieng ich aber die Trauerbotschaft von dem Tode der lieben Tante
Zimmer (15. April 1815), der einzigen älteren Verwandtin, die uns übrig
geblieben war, und der
ich so viel zu danken habe. Kaum war ich zu den Geschwistern
heimgekehrt, als mich, und diesmal eine Requisition der preuss. Behörde,
in das zum zweitenmal eroberte Paris rief, ich sollte die aus einigen
Gegenden Preussens geraubten Handschriften ermitteln und
zurückverlangen, nebenbei auch einige Geschäfte des Kürfürsten besorgen,
der in dem Augenblick keinen Bevollmächtigten dort hatte. Zwar jener
Auftrag brachte mich in ein unangenehmes Verhältniss zu den Pariser
Bibliothekaren, die mich früher sehr gefällig behandelt hatten. Jetzt
aber wurde einmal Langlès, den ich besonders drängte, so bitter, dass er
mir nicht mehr gestatten wollte, auf der Bibliothek zu arbeiten, was
ich in Nebenstunden immer zu thun fortfuhr; nous ne devons plus souffrir ce Mr. Grimm, qui vient tous les jours travailler ici et qui nous enlève nos manuscrits,
sagte er öffentlich. Ich machte die Handschrift, die ich eben auszog,
zu, gab sie zurück, und gieng nicht mehr hin um zu arbeiten, sondern nur
um zu beendigen, was mir aufgetragen war. Zu Paris, wo ich diesmal
ordentlicher (bei einem Advocaten in der rue de l'université)
einquartiert war und ein tägliches Kostgeld von der Stadt bezog,
erfreute ich mich besonders des näheren Umgangs mit dem preuss. Geh.
Kammergerichtsrath Eichhorn, der gerade eine schwere Krankheit
auszustehen hatte. Erst im Dezember giengen meine Geschäfte glücklich zu
Ende und ich empfieng später zu Kassel ein Schreiben des Fürsten von
Hardenberg (31. Aug. 1816), das mir Zufriedenheit mit meiner Verrichtung
bezeugte.
Von jetzt an beginnt die ruhigste, arbeitsamste
und vielleicht auch die fruchtbarste Zeit meines Lebens. Nach Strieders
erfolgtem Tode, hatte ich endlich den früher gewünschten Platz in der
Kasseler Bibliothek erlangt, an der
auch nun Wilhelm ein Jahrlang früher arbeitete. Eine Anstellung bei dem
Bundestag zu Frankfurt, als Gesandtschafts-Sekretär, hatte ich
entschieden abgelehnt. Ich wurde also zweiter Bibliothekar (16. April
1816) und behielt den bisherigen Gehalt von 600 Rthlr., Völkel war zum
ersten Bibliothekar befördert worden. Die Bibliothek ist jeden Tag drei
Stunden geöffnet, alle übrige Zeit konnte ich nach Lust studieren, und
wurde nur durch kleine Nebenämter, wie das mir grösstentheils
aufgebürdete Zensorische, aber nicht bedeutend gestört. Mit meinem
Kollegen Völkel lebte ich auf freundschaftlichem Fuss, nichts hätte
gefehlt, als eine mässige, und gerechte Gehaltszulage für mich und
meinen Bruder, und es würden uns in dieser Hinsicht wenig Wünsche übrig
geblieben seyn. Schnell verflossen die Jahre.
Nach dem Tode des höchstseel. Kurfürsten
traten in Verwaltung der Bibliothek Veränderungen ein. Während vorher
die Bibliothekare den ausgeworfenen Fonds jährlich baar empfangen und
darüber der Finanzkammer Rechnung abgelegt hatten, wurde nunmehr die
Bibliothek unter den Befehl des Oberhofmarschallamtes gestellt, von
diesem sollte in Zukunft jede zu leistende Zahlung verfügt und bewirkt
werden. Ob dadurch der herrschaftliche Dienst gewonnen hat, will ich
nicht beurtheilen; so viel ist sicher, dass dadurch alle Zahlungen
aufgehalten und dass dem Bibliothekar die Hände gebunden wurden,
vortheilhafte Ankäufe gleich zu benutzen, wenn er nicht das Geld aus
seiner eigenen Tasche vorschiessen wollte. Jene Behörde forderte aber
hernach ausserdem, dass zum Behuf einer nothwendigen Controle ihr eine
Abschrift des gesammten Katalogs (der aus 79 oder 80 Folianten bestand)
binnen kurzer Zeit eingereicht würde. Gegenvorstellungen fruchteten
nichts, und
wir mussten, der alte Völkel, mein Bruder und ich, wirklich Hand anlegen
und ohngefähr anderthalb Jahre die edelsten Stunden auf diese
Abschrift, deren Zweck wir nicht einsahen, verwenden. Man arbeitet noch
alles gern, was irgend einen Nutzen hat, aber dies Geschäft, gestehe
ich, ist mir das sauerste in meinem Leben geworden, und hat mich Stunden
und Tage lang verstimmt. Nützlich für die Bibliothek wurde die von dem
jetzt regierenden Kurfürsten befohlene Abgabe eines Theils der
Wilhelmshöher an die unsrige (etwa 2000 Bände); manche alte Bekannte
giengen mir von neuem durch die Hand. Im Januar 1829 starb Völkel, dem
ich ein längeres Leben zugetraut und sicher von Herzen gegönnt hätte.
Wir bildeten uns ein, gerechte Ansprüche auf Beförderung zu haben, ich
war 23 Jahre im Dienst, ich hatte seit 1816 niemals um Zulage angehalten
und niemals eine erlangt; auch hoffte ich der Bibliothekarstelle keine
Unehre gemacht zu haben. Allein es schlug anders aus. Der, soviel ich
mich erinnere, im Jahre 1819 oder 1820 von Marburg nach Kassel als
Historiograph versetzte Professor Rommel erhielt zu jener Zeit daneben
die Aufsicht über die Urkunden des Hofarchivs, unter dem Titel eines
Staatsarchivdirektors. Vor der französ. Okkupation hatte sich das
Hofarchiv in einer gewölbten Kammer des alten Schlosses befunden, war
also 1814 nothwendig in einem andern Lokal untergebracht worden, wo es
verblieb, bis 1824 oder 1825 die einem Zimmer des Museums die
Wachsbilder der alten Landgrafen weggeräumt wurden; das Zimmer wurde
hernach zur Aufnahme des Archivs auserlesen. Diese lockere Verbindung
zwischen Museum und Archiv sollte sich nunmehr zu einer festen stärken.
Herr von Rommel (seit 1828 in den Adel des Kurfürstenthums erhoben)
wurde mit Beibehaltung
seiner bisherigen Posten auch zum Direktor der Bibliothek und des
Museums bestellt. Ich blieb, was ich seit 1816 war, zweiter
Bibliothekar, mein Bruder, was er seit 1815 war, Sekretär, jeder von uns
empfieng 100 Rthlr. Zulage. Hiermit war uns beiden weitere Aussicht auf
künftige Beförderung abgeschnitten. Die Sache hätte, auch wenn von
Rommels Ansprüche berücksichtigt werden sollten, auf mehr denn eine Art
anders eingerichtet werden können. Zum Beispiel, er hätte die Direktion
des Museums erhalten mögen, wenn ich den Posten eines Archivarius, mit
angemessenem Gehalt bekommen hätte, und mein Bruder zum Bibliothekar
ernannt worden wäre. Einem Archiv vorzustehn, und ein so reiches und
wenig benutztes, wie das hessische, nach Lust bearbeiten zu können,
hätte meiner innern Neigung noch mehr zugesagt, als die
Bibliothekarsstelle. Der alte, simple Archivariustitel hätte mir auf
Lebenslang genügt, und keiner Direktion so wenig wie früherhin es
bedurft. Indessen bin ich nie von jemand gefragt worden und hütete mich
wohl Vorschläge verlauten zu lassen. Ich hatte mich ganz einfach um die
erste Bibliotheksstelle gemeldet, als um das Gerechteste und was sich
beinahe von selbst verstand. Die getroffene neue, alle bescheidenen
Wünsche vernichtende Einrichtung musste mich tief kränken. Ich hatte
einen im Jahr 1816 durch Eichhorn indirekt mir geschehenen Antrag einer
Professur zu Bonn geradezu abgelehnt und keiner Art Vortheil daraus zu
ziehen gesucht, weil ich in Hessen zu leben und zu sterben dachte.
Damals aber wäre es mir gewiss leichter und vortheilhafter gewesen, mich
der akademischen Laufbahn zu widmen, als später. Unter der Hand geschah
uns nun im Sommer 1829 der Antrag, einem ehrenvollen Rufe nach
Göttingen zu folgen. Alte zu Rath gezognen
Freunde ermahnten dazu aus Kräften. Die geliebte und gewohnte Heimath
aufzugeben schien uns hart und schmerzhaft wie vorher, aus dem Geleise
genau bekannter Beschäftigungen und einer uns Frucht bringenden Musse
herauszutreten, fast unerträglich. Allein auch in dem Verhältniss zu
einem neuen Vorgesetzten, der wo er eingreifen oder schonen sollte,
selbst noch nicht zu wissen schien, lag etwas Peinliches und
Unheimliches. In dieser Stimmung folgten wir dem Gefühl der Ehre, und
entschieden uns für die unbedingte Annahme des Gebotenen. Unterm 20.
Okt. erfolgte zu Hannover die förmliche königliche Vokation, die mich
zum ordentlichen Professor und Bibliothekar, meinen Bruder zum
Unterbibliothekar ernannte, mit angemessenen Besoldungen, die unserer
steten Nahrungssorge im hessischen Dienst ein Ende machten. Schon unterm
30. Okt. wurde zu Kassel unsere Entlassung ausgefertigt. Neujahr 1830
haben wir die hiesigen Stellungen angetreten. Wir sind von allen
Kollegen zu Göttingen freundschaftlich aufgenommen worden, mein erstes
Kollegium lese ich diesen Sommer über deutsche Rechtsalterthümer. Zwar
sind die Bibliotheksarbeiten weit mühsamer als zu Kassel, aber sie
bieten doch auch ihre Vortheile dar, die ich mit der Zeit noch viel
deutlicher gewahren werde. Zwar ist die Göttinger Gegend nicht zu
vergleichen mit der Kasseler aber die nämlichen Sterne stehn am Himmel
und Gott wird uns weiter helfen.
(Aus der 1831 erschienenen "»Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten-, Schriftsteller- und Künstler-Geschichte. Vom Jahre 1806 bis zum Jahre 1830«. Von Karl Wilhelm Justis)
ZUM GEBURTSTAG DES PHILOLOGEN
Über den Autor (1785-1863)
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