Sonntag, 30. November 2014

Friederike Caroline Neuber: Ein Deutsches Vorspiel

Lieber Leser!

Hier hast du was zu lesen. Nicht etwan von einem grossen gelehrten Manne; Nein! nur von einer Frau, deren Namen du aussen wirst gefunden haben, und deren Stand du unter den geringsten Leuten suchen mußt: Denn sie ist nichts, als eine Comödiantin; von Geburt eine Deutsche. Sie kann von nichts, als von ihrer Kunst Rechenschaft geben: Wenn sie gleich so viel wissen sollte, daß sie einen jeden Künstler verstehen könnte; wenn er von seiner Kunst redet. Fragst du: Warum sie auch schreibt? So antwortet sie dir das, dem Frauenzimmer gewöhnliche, Darum! Fragt dich jemand: Wer ihr geholfen hat? So sprich: Ich weis es nicht; oder: Es könnte doch wohl seyn, daß sie es selbst gemacht hätte. Das Werk ist in Reimen abgefasset. Ob die Verse rein, und die Gedanken richtig sind; werden diejenigen wissen, die es verstehen. Was die Sache betrifft: So gehören theils bekannte Geschichte, theils unbekannte Gedichte darzu. Alles zu erklären schickt sich nicht vor sie. Alles zu verschweigen ist hier nicht nöthig. Genung, daß sie sonst wohl schweigen kann. Diejenigen; die von ihren Umständen etwas wissen, werden dieses leicht glauben können; wer aber nichts von ihr weis, dem wird auch dieses nichts schaden: Wenn er es gleich nicht glauben kann. Sie hat zwar niemalen durch Schriften bekannt seyn; sondern nur, als eine Comödiantin anderer Leute Leidenschaften bescheiden, vorsichtig, aufrichtig und natürlich vorstellen wollen: Itzt aber, da sie ihre eigene Rolle auf, und vor der ganzen Welt zu spielen genöthiget wird; so schämet sie sich auch nicht, ihren ersten sichtbaren Auftritt in diesen Blättern gedruckt zu geben. Hat sie wo gefehlet; so wird sie die Fehler nicht entschuldigen: Denn dadurch werden sie nicht besser. Sie wird um Verzeihung bitten, und ein andermal so wenig fehlen, als es ihr nur möglich ist. Im übrigen überläßt sie sich mit Freuden dem Urtheile dererjenigen, die da richtig denken, zu rechter Zeit reden, und behutsam schweigen. Die übrigen werden denken, was sie wollen; reden, wenn sie können; und schweigen, wenn sie müssen. Sie bleibet beydes, der guten und bösen Welt verpflichtet: Der guten; weil sie es würdig ist, der bösen; weil sie an ihrer Besserung nicht zweifelt. 


(Vorrede zu dem 1734 erschienenen Drama)


ZUM TODESTAG DER SCHAUSPIELERIN


Über die Autorin (1697-1760)

Samstag, 29. November 2014

Wilhelm Hauff: Der junge Engländer oder Der Affe als Mensch

Im südlichen Teil von Deutschland liegt das Städtchen Grünwiesel, wo ich geboren und erzogen bin. Es ist ein Städtchen, wie sie alle sind. In der Mitte ein kleiner Marktplatz mit einem Brunnen, an der Seite ein kleines altes Rathaus, umher auf dem Markt das Haus des Friedensrichters und der angesehensten Kaufleute, und in ein paar engen Straßen wohnen die übrigen Menschen. Alles kennt sich, jedermann weiß, wie es da und dort zugeht, und wenn der Oberpfarrer oder der Bürgermeister oder der Arzt ein Gericht mehr auf der Tafel hat, so weiß es schon am Mittagessen die ganze Stadt. Nachmittags kommen dann die Frauen zueinander in die Visite, wie man es nennt, besprechen sich bei starkem Kaffee und süßem Kuchen über diese große Begebenheit, und der Schluß ist, daß der Oberpfarrer wahrscheinlich in die Lotterie gesetzt und unchristlich viel gewonnen habe, daß der Bürgermeister sich »schmieren« lasse, oder daß der Doktor vom Apotheker einige Goldstücke bekommen habe, um recht teure Rezepte zu verschreiben. Ihr könnet Euch denken, wie unangenehm es für eine so wohleingerichtete Stadt wie Grünwiesel sein mußte, als ein Mann dorthin zog, von dem niemand wußte, woher er kam, was er wollte, von was er lebte. Der Bürgermeister hatte zwar seinen Paß gesehen, und in einer Kaffeegesellschaft bei Doktors geäußert, der Paß sei zwar ganz richtig visiert von Berlin bis nach Grünwiesel, aber es stecke doch was dahinter; denn der Mann sehe etwas verdächtig aus. Der Bürgermeister hatte das größte Ansehen in der Stadt; kein Wunder, daß von da an der Fremde als eine verdächtige Person angesehen wurde. Und sein Lebenswandel konnte meine Landsleute nicht von dieser Meinung abbringen. Der fremde Mann mietete sich für einige Goldstücke ein ganzes Haus, das bisher öde gestanden, ließ einen ganzen Wagen voll sonderbarer Gerätschaften, als Öfen, Kunstherde, große Tiegel und dergleichen hineinschaffen und lebte von da an ganz für sich allein. Ja, er kochte sich sogar selbst, und es kam keine menschliche Seele in sein Haus als ein alter Mann aus Grünwiesel, der ihm seine Einkäufe in Brot, Fleisch und Gemüse besorgen mußte. Doch auch dieser durfte nur in die Flur des Hauses kommen, und dort nahm der fremde Mann das Gekaufte in Empfang.

Ich war ein Knabe von zehen Jahren, als der Mann in meiner Vaterstadt einzog, und ich kann mir noch heute, als wäre es gestern geschehen, die Unruhe denken, die dieser Mann im Städtchen verursachte. Er kam nachmittags nicht wie andere Männer auf die Kugelbahn, er kam abends nicht ins Wirtshaus, um wie die übrigen bei einer Pfeife Tabak über die Zeitung zu sprechen. Umsonst lud ihn nach der Reihe der Bürgermeister, der Friedensrichter, der Doktor und der Oberpfarrer zum Essen oder Kaffee ein; er ließ sich immer entschuldigen. Daher hielten ihn einige für verrückt, andere für einen Juden, eine dritte Partie behauptete steif und fest, er sei ein Zauberer oder Hexenmeister. Ich wurde achtzehn, zwanzig Jahre alt, und noch immer hieß der Mann in der Stadt der fremde Herr.

Es begab sich aber eines Tages, daß Leute mit fremden Tieren in die Stadt kamen. Es ist dies hergelaufenes Gesindel, das ein Kamel hat, welches sich verbeugen kann, einen Bären, der tanzt, einige Hunde und Affen, die in menschlichen Kleidern komisch genug aussehen und allerlei Künste machen. Diese Leute durchziehen gewöhnlich die Stadt, halten an den Kreuzstraßen und Plätzen, machen mit einer kleinen Trommel und einer Pfeife eine übeltönende Musik, lassen ihre Truppe tanzen und springen und sammeln dann in den Häusern Geld ein. Die Truppe aber, die diesmal sich in Grünwiesel sehen ließ, zeichnete sich durch einen ungeheuren Orang-Utang aus, der beinahe Menschengröße hatte, auf zwei Beinen ging und allerlei artige Künste zu machen verstand. Diese Hunds- und Affenkomödie kam auch vor das Haus des fremden Herrn. Er erschien, als die Trommel und Pfeife ertönte, von Anfang ganz unwillig hinter den dunkeln, vom Alter angelaufenen Fenstern. Bald aber wurde er freundlicher, schaute zu jedermanns Verwundern zum Fenster heraus und lachte herzlich über die Künste des Orang-Utangs. Ja, er gab für den Spaß ein so großes Silberstück, daß die ganze Stadt davon sprach.

Am andern Morgen zog die Tierbande weiter. Das Kamel mußte viele Körbe tragen, in welchen die Hunde und Affen ganz bequem saßen; die Tiertreiber aber und der große Affe gingen hinter dem Kamel. Kaum aber waren sie einige Stunden zum Tore hinaus, so schickte der fremde Herr auf die Post, verlangte zu großer Verwunderung des Postmeisters einen Wagen und Extrapost und fuhr zu demselben Tor hinaus den Weg hin, den die Tiere genommen hatten. Das ganze Städtchen ärgerte sich, daß man nicht erfahren konnte, wohin er gereist sei. Es war schon Nacht, als der fremde Herr wieder im Wagen vor dem Tor ankam. Es saß aber noch eine Person im Wagen, die den Hut tief ins Gesicht gedrückt und um Mund und Ohren ein seidenes Tuch gebunden hatte. Der Torschreiber hielt es für seine Pflicht, den andern Fremden anzureden und um seinen Paß zu bitten; er antwortete aber sehr grob, indem er in einer ganz unverständlichen Sprache brummte.

»Es ist mein Neffe«, sagte der fremde Mann freundlich zum Torschreiber, indem er ihm einige Silbermünzen in die Hand drückte; »es ist mein Neffe und versteht bis dato noch wenig Deutsch. Er hat soeben in seiner Mundart ein wenig geflucht, daß wir hier aufgehalten werden.«

»Ei, wenn es Dero Neffe ist«, antwortete der Torschreiber, »so kann er wohl ohne Paß hereinkommen. Er wird wohl ohne Zweifel bei Ihnen wohnen?«

»Allerdings«, sagte der Fremde, »und hält sich wahrscheinlich längere Zeit hier auf.«

Der Torschreiber hatte keine weitere Einwendung mehr, und der fremde Herr und sein Neffe fuhren ins Städtchen. Der Bürgermeister und die ganze Stadt war übrigens nicht sehr zufrieden mit dem Torschreiber. Er hätte doch wenigstens einige Worte von der Sprache des Neffen sich merken sollen. Daraus hätte man dann leicht erfahren, was für ein Landeskind er und der Herr Onkel wäre. Der Torschreiber versicherte aber, daß es weder Französisch noch Italienisch sei, wohl aber habe es so breit geklungen wie Englisch, und wenn er nicht irre, so habe der junge Herr gesagt: »God dam!« So half der Torschreiber sich selbst aus der Not und dem jungen Mann zu einem Namen. Denn man sprach jetzt nur von dem jungen Engländer im Städtchen.

Aber auch der junge Engländer wurde nicht sichtbar, weder auf der Kugelbahn noch im Bierkeller; wohl aber gab er den Leuten auf andere Weise viel zu schaffen. – Es begab sich nämlich oft, daß in dem sonst so stillen Hause des Fremden ein schreckliches Geschrei und ein Lärm ausging, daß die Leute haufenweise vor dem Hause stehen blieben und hinaufsahen. Man sah dann den jungen Engländer, angetan mit einem roten Frack und grünen Beinkleidern, mit struppigtem Haar und schrecklicher Miene unglaublich schnell an den Fenstern hin und her, durch alle Zimmer laufen; der alte Fremde lief ihm in einem roten Schlafrock, eine Hetzpeitsche in der Hand, nach, verfehlte ihn oft, aber einigemal kam es doch der Menge auf der Straße vor, als müsse er den Jungen erreicht haben, denn man hörte klägliche Angsttöne und klatschende Peitschenhiebe die Menge. An dieser grausamen Behandlung des fremden jungen Mannes nahmen die Frauen des Städtchens so lebhaften Anteil, daß sie endlich den Bürgermeister bewogen, einen Schritt in der Sache zu tun. Er schrieb dem fremden Herrn ein Billet, worin er ihm die unglimpfliche Behandlung seines Neffen in ziemlich derben Ausdrücken vorwarf und ihm drohte, wenn noch ferner solche Szenen vorfielen, den jungen Mann unter seinen besonderen Schutz zu nehmen.

Wer war aber mehr erstaunt als der Bürgermeister, wie er den Fremden selbst, zum erstenmal seit zehn Jahren, bei sich eintreten sah! Der alte Herr entschuldigte sein Verfahren mit dem besonderen Auftrag der Eltern des Jünglings, die ihm solchen zu erziehen gegeben; er sei sonst ein kluger, anstelliger Junge, äußerte er, aber die Sprachen erlerne er sehr schwer. Er wünsche so sehnlich, seinem Neffen das Deutsche recht geläufig beizubringen, um sich nachher die Freiheit zu nehmen, ihn in die Gesellschaften von Grünwiesel einzuführen, und dennoch gehe demselben diese Sprache so schwer ein, daß man oft nichts Besseres tun könne, als ihn gehörig durchzupeitschen. Der Bürgermeister fand sich durch diese Mitteilung völlig befriedigt, riet dem Alten zur Mäßigung und erzählte abends im Bierkeller, daß er selten einen so unterrichteten, artigen Mann gefunden als den Fremden. »Es ist nur schade«, setzte er hinzu, »daß er so wenig in Gesellschaft kommt; doch ich denke, wenn der Neffe nur erst ein wenig deutsch spricht, besucht er meine Cercles öfter.«

Durch diesen einzigen Vorfall war die Meinung des Städtchens völlig umgeändert. Man hielt den Fremden für einen artigen Mann, sehnte sich nach seiner näheren Bekanntschaft und fand es ganz in der Ordnung, wenn hie und da in dem öden Hause ein gräßliches Geschrei aufging. »Er gibt dem Neffen Unterricht in der deutschen Sprachlehre«, sagten die Grünwieseler und blieben nicht mehr stehen. Nach einem Vierteljahr ungefähr schien der Unterricht im Deutschen beendigt, denn der Alte ging jetzt um eine Stufe weiter vor. Es lebte ein alter gebrechlicher Franzose in der Stadt, der den jungen Leuten Unterricht im Tanzen gab. Diesen ließ der Fremde zu sich rufen und sagte ihm, daß er seinen Neffen im Tanzen unterrichten lassen wolle. Er gab ihm zu verstehen, daß derselbe zwar sehr gelehrig, aber, was das Tanzen betreffe, etwas eigensinnig sei; er habe nämlich früher bei einem anderen Meister tanzen gelernt, und zwar nach so sonderbaren Touren, daß er sich nicht füglich in der Gesellschaft produzieren könne. Der Neffe halte sich aber ebendeswegen für einen großen Tänzer, obgleich sein Tanz nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit Walzer oder Galopp, nicht einmal Ähnlichkeit mit Ecossaise oder Française habe. Er versprach übrigens einen Taler für die Stunde, und der Tanzmeister war mit Vergnügen bereit, den Unterricht des eigensinnigen Zöglings zu übernehmen.

Es gab, wie der Franzose unter der Hand versicherte, auf der Welt nichts so Sonderbares als diese Tanzstunden. Der Neffe, ein ziemlich großer, schlanker junger Mann, der nur etwas sehr kurze Beine hatte, erschien in einem roten Frack, schön frisiert, in grünen weiten Beinkleidern und glasierten Handschuhen. Er sprach wenig und mit fremdem Akzent, war von Anfang ziemlich artig und anstellig; dann verfiel er aber oft plötzlich in fratzenhafte Sprünge, tanzte die kühnsten Touren, wobei er Entrechats machte, daß dem Tanzmeister Hören und Sehen verging; wollte er ihn zurechtweisen, so zog er die zierlichen Tanzschuhe von den Füßen, warf sie dem Franzosen an den Kopf und setzte nun auf allen vieren im Zimmer umher. Bei diesem Lärm fuhr dann der alte Herr plötzlich in einem weiten roten Schlafrock, eine Mütze von Goldpapier auf dem Kopf, aus seinem Zimmer heraus und ließ die Hetzpeitsche ziemlich unsanft auf den Rücken des Neffen niederfallen. Der Neffe fing dann an, schrecklich zu heulen, sprang auf Tische und hohe Kommode, ja selbst an den Kreuzstöcken der Fenster hinauf und sprach eine fremde, seltsame Sprache. Der Alte im roten Schlafrock aber ließ sich nicht irremachen, faßte ihn am Bein, riß ihn herab, bleute ihn durch und zog ihm mittelst einer Schnalle die Halsbinde fester an, worauf er immer wieder artig und manierlich wurde und die Tanzstunde ohne Störung weiterging.

Als aber der Tanzmeister seinen Zögling so weit gebracht hatte, daß man Musik zu der Stunde nehmen konnte, da war der Neffe wie umgewandelt. Ein Stadtmusikant wurde gemietet, der im Saal des öden Hauses auf einen Tisch sich setzen mußte. Der Tanzmeister stellte dann die Dame vor, indem ihn der alte Herr einen Frauenrock von Seide und einen ostindischen Schal anziehen ließ. Der Neffe forderte ihn auf und fing nun an, mit ihm zu tanzen und zu walzen; er aber war ein unermüdlicher, rasender Tänzer, er ließ den Meister nicht aus seinen langen Armen; ob er ächzte und schrie, er mußte tanzen, bis er ermattet umsank, oder bis dem Stadtmusikus der Arm lahm wurde an der Geige. Den Tanzmeister brachten diese Unterrichtsstunden beinahe unter den Boden; aber der Taler, den er jedesmal richtig ausbezahlt bekam, der gute Wein, den der Alte aufwartete, machten, daß er immer wiederkam, wenn er auch den Tag zuvor sich fest vorgenommen hatte, nicht mehr in das öde Haus zu gehen.

Die Leute in Grünwiesel sahen aber die Sache ganz anders an als der Franzose. Sie fanden, daß der junge Mann viele Anlage zum Gesellschaftlichen habe, und die Frauenzimmer im Städtchen freuten sich, bei dem großen Mangel an Herren einen so flinken Tänzer für den nächsten Winter zu bekommen.

Eines Morgens berichteten die Mägde, die vom Markte heimkehrten, ihren Herrschaften ein wunderbares Ereignis. Vor dem öden Hause sei ein prächtiger Glaswagen gestanden, mit schönen Pferden bespannt, und ein Bedienter in reicher Livree habe den Schlag gehalten. Da sei die Türe des öden Hauses aufgegangen und zwei schön gekleidete Herren herausgetreten, wovon der eine der alte Fremde und der andere wahrscheinlich der junge Herr gewesen, der so schwer Deutsch gelernt und so rasend tanze. Die beiden seien in den Wagen gestiegen, der Bediente hinten aufs Brett gesprungen, und der Wagen, man stelle sich vor! sei geradezu auf Bürgermeisters Haus zu gefahren.

Als die Frauen solches von ihren Mägden erzählen hörten, rissen sie eilends die Küchenschürzen und die etwas unsauberen Hauben ab und versetzten sich in Staat. »Es ist nichts gewisser«, sagten sie zu ihrer Familie, indem alles umherrannte, um das Besuchzimmer, das zugleich zu sonstigem Gebrauch diente, aufzuräumen, »es ist nichts gewisser, als daß der Fremde jetzt seinen Neffen in die Welt einführt. Der alte Narr war zwar seit zehen Jahren nicht so artig, einen Fuß in unser Haus zu setzen; aber es sei ihm wegen des Neffen verziehen, der ein charmanter Mensch sein soll.« So sprachen sie und ermahnten ihre Söhne und Töchter, recht manierlich auszusehen, wenn die Fremden kämen, sich gerade zu halten und sich auch einer besseren Aussprache zu bedienen als gewöhnlich. Und die klugen Frauen im Städtchen hatten nicht unrecht geraten, denn nach der Reihe fuhr der alte Herr mit seinem Neffen umher, sich und ihn in die Gewogenheit der Familien zu empfehlen.

Man war überall ganz erfüllt von den beiden Fremden und bedauerte, nicht schon früher diese angenehme Bekanntschaft gemacht zu haben. Der alte Herr zeigte sich als einen würdigen, sehr vernünftigen Mann, der zwar bei allem, was er sagte, ein wenig lächelte, so daß man nicht gewiß war, ob es ihm Ernst sei oder nicht; aber er sprach über das Wetter, über die Gegend, über das Sommervergnügen auf dem Keller am Berge so klug und durchdacht, daß jedermann davon bezaubert war. Aber der Neffe! Er bezauberte alles, er gewann alle Herzen für sich. Man konnte zwar, was sein Äußeres betraf, sein Gesicht nicht schön nennen; der untere Teil, besonders die Kinnlade, stand allzusehr hervor, und der Teint war sehr bräunlich; auch machte er zuweilen allerlei sonderbare Grimassen, drückte die Augen zu und fletschte mit den Zähnen; aber dennoch fand man den Schnitt seiner Züge ungemein interessant. Es konnte nichts Beweglicheres, Gewandteres geben als seine Gestalt. Die Kleider hingen ihm zwar etwas sonderbar am Leib, aber es stand ihm alles trefflich; er fuhr mit großer Lebendigkeit im Zimmer umher, warf sich hier in einen Sofa, dort in einen Lehnstuhl und streckte die Beine von sich; aber was man bei einem andern jungen Mann höchst gemein und unschicklich gefunden hätte, galt bei dem Neffen für Genialität. »Er ist ein Engländer«, sagte man, »so sind sie alle; ein Engländer kann sich aufs Kanapee legen und einschlafen, während zehen Damen keinen Platz haben und umherstehen müssen; einem Engländer kann man so etwas nicht übelnehmen.« Gegen den alten Herrn, seinen Oheim, war er sehr fügsam, denn wenn er anfing, im Zimmer umherzuhüpfen oder, wie er gerne tat, die Füße auf den Sessel hinaufzuziehen, so reichte ein ernsthafter Blick hin, ihn zur Ordnung zu bringen. Und wie konnte man ihm so etwas übelnehmen, als vollends der Onkel in jedem Haus zu der Dame sagte: »Mein Neffe ist noch ein wenig roh und ungebildet; aber ich verspreche mir viel von der Gesellschaft, die wird ihn gehörig formen und bilden, und ich empfehle ihn namentlich Ihnen aufs angelegenste.«

So war der Neffe also in die Welt eingeführt, und ganz Grünwiesel sprach an diesem und den folgenden Tagen von nichts anderem als von diesem Ereignis. Der alte Herr blieb aber hiebei nicht stehen; er schien seine Denk- und Lebensart gänzlich geändert zu haben. Nachmittags ging er mit dem Neffen hinaus in den Felsenkeller am Berge, wo die vornehmeren Herren von Grünwiesel Bier tranken und sich am Kugelschieben ergötzten. Der Neffe zeigte sich dort als einen flinken Meister im Spiel, denn er warf nie unter fünf oder sechs; hie und da schien zwar ein sonderbarer Geist über ihn zu kommen; es konnte ihm einfallen, daß er pfeilschnell mit der Kugel hinaus- und unter die Kegel hineinfuhr und dort allerhand tollen Rumor anrichtete, oder wenn er den Kranz oder den König geworfen, stand er plötzlich auf seinem schön frisierten Haar und streckte die Beine in die Höhe, oder wenn ein Wagen vorbeifuhr, saß er, ehe man sich dessen versah, oben auf dem Kutschenhimmel und machte Grimassen herab, fuhr ein Stückchen weit mit und kam dann wieder zur Gesellschaft gesprungen.

Der alte Herr pflegte dann bei solchen Szenen den Bürgermeister und die anderen Männer sehr um Entschuldigung zu bitten wegen der Ungezogenheit seines Neffen; sie aber lachten, schrieben es seiner Jugend zu, behaupteten, in diesem Alter selbst so leichtfüßig gewesen zu sein, und liebten den jungen Springinsfeld, wie sie ihn nannten, ungemein.

Es gab aber auch Zeiten, wo sie sich nicht wenig über ihn ärgerten und dennoch nichts zu sagen wagten, weil der junge Engländer allgemein als ein Muster von Bildung und Verstand galt. Der alte Herr pflegte nämlich mit seinem Neffen auch abends in den Goldenen Hirsch, das Wirtshaus des Städtchens, zu kommen. Obgleich der Neffe noch ein ganz junger Mensch war, tat er doch schon ganz wie ein Alter, setzte sich hinter sein Glas, tat eine ungeheure Brille auf, zog eine gewaltige Pfeife heraus, zündete sie an und dampfte unter allen am ärgsten. Wurde nun über die Zeitungen, über Krieg und Frieden gesprochen, gab der Doktor die Meinung, der Bürgermeister jene, waren die anderen Herren ganz erstaunt über so tiefe politische Kenntnisse, so konnte es dem Neffen plötzlich einfallen, ganz anderer Meinung zu sein; er schlug dann mit der Hand, von welcher er nie die Handschuhe ablegte, auf den Tisch und gab dem Bürgermeister und dem Doktor nicht undeutlich zu verstehen, daß sie von diesem allen nichts genau wüßten, daß er diese Sachen ganz anders gehört habe und tiefere Einsicht besitze. Er gab dann in einem sonderbaren gebrochenen Deutsch seine Meinung preis, die alle, zum großen Ärgernis des Bürgermeisters, ganz trefflich fanden; denn er mußte als Engländer natürlich alles besser wissen.

Setzten sich dann der Bürgermeister und der Doktor in ihrem Zorn, den sie nicht laut werden lassen durften, zu einer Partie Schach, so rückte der Neffe hinzu, schaute dem Bürgermeister mit seiner großen Brille über die Schulter herein und tadelte diesen oder jenen Zug, sagte dem Doktor, so und so müsse er ziehen, so daß beide Männer heimlich ganz grimmig wurden. Bot ihm dann der Bürgermeister ärgerlich eine Partie an, um ihn gehörig matt zu machen, denn er hielt sich für einen zweiten Philidor, so schnallte der alte Herr dem Neffen die Halsbinde fester zu, worauf dieser ganz artig und manierlich wurde und den Bürgermeister matt machte.

Man hatte bisher in Grünwiesel beinahe jeden Abend Karte gespielt, die Partie um einen halben Kreuzer; das fand nun der Neffe erbärmlich, setzte Kronentaler und Dukaten, behauptete, kein einziger spiele so fein wie er, söhnte aber die beleidigten Herrn gewöhnlich dadurch wieder aus, daß er ungeheure Summen an sie verlor. Sie machten sich auch gar kein Gewissen daraus, ihm recht viel Geld abzunehmen, denn »er ist ja ein Engländer, also von Hause aus reich«, sagten sie und schoben die Dukaten in die Tasche.

So kam der Neffe des fremden Herrn in kurzer Zeit bei Stadt und Umgegend in ungemeines Ansehen. Man konnte sich seit Menschengedenken nicht erinnern, einen jungen Mann dieser Art in Grünwiesel gesehen zu haben, und es war die sonderbarste Erscheinung, die man je bemerkt. Man konnte nicht sagen, daß der Neffe irgend etwas gelernt hätte als etwa tanzen. Latein und Griechisch waren ihm, wie man zu sagen pflegt, böhmische Dörfer. Bei einem Gesellschaftsspiel in Bürgermeisters Hause sollte er etwas schreiben, und es fand sich, daß er nicht einmal seinen Namen schreiben konnte; in der Geographie machte er die auffallendsten Schnitzer, denn es kam ihm nicht darauf an, eine deutsche Stadt nach Frankreich oder eine dänische nach Polen zu versetzen; er hatte nichts gelesen, nichts studiert, und der Oberpfarrer schüttelte oft bedenklich den Kopf über die rohe Unwissenheit des jungen Mannes; aber dennoch fand man alles trefflich, was er tat oder sagte, denn er war so unverschämt, immer recht haben zu wollen, und das Ende jeder seiner Reden war: »Ich verstehe das besser!«

So kam der Winter heran, und jetzt erst trat der Neffe mit noch größerer Glorie auf. Man fand jede Gesellschaft langweilig, wo nicht er zugegen war, man gähnte, wenn ein vernünftiger Mann etwas sagte; wenn aber der Neffe selbst das törichste Zeug in schlechtem Deutsch vorbrachte, war alles Ohr. Es fand sich jetzt, daß der treffliche junge Mann auch ein Dichter war, denn nicht leicht verging ein Abend, an welchem er nicht einiges Papier aus der Tasche zog und der Gesellschaft einige Sonette vorlas. Es gab zwar einige Leute, die von dem einen Teil dieser Dichtungen behaupteten, sie seien schlecht und ohne Sinn, einen andern Teil wollten sie schon irgendwo gedruckt gelesen haben; aber der Neffe ließ sich nicht irre machen, er las und las, machte dann auf die Schönheiten seiner Verse aufmerksam, und jedesmal erfolgte rauschender Beifall.

Sein Triumph waren aber die Grünwieseler Bälle. Es konnte niemand anhaltender, schneller tanzen als er; keiner machte so kühne und ungemein zierliche Sprünge wie er. Dabei kleidete ihn sein Onkel immer aufs prächtigste nach dem neuesten Geschmack, und obgleich ihm die Kleider nicht recht am Leib sitzen wollten, fand man dennoch, daß ihn alles allerliebst kleide. Die Männer fanden sich zwar bei diesen Tänzen etwas beleidigt durch die neue Art, womit er auftrat. Sonst hatte immer der Bürgermeister in eigener Person den Ball eröffnet, die vornehmsten jungen Leute hatten das Recht, die übrigen Tänze anzuordnen; aber seit der fremde junge Herr erschien, war dies alles ganz anders. Ohne viel zu fragen, nahm er die nächste beste Dame bei der Hand, stellte sich mit ihr obenan, machte alles, wie es ihm gefiel, und war Herr und Meister und Ballkönig. Weil aber die Frauen diese Manieren ganz trefflich und angenehm fanden, so durften die Männer nichts dagegen einwenden, und der Neffe blieb bei seiner selbstgewählten Würde.

Das größte Vergnügen schien ein solcher Ball dem alten Herrn zu gewähren. Er verwandte kein Auge von seinem Neffen, lächelte immer in sich hinein, und wenn alle Welt herbeiströmte, um ihm über den anständigen, wohlgezogenen Jüngling Lobsprüche zu erteilen, so konnte er sich vor Freude gar nicht fassen. Er brach dann in ein lustiges Gelächter aus und bezeugte sich wie närrisch; die Grünwieseler schrieben diese sonderbaren Ausbrüche der Freude seiner großen Liebe zu dem Neffen zu und fanden es ganz in der Ordnung. Doch hie und da mußte er auch sein väterliches Ansehen gegen den Neffen anwenden, denn mitten in den zierlichsten Tänzen konnte es dem jungen Mann einfallen, mit einem kühnen Sprung auf die Tribüne, wo die Stadtmusikanten saßen, zu setzen, dem Organisten den Contrebaß aus der Hand zu reißen und schrecklich darauf umherzukratzen; oder er wechselte auf einmal und tanzte auf den Händen, indem er die Beine in die Höhe streckte. Dann pflegte ihn der Onkel auf die Seite zu nehmen, machte ihm dort ernstliche Vorwürfe und zog ihm die Halsbinde fester an, daß er wieder ganz gesittet wurde.

So betrug sich nun der Neffe in Gesellschaft und auf Bällen. Wie es aber mit den Sitten zu geschehen pflegt: die schlechten verbreiten sich immer leichter als die guten, und eine neue, auffallende Mode, wenn sie auch höchst lächerlich sein sollte, hat etwas Ansteckendes an sich für junge Leute, die noch nicht über sich selbst und die Welt nachgedacht haben. So war es auch in Grünwiesel mit dem Neffen und seinen sonderbaren Sitten. Als nämlich die junge Welt sah, wie derselbe mit seinem linkischen Wesen, mit seinem rohen Lachen und Schwatzen, mit seinen groben Antworten gegen ältere eher geschätzt als getadelt werde, daß man dies alles sogar sehr geistreich finde, so dachten sie bei sich: »Es ist mir ein leichtes, auch solch ein geistreicher Schlingel zu werden.« Sie waren sonst fleißige, geschickte junge Leute gewesen; jetzt dachten sie: »Zu was hilft Gelehrsamkeit, wenn man mit Unwissenheit besser fortkömmt?« Sie ließen die Bücher liegen und trieben sich überall umher auf Plätzen und Straßen. Sonst waren sie artig gewesen und höflich gegen jedermann, hatten gewartet, bis man sie fragte, und anständig und bescheiden geantwortet. Jetzt standen sie in die Reihe der Männer, schwatzten mit, gaben ihre Meinung preis und lachten selbst dem Bürgermeister unter die Nase, wenn er etwas sagte, und behaupteten, alles viel besser zu wissen.

Sonst hatten die jungen Grünwieseler Abscheu gehegt gegen rohes und gemeines Wesen. Jetzt sangen sie allerlei schlechte Lieder, rauchten aus ungeheuren Pfeifen Tabak und trieben sich in gemeinen Kneipen umher; auch kauften sie sich, obgleich sie ganz gut sahen, große Brillen, setzten solche auf die Nase und glaubten, nun gemachte Leute zu sein, denn sie sahen ja aus wie der berühmte Neffe. Zu Hause oder wenn sie auf Besuch waren, lagen sie mit Stiefel und Sporen aufs Kanapee, schaukelten sich auf dem Stuhl in guter Gesellschaft oder stützten die Wangen in beide Fäuste, die Ellbogen aber auf den Tisch, was nun überaus reizend anzusehen war. Umsonst sagten ihnen ihre Mütter und Freunde, wie töricht, wie unschicklich dies alles sei; sie beriefen sich auf das glänzende Beispiel des Neffen. Umsonst stellte man ihnen vor, daß man dem Neffen, als einem jungen Engländer, eine gewisse Nationalroheit verzeihen müsse; die jungen Grünwieseler behaupteten, ebensogut als der beste Engländer das Recht zu haben, auf geistreiche Weise ungezogen zu sein; kurz, es war ein Jammer, wie durch das böse Beispiel des Neffen die Sitten und guten Gewohnheiten in Grünwiesel völlig untergingen.

Aber die Freude der jungen Leute an ihrem rohen, ungebundenen Leben dauerte nicht lange, denn folgender Vorfall veränderte auf einmal die ganze Szene. Die Wintervergnügungen sollte ein großes Konzert beschließen, das teils von den Stadtmusikanten, teils von geschickten Musikfreunden in Grünwiesel aufgeführt werden sollte. Der Bürgermeister spielte das Violoncell, der Doktor das Fagott ganz vortrefflich, der Apotheker, obgleich er keinen rechten Ansatz hatte, blies die Flöte, einige Jungfrauen aus Grünwiesel hatten Arien einstudiert, und alles war trefflich vorbereitet. Da äußerte der alte Fremde, daß zwar das Konzert auf diese Art trefflich werden würde, es fehle aber offenbar an einem Duett, und ein Duett müsse in jedem ordentlichen Konzert notwendigerweise vorkommen. Man war etwas betreten über diese Äußerung; die Tochter des Bürgermeisters sang zwar wie eine Nachtigall; aber wo einen Herrn herbekommen, der mit ihr ein Duett singen könnte? Man wollte endlich auf den alten Organisten verfallen, der einst einen trefflichen Baß gesungen hatte; der Fremde aber behauptete, dies alles sei nicht nötig, indem sein Neffe ganz ausgezeichnet singe. Man war nicht wenig erstaunt über diese neue treffliche Eigenschaft des jungen Mannes; er mußte zur Probe etwas singen, und einige sonderbare Manieren abgerechnet, die man für englisch hielt, sang er wie ein Engel. Man studierte also in aller Eile das Duett ein, und der Abend erschien endlich, an welchem die Ohren der Grünwieseler durch das Konzert erquickt werden sollten.

Der alte Fremde konnte leider dem Triumph seines Neffen nicht beiwohnen, weil er krank war; er gab aber dem Bürgermeister, der ihn eine Stunde zuvor noch besuchte, einige Maßregeln über seinen Neffen auf. »Es ist eine gute Seele, mein Neffe«, sagte er, »aber hie und da verfällt er in allerlei sonderbare Gedanken und fängt dann tolles Zeug an. Es ist mir ebendeswegen leid, daß ich dem Konzert nicht beiwohnen kann, denn vor mir nimmt er sich gewaltig in acht, er weiß wohl, warum! Ich muß übrigens zu seiner Ehre sagen, daß dies nicht geistiger Mutwille ist, sondern es ist körperlich, es liegt in seiner ganzen Natur. Wollten Sie nun, Herr Bürgermeister, wenn er etwa in solche Gedanken verfiele, daß er sich auf ein Notenpult setzte, oder daß er durchaus den Contrebaß streichen wollte oder dergleichen, wollten Sie ihm dann nur seine hohe Halsbinde etwas lockerer machen oder, wenn es auch dann nicht besser wird, ihm solche ganz ausziehen? Sie werden sehen, wie artig und manierlich er dann wird.«

Der Bürgermeister dankte dem Kranken für sein Zutrauen und versprach, im Fall der Not also zu tun, wie er ihm geraten.

Der Konzertsaal war gedrängt voll, denn ganz Grünwiesel und die Umgegend hatte sich eingefunden. Alle Jäger, Pfarrer, Amtleute, Landwirte und dergleichen aus dem Umkreis von drei Stunden waren mit zahlreicher Familie herbeigeströmt, um den seltenen Genuß mit den Grünwieselern zu teilen. Die Stadtmusikanten hielten sich vortrefflich; nach ihnen trat der Bürgermeister auf, der das Violoncell spielte, begleitet vom Apotheker, der die Flöte blies. Nach diesen sang der Organist eine Baßarie mit allgemeinem Beifall, und auch der Doktor wurde nicht wenig beklatscht, als er auf dem Fagott sich hören ließ.

Die erste Abteilung des Konzertes war vorbei, und jedermann war nun auf die zweite gespannt, in welcher der junge Fremde mit des Bürgermeisters Tochter ein Duett vortragen sollte. Der Neffe war in einem glänzenden Anzug erschienen und hatte schon längst die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich gezogen. Er hatte sich nemlich, ohne viel zu fragen, in den prächtigen Lehnstuhl gelegt, der für eine Gräfin aus der Nachbarschaft hergesetzt worden war. Er streckte die Beine weit von sich, schaute jedermann durch ein ungeheures Perspektiv an, das er noch außer seiner großen Brille gebrauchte, und spielte mit einem großen Fleischerhund, den er, trotz des Verbotes, Hunde mitzunehmen, in die Gesellschaft eingeführt hatte. Die Gräfin, für welche der Lehnstuhl bereitet war, erschien; aber wer keine Miene machte, aufzustehen und ihr den Platz einzuräumen, war der Neffe. Er setzte sich im Gegenteil noch bequemer hinein, und niemand wagte es, dem jungen Mann etwas darüber zu sagen; die vornehme Dame aber mußte auf einem ganz gemeinen Strohsessel mitten unter die übrigen Frauen des Städtchens sitzen und soll sich nicht wenig geärgert haben.

Während des herrlichen Spieles des Bürgermeisters, während des Organisten trefflicher Baßarie, ja sogar während der Doktor auf dem Fagott phantasierte und alles den Atem anhielt und lauschte, ließ der Neffe den Hund das Schnupftuch apportieren oder schwatzte ganz laut mit seinen Nachbarn, so daß jedermann, der ihn nicht kannte, über die absonderlichen Sitten des jungen Herrn sich wunderte.

Kein Wunder daher, daß alles sehr begierig war, wie er sein Duett vortragen würde. Die zweite Abteilung begann. Die Stadtmusikanten hatten etwas weniges aufgespielt, und nun trat der Bürgermeister mit seiner Tochter zu dem jungen Mann, überreichte ihm ein Notenblatt und sprach: »Mosjöh! wäre es Ihnen jetzt gefällig, das Duetto zu singen?« Der junge Mann lachte, fletschte mit den Zähnen, sprang auf, und die beiden andern folgten ihm an das Notenpult, und die ganze Gesellschaft war voll Erwartung. Der Organist schlug den Takt und winkte dem Neffen, anzufangen. Dieser schaute durch seine großen Brillengläser in die Noten und stieß gräuliche, jämmerliche Töne aus. Der Organist aber schrie ihm zu: »Zwei Töne tiefer, Wertester, C müssen Sie singen, C!«

Statt aber C zu singen, zog der Neffe einen seiner Schuhe ab und warf ihn dem Organisten an den Kopf, daß der Puder weit umherflog. Als dies der Bürgermeister sah, dachte er: »Ha! jetzt hat er wieder seine körperlichen Zufälle«, sprang hinzu, packte ihn am Hals und band ihm das Tuch etwas leichter; aber dadurch wurde es nur noch schlimmer mit dem jungen Mann. Er sprach nicht mehr deutsch, sondern eine ganz sonderbare Sprache, die niemand verstand, und machte große Sprünge. Der Bürgermeister war in Verzweiflung über diese unangenehme Störung; er faßte daher den Entschluß, dem jungen Mann, dem etwas ganz Besonderes zugestoßen sein mußte, das Halstuch vollends abzulösen. Aber kaum hatte er dies getan, so blieb er vor Schrecken wie erstarrt stehen, denn statt menschlicher Haut und Farbe umgab den Hals des jungen Menschen ein dunkelbraunes Fell, und alsobald setzte derselbe auch seine Sprünge noch höher und sonderbarer fort, fuhr sich mit den glasierten Handschuhen in die Haare, zog diese ab, und o Wunder! diese schönen Haare waren eine Perücke, die er dem Bürgermeister ins Gesicht warf, und sein Kopf erschien jetzt mit demselben braunen Fell bewachsen.

Er setzte über Tische und Bänke, warf die Notenpulte um, zertrat Geigen und Klarinette und erschien wie ein Rasender. »Fangt ihn, fangt ihn«, rief der Bürgermeister ganz außer sich, »er ist von Sinnen, fangt ihn!« Das war aber eine schwierige Sache, denn er hatte die Handschuhe abgezogen und zeigte Nägel an den Händen, mit welchen er den Leuten ins Gesicht fuhr und sie jämmerlich kratzte. Endlich gelang es einem mutigen Jäger, seiner habhaft zu werden. Er preßte ihm die langen Arme zusammen, daß er nur noch mit den Füßen zappelte und mit heiserer Stimme lachte und schrie. Die Leute sammelten sich umher und betrachteten den sonderbaren jungen Herrn, der jetzt gar nicht mehr aussah wie ein Mensch. Aber ein gelehrter Herr aus der Nachbarschaft, der ein großes Naturalienkabinett und allerlei ausgestopfte Tiere besaß, trat näher, betrachtete ihn genau und rief dann voll Verwunderung: »Mein Gott, verehrte Herren und Damen, wie bringen Sie nur dies Tier in honette Gesellschaft? Das ist ja ein Affe, der Homo Troglodytes Linnaei; ich gebe sogleich sechs Taler für ihn, wenn Sie mir ihn ablassen, und balge ihn aus für mein Kabinett.«

Wer beschreibt das Erstaunen der Grünwieseler, als sie dies hörten! »Was, ein Affe, ein Orang-Utang in unserer Gesellschaft? Der junge Fremde ein ganz gewöhnlicher Affe!« riefen sie und sahen einander ganz dumm vor Verwunderung an. Man wollte nicht glauben, man traute seinen Ohren nicht, die Männer untersuchten das Tier genauer, aber es war und blieb ein ganz natürlicher Affe.
»Aber wie ist dies möglich!« rief die Frau Bürgermeisterin. »Hat er mir nicht oft seine Gedichte vorgelesen? Hat er nicht wie ein anderer Mensch bei mir zu Mittag gespeist?«

»Was?« eiferte die Frau Doktorin. »Wie? Hat er nicht oft und viel den Kaffee bei mir getrunken und mit meinem Mann gelehrt gesprochen und geraucht?«

»Wie! Ist es möglich!« riefen die Männer. »Hat er nicht mit uns am Felsenkeller Kugeln geschoben und über Politik gestritten wie unsereiner?«

»Und wie?« klagten sie alle. »Hat er nicht sogar vorgetanzt auf unsern Bällen? Ein Affe! Ein Affe? Es ist ein Wunder, es ist Zauberei!«

»Ja, es ist Zauberei und teuflischer Spuk«, sagte der Bürgermeister, indem er das Halstuch des Neffen oder Affen herbeibrachte. »Seht! In diesem Tuch steckte der ganze Zauber, der ihn in unsern Augen liebenswürdig machte. Da ist ein breiter Streifen elastischen Pergaments, mit allerlei wunderlichen Zeichen beschrieben. Ich glaube gar, es ist Lateinisch; kann es niemand lesen?«

Der Oberpfarrer, ein gelehrter Mann, der oft an den Affen eine Partie Schach verloren hatte, trat hinzu, betrachtete das Pergament und sprach: »Mitnichten! Es sind nur lateinische Buchstaben, es heißt:

Der – Affe – sehr – possierlich – ist –
zumal – wenn – er – vom – Apfel – frißt –

Ja, ja, es ist höllischer Betrug, eine Art von Zauberei«, fuhr er fort, »und es muß exemplarisch bestraft werden.«

Der Bürgermeister war derselben Meinung und machte sich sogleich auf den Weg zu dem Fremden, der ein Zauberer sein mußte, und sechs Stadtsoldaten trugen den Affen, denn der Fremde sollte sogleich ins Verhör genommen werden.

Sie kamen, umgeben von einer ungeheuren Anzahl Menschen, an das öde Haus, denn jedermann wollte sehen, wie sich die Sache weiter begeben würde. Man pochte an das Haus, man zog die Glocke; aber vergeblich, es zeigte sich niemand. Da ließ der Bürgermeister in seiner Wut die Türe einschlagen und begab sich hierauf in die Zimmer des Fremden. Aber dort war nichts zu sehen als allerlei alter Hausrat. Der fremde Mann war nicht zu finden. Auf seinem Arbeitstisch aber lag ein großer versiegelter Brief, an den Bürgermeister überschrieben, den dieser auch sogleich öffnete. Er las:

»Meine lieben Grünwieseler!
Wenn Ihr dies leset, bin ich nicht mehr in Eurem Städtchen, und Ihr werdet dann längst erfahren haben, wes Standes und Vaterlandes mein lieber Neffe ist. Nehmet den Scherz, den ich mir mit Euch erlaubte, als eine gute Lehre auf, einen Fremden, der für sich leben will, nicht in Eure Gesellschaft zu nötigen! Ich selbst fühlte mich zu gut, um Euer ewiges Klatschen, um Eure schlechten Sitten und Euer lächerliches Wesen zu teilen. Darum erzog ich einen jungen Orang-Utang, den Ihr als meinen Stellvertreter so liebgewonnen habt. Lebet wohl und benützet diese Lehre nach Kräften!«

Die Grünwieseler schämten sich nicht wenig vor dem ganzen Land. Ihr Trost war, daß dies alles mit unnatürlichen Dingen zugegangen sei. Am meisten schämten sich aber die jungen Leute in Grünwiesel, weil sie die schlechten Gewohnheiten und Sitten des Affen nachgeahmt hatten. Sie stemmten von jetzt an keinen Ellbogen mehr auf, sie schaukelten nicht mit dem Sessel, sie schwiegen, bis sie gefragt wurden, sie legten die Brillen ab und waren artig und gesittet wie zuvor, und wenn je einer wieder in solche schlechte, lächerliche Sitten verfiel, so sagten die Grünwieseler: »Es ist ein Affe.« Der Affe aber, welcher so lange die Rolle eines jungen Herrn gespielt hatte, wurde dem gelehrten Mann, der ein Naturalienkabinett besaß, überantwortet. Dieser läßt ihn in seinem Hof umhergehen, füttert ihn und zeigt ihn als Seltenheit jedem Fremden, wo er noch bis auf den heutigen Tag zu sehen ist.

(Beitrag zum 'Märchenalmanach auf das Jahr 1827')

ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1802-1827)

Freitag, 28. November 2014

Stefan Zweig: An Romain Rolland

Mein lieber und verehrter Freund, ich schreibe Ihnen heute deutsch, weil ich nicht weiß, ob ich alles, was ich sagen will, genug klar ausdrücken kann. Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen unsere intellectuelle Situation zu schildern. Denn der jetzige Augenblick ist ein kritischer.

Meine Beziehung zu den meisten deutschen Menschen beginnt jetzt wieder peinlich zu werden. Menschen, die schon ganz klar fühlten, die sogar diese Klarheit in Worten zum Ausdruck brachten, ziehen sich mit einem mal zurück: Deutschland hat nur einen Gedanken jetzt – und dieser Gedanke drückt sich in allen seinen Menschen aus –: nicht mehr aufrichtig zu sein. Ganz Deutschland arbeitet jetzt an einer Lüge, an einer neuen Legende: Der Kaiser, Ludendorff werden jetzt plötzlich große Persönlichkeiten, der Krieg eine heilige Sache. Alles ist vergessen: die Jugend glüht vor Hass, fiebert nach Krieg, die Professoren, die bestürzt über ihre eigene Dummheit ein wenig geschwiegen hatten, blasen wieder in die teutonischen Hörner.

Der wildeste Wahn ist wieder wach.

Nie waren wir mehr isoliert als jetzt. In den schlimmsten Tagen des Krieges hatten wir Verbündete, vor allem das Leiden des Volkes, das jedes Wort des Friedens im geheimen segnete, wir hatten die Wirklichkeit des Krieges als Gegner, gegen den man kämpfen konnte. Aber schon entsteht wieder das Phantom des Krieges, herrlich idealisiert als Krieg der Rache und der Gerechtigkeit – wie gegen Wahnbilder kämpfen? Was wir sagten, ist vergeblich gegen eine Mentalität, die nicht hören will und die gegen unsere heiligsten Bemühungen das Argument hat: seht, wie die Feinde den Frieden verstehen.

Diese Lüge ist das Schlimmste in der Tat, was Frankreich und England an Deutschland getan haben. Der Hunger traf nur den Leib, – das Rachegelüst, das sich in den letzten französischen Beschlüssen kund tut und auf 42 Jahre von ungeborenen Kindern noch Sclavenarbeit verlangt, hat die deutsche Seele vergiftet. Wir, Sie und ich leben unter Rasenden, unter Wahnsinnigen. Die Deutschen lügen sich aus Verzweiflung jetzt selbst an – wahr ist in ihnen nur der rasende Hass.

Und, lieber verehrter Freund, wie entsetzlich – ich verstehe diesen Hass! Ich teile ihn selbstverständlich nicht, ich weiß ja, dass es ein »Volk«, eine »Nation« gar nicht gibt, sondern nur Menschen. Aber wie das den Leuten erklären dass es Franzosen gibt, die das Quälerische, das Erpresserische missbilligen, wie ihnen das Schweigen des französischen Parlaments (das für sie das Volk darstellt) glaubhaft machen? Die Leute haben ja Recht, wenn sie sagen, dass Artaxerxes und Timur nie einen so grausamen Frieden geschlossen haben, dass Bismarck, den man als einen Gewalttätigen verschrien, eine sentimentale Jungfrau war gegen diese Herren des Rechtes. Und mit Entsetzen sehe ich, dass gerade dadurch, dass Frankreich den Tribut auf ein halbes Jahrhundert erstreckt, dass noch in 42 Jahren Salz in die deutsche Wunde gestreut werden soll, die Revanche unvermeidlich sein wird. Wenn Wunden heilen sollen, muß man ihnen Zeit lassen, sich zu schließen.

Nie habe ich die moralische Atmosphäre giftiger und erstickender empfunden als jetzt, nie unsere Einsamkeit hilfloser, unser Wort sinnloser. Vom Zustand der deutschen Lüge (die jetzt den Krieg als Pflicht von neuem feiert) machen Sie sich keinen Begriff. Die ganze Jugend ist vergiftet, alle Zeitungen, selbst jene, die von Stinnes noch nicht gekauft sind, dem Wahn verfallen. Aber ich wiederhole: das Volk ist in die Sackgasse dieses ziellosen Hasses hineingetrieben worden. Und – offen gesagt – ich weiß keinen Ausweg für sie. Und doch sind wir irgendwie verantwortlich, ihnen eine Tröstung zu geben. Das Moskauer Zaubertränklein ist ja billig und leicht zu verabreichen – aber wir sind ja Seelenärzte genug, um zu wissen, dass diese Arznei sofort wieder zum Gifte wird.

Was tun? Zu Menschen sprechen, die sich den Finger in die Ohren stopfen und laut brüllen, um nicht denken zu müssen? Oder öffentlich protestieren? Unsere Proteste sind so wertlos wie österreichische Banknoten. Oder warten, bis der Wahn vorbei ist? Das ginge, würde nicht 42 Jahre, Jahr für Jahr die Wunde aufgerissen. Ich und Sie, wir haben keine 42 wachen Jahre mehr! Es ist entsetzlich für uns in Deutschland, gerade die Jugend und immer wieder die neue Jugend gegen sich zu haben – zu sehen, dass die, die für uns nur gegen den Krieg zeugen könnten, dass die Kriegsteilnehmer und Invaliden aus Hass lügen und für den Krieg und gegen uns zeugen. Wahr ist der Tribut durch 42 Jahre und was kann dieses unser Wort gegen jene Wahrheit!

Glauben Sie nicht, ich sei müde oder feig geworden vor der Übermacht. Ich frage mich nur: wie dieser Lüge, in der doch eine Wahrheit die treibende Kraft ist, entgegentreten? Können wir von Deutschland aus überhaupt noch etwas tun, ich meine, etwas positives, denn unsere Gesinnung ist ja ein esoterischer Wert? Ach, wenn Sie wüssten, wie widerlich mir diese Teutschen Teutonen mit ihrem Kriegsgeheul sind (ich weiß, es ist auch Heulen, weil sie Steuern zahlen sollen) und wie ich doch diese missleiteten und enttäuschten Menschen, dies in die Knie gedrückte Volk bemitleide!

Wie compliciert ist all dies geworden! Und wie einfach haben wir uns alles gedacht. Wir meinten, beim Sieger würde Begeisterung, beim Besiegten Ekel vor dem Krieg sein. Und es ist umgekehrt! Wirklich, man soll kein Ziel stellen für sein Wirken, sondern nur rein wirken, gerade aus sich heraus: vielleicht hilft man den andern nur, wenn man sich selbst hilft.

Ich muss Ihnen einmal dies Alles schildern – ich könnte Tage davon erzählen! Ein Buch über die Desbordes-Valmore (aus 1914 Pariser Tagen) sende ich gleichzeitig mit. Über meine Biographie sind schon viel Aufsätze erschienen. Mit vielen Grüßen

Ihr getreuer Stefan Zweig

(Brief  vom 8. Februar 1921)

ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor  (1881-1942)

Donnerstag, 27. November 2014

Athanasius Kircher: Kurzer Bericht von dem Kometen und dessen Lauf

BEy diesem Cometen oder Schwantz-Stern / so neulicher Zeit als den 4/14 Decembris des vorigen Jahrs alhie zu Rom sich allererst sehen lassen / sind fürnemblich sechserley in achtzunehmen: 1 dessen Sitz / 2 Lauf oder Gang / 3 die Gestalt / 4 der Schein / 5 der Ort / 6 und dan / wohin er seinen Schwantz gerichtet.

1. Was seinen Sitz betrifft / so ist der Comet, wie aus beygefügter Figur zusehen / erstlich in dem Gestirn der Wasserschlangen unter dem Schnabel des Raben gesehen worden.

2. Von dannen hat er seinen Lauff erstlich aus dem Osten gegen Westen nicht mit einer gleichen geschwindigkeit / sondern als in einer Geometrischen proportion gehalten / und hat sich in den letzten Tagen mit Verwunderung aller der Stern-Kunst erfahrnen gegen Westen schleunigst gekehret. An dem Tropico oder Wende des Stein-Bocks hat er sich etwas gehalten! hernach sich aber bald auf diese bald auf jene Seite des Tropici begeben / und ist zuletzt bey nahe auf 8 Gradus gegen dem Æquatore, oder Linien gestanden. Ob er unter der Erden weg und hinwider zu unsern hemisphærio dem Oberntheil des Himmels gehen werd / wird die Zeit lehren.

3. Der Swantz des Cometen hat von Anfang an / da er zu erst gesehen worden / immer zugenommen / biß er sich ümb den 13/23 Decembris auf die 15 gradus erstrecket. Und übertrifft also hieran gar weit die Länge des Cometen / so im Jahr 1618 gesehen worden. Mit dem zunehmen des Mondes aber ist der Schwantz immer kleiner worden / biß endlich nichts mehr als nur das Haupt des Cometen zusehen gewesen. Nicht zwar / wie ihrer viel davor halten / als ob der Schwantz vergangen: Sondern weil das stärkere Liecht des Monden den schwachen und geringen Schein des Cometen übertroffen und gleichsam verschlungen

4. Der Schein oder Glantz des Hauptes war einem Sterne ähnlich / welches aber durch ein Perspectiv, ein helles Corpus zu seyn bemercket worden / und hat ein Ansehen wie der Mond / wan Dünste vor ihme stehen. Der Schwantz erschiene bey Heitern und hellen Nächten mit einem Dunckelbraunen Brandt-Lichte / wie eine brennende Beck-Fackel. Gegen dem Horizont aber ward er etwas Bleich. Daher die Astrologi und Sternseher wollen / das er Martialisch und Saturnisch sey / und haben diese Stadt Rom mit ihren subtilen Wahrsagungen nicht ohne etlicher Leute Gefahr fast Thorhafft gemachet.

5. Von dem Ort nun zureden: wie / der Comet durch gantz Italien gesehen worden / also können wir sagen und bejahen / daß er über dem Licht stehe: welches sich alsdan mehr eröfnen wird! wan deren observationes, so jenseit des Gebirges wohnen / uns zukommen werden: Demnach der Ort des Cometen am Himmel ohne Kundschafft der paralaxis, und mit was Unterscheid er an andern Orten observiret worden / eigentlich und genau nicht mag gesetzet werden.

6. Seinen Schwantz streckte der Comet anfänglich zum theil gegen Nord-Westen: In den folgenden Tagen aber hat man observiret / daß er seinen Schwantz gegen Norden gewendet. Von seinen Wirckungen und was er bedeute weis ich nichts zu sagen! demnach uns nicht geziemet vorwitziglich viel zu beschreiben / was GOtt der HErr / der alle zukünfftige Dinge voraus weis / hiemit anzeigen wolle. Die Zeit wirds lehren wie jener sagt: Ein Comet, ein Unglücks Prophet.

(Kurtzer Bericht von dem Cometen und dessen Lauff / Welcher gestalt derselbe den 4/14 Decembris des vorigen 1664 Jahrs in Rom gesehen / und daselbst von gemeltem Dato an / biß auf den 20/30 desselben Monats observiret werden können / Ubergesandt an den / Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn / Herrn AUGUSTUM Hertzogen zu Braunschweig und Lüneburg / etc. – Geben zu Rom 3 Jan. 1665)

ZUM TODESTAG DES THEOLOGEN

Über den Autor (1604-1680)

Mittwoch, 26. November 2014

Karl August von Hardenberg: Über die Reorganisation des Preußischen Staats

Die Begebenheiten, welche seit mehreren Jahren unser Staunen erregen und unserem kurzsichtigen Auge als fürchterliche Übel erscheinen, hängen mit dem großen Weltplan einer weisen Vorsehung zusammen. Nur darin können wir Beruhigung finden. Wenngleich unserem Blick nicht vergönnt ist, tief in diesen Plan einzudringen, so lässt sich doch der Zweck dabei vermuten: das Schwache, Kraftlose, Veraltete überall zu zerstören und nach dem Gange, den die Natur auch im Physischen nimmt, neue Kräfte zu weiteren Fortschritten zur Vollkommenheit zu beleben.

Der Staat, dem es glückt, den wahren Geist der Zeit zu fassen und sich in jenen Weltplan durch die Weisheit seiner Regierung ruhig hinein zu arbeiten, ohne dass es gewaltsamer Zuckungen bedürfe, hat unstreitig große Vorzüge, und seine Glieder müssen die Sorgfalt segnen, die für sie so wohltätig wirkt. Die Französische Revolution, wovon die gegenwärtigen Kriege die Fortsetzung sind, gab den Franzosen unter Blutvergießen und Stürmen einen ganz neuen Schwung. Alle schlafenden Kräfte wurden geweckt, das Elende und Schwache, veraltete Vorurteile und Gebrechen wurden – freilich zugleich mit manchem Guten – zerstört. Die Benachbarten und Überwundenen wurden mit dem Strome fortgerissen.

Unkräftig waren alle die Dämme, welche man diesem entgegensetzte, weil Schwäche, egoistischer Eigennutz und falsche Ansicht sie bald ohne Zusammenhang aufführte, bald diesen im gefährlichen Irrtum unterbrach und dem verheerenden Strome Eingang und Wirkung verschaffte. Der Wahn, dass man der Revolution am sichersten durch Festhalten am Alten und durch strenge Verfolgung der durch solche geltend gemachten Grundsätze entgegenstreben könne, hat besonders dazu beigetragen, die Revolution zu befördern und derselben eine stets wachsende Ausdehnung zu geben. Die Gewalt dieser Grundsätze ist so groß, sie sind so allgemein anerkannt und verbreitet, dass der Staat, der sie nicht annimmt, entweder seinem Untergange oder der erzwungenen Annahme derselben entgegensehen muss. Ja selbst die Raub- und Ehr- und Herrschsucht Napoleons und seiner begünstigten Gehilfen ist dieser Gewalt untergeordnet und wird es gegen ihren Willen bleiben. Es lässt sich auch nicht leugnen, dass unerachtet des eisernen Despotismus, womit er regiert, er dennoch in vielen wesentlichen Dingen jene Grundsätze befolgt, wenigstens ihnen dem Schein nach zu huldigen genötigt ist.

Also eine Revolution im guten Sinn, gerade hinführend zu dem großen Zwecke der Veredelung der Menschheit, durch Weisheit der Regierung und nicht durch gewaltsame Impulsion von innen oder außen, das ist unser Ziel, unser leitendes Prinzip. Demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung: dieses scheint mir die angemessene Form für den gegenwärtigen Zeitgeist. Die reine Demokratie müssen wir noch dem Jahre 2440 überlassen, wenn sie anders je für den Menschen gemacht ist. Mit eben der Kraft und Konsequenz, womit Napoleon das französische revolutionäre System verfolgt, müssen wir das unsrige für alles Gute, Schöne, Moralische verfolgen, für dieses alles, was gut und edel ist, zu verbinden trachten. Ein solcher Bund, ähnlich dem der Jakobiner, nur nicht im Zweck und in der Anwendung verbrecherischer Mittel, und Preußen an der Spitze könnte die größte Wirkung hervorbringen und wäre für dieses die mächtigste Allianz. Dieser Gedanke müsste mehr als ein politischer Traum sein, wenn man zumal das Interesse der Bundesglieder auf mehrfache Art dabei ins Spiel zöge, welches sehr möglich ist. Die Mittel würden sich finden. Unter anderen, aber ähnlichen Umständen, jedoch bei einem ganz verschiedenen Zeitgeist revolutionierte Kurfürst Friedrich Wilhelm der Große nach der unglücklichen Epoche unter Georg Wilhelm gleichfalls seinen Staat und legte den Grund zu seiner nachherigen Größe. War aber je ein Zeitpunkt günstig für solche Maßregeln, so ist es unstreitig der gegenwärtige, wo der Staat eine so große Veränderung erlitten hat und nach ganz neuen Grundsätzen handeln, einer gänzlichen Wiedergeburt unterliegen muss.


(Aus der 'Rigaer Denkschrift' vom 12. September 1807)

ZUM TODESTAG DES POLITIKERS

Über den Autor (1750-1822)

Dienstag, 25. November 2014

Gerhard Tersteegen: Abendsegen

Ich bete an die Macht der Liebe, 
die sich in Jesu offenbart; 
Ich geb mich hin dem freien Triebe, 
wodurch ich Wurm geliebet ward; 
Ich will, anstatt an mich zu denken, 
ins Meer der Liebe mich versenken. 

Für Dich sei ganz mein Herz und Leben, 
Mein süßer Gott, und all mein Gut! 
Für Dich hast Du mir's nur gegeben; 
In Dir es nur und selig ruht. 
Hersteller meines schweren Falles, 
für Dich sei ewig Herz und alles! 

Ich liebt und lebte recht im Zwange, 
wie ich mir lebte ohne Dich; 
Ich wollte Dich nicht, ach so lange, 
doch liebest Du und suchtest mich, 
mich böses Kind aus bösem Samen, 
im hohen, holden Jesusnamen. 

Des Vaterherzens tiefste Triebe 
in diesem Namen öffnen sich; 
ein Brunn der Freude, Fried und Liebe 
quillt nun so nah, so mildiglich. 
Mein Gott, wenn’s doch der Sünder wüsste! - 
sein Herz alsbald Dich lieben müsste. 

Wie bist Du mir so zart gewogen, 
und wie verlangt Dein Herz nach mir! 
Durch Liebe sanft und tief gezogen, 
neigt sich mein Alles auch zu Dir. 
Du traute Liebe, gutes Wesen, 
Du hast mich und ich Dich erlesen. 

Ich fühls, Du bist's, Dich muss ich haben, 
ich fühls, ich muss für Dich nur sein; 
Nicht im Geschöpf, nicht in den Gaben, 
mein Ruhplatz ist in Dir allein. 
Hier ist die Ruh, hier ist Vergnügen; 
drum folg ich Deinen selgen Zügen. 

Ehr sei dem hohen Jesusnamen, 
in dem der Liebe Quell entspringt, 
von dem hier alle Bächlein kamen, 
aus dem der Selgen Schar dort trinkt. 
Wie beugen sie sich ohne Ende! 
Wie falten sie die frohen Hände!

O Jesu, dass Dein Name bliebe
im Grunde tief gedrücket ein!
Möcht Deine süße Jesusliebe
in Herz und Sinn gepräget sein!
Im Wort, im Werk, in allem Wesen
sei Jesus und sonst nichts zu lesen.

(Geistliches Lied aus dem Jahre 1750)
(Gesungen vom ASG-Chor)

ZUM GEBURTSTAG DES THEOLOGEN

Über den Autor (1697-1769)

Montag, 24. November 2014

Ludwig Bechstein: Der Richter und der Teufel

In einer Stadt saß ein Mann, der hatte alle Kisten voll Geld und Gut, er selbst aber war voll aller Laster, so schlimm war er, dass es die Leute schier Wunders dünkte, dass ihn die Erde nicht verschlang. Dieser Mann war noch dazu ein Richter, das heißt, ein Richter, der aller Ungerechtigkeit voll war. An einem Markttage ritt er des Morgens aus, seinen schönen Weingarten zu sehen, da trat der Teufel auf dem Heimweg ihn an, in reichen Kleidern und wie ein gar vornehmer Herr gestaltet. Da der Richter nicht wusste, wer dieser Fremdling war, und solches doch gern wissen mochte, so fragte er ihn nicht eben höflich, wer und von wannen er sei? Der Teufel antwortete: »Euch ist besser, wenn Ihr's nicht wisset, wer und woher ich bin!« – »Hoho!« fuhr der Richter heraus, »seid wer Ihr wollt, so muss ich's wissen, oder Ihr seid verloren, denn ich bin der Mann, der hier Gewalt hat, und wenn ich Euch dies und das zu Leide tue, so ist niemand, der es mir wehren wird und kann. Ich nehm Euch Leib und Gut, wenn Ihr mir nicht auf meine Frage Bescheid gebt!« – »Steht es so schlimm«, antwortete der Arge, »so muss ich Euch wohl meinen Namen und mein Gekommen offenbaren; ich bin der Teufel.«

»Hm!« brummte der Richter, »und was ist hier deines Gewerbes, das will ich auch wissen?« –

»Schau, Herr Richter«, antwortete der Böse, »mir ist Macht gegeben, heute in diese Stadt zu gehen, und das zu nehmen, was mir in vollem Ernst gegeben wird.«

»Wohlan!« versetzte der Richter, »tue also, aber lass mich dessen Zeuge sein, dass ich sehe, was man dir geben wird!«

»Fordre das nicht, dabei zu sein, wenn ich nehme, was mir beschieden wird«, widerriet der Teufel dem Richter; dieser aber hub an, den Fürsten der Hölle mit mächtigen Bannworten zu beschwören, und sprach: »Ich gebiete und befehle dir bei Gott und allen Gottes Geboten, bei Gottes Gewalt und Gottes Zorn, und bei allem, was dich und deine Genossen bindet, und bei dem ewigen Gerichte Gottes, dass du vor meinem Angesicht, und anders nicht, nehmest was man dir ernstlich geben wird.«

Der Teufel erschrak, dass er zitterte bei diesen fürchterlichen Worten, und machte ein ganz verdrießlich Gesicht, sprach auch: »Ei so wollte ich, dass ich das Leben nicht hätte! Du bindest mich mit einem so starken Band, dass ich kaum jemals in größerer Klemme war. Ich gebe dir aber mein Wort als Fürst der Hölle, das ich als solcher niemals breche, dass es dir nicht zum Frommen dient, wenn du auf deinen Sinn bestehst. Stehe ab davon!«

»Nein, ich stehe nicht ab davon!« rief der Richter. »Was mir auch darum geschehe, das muss ich über mich ergehen lassen; ich will jenes nun einmal sehen! Und sollt es mir an das Leben gehn!«

Nun gingen beide, der Richter und der Teufel miteinander auf den Markt, wo gerade Markttag war, daher viel Volks versammelt, und überall bot man dem Richter und seinem Begleiter, von dem niemand wusste, wer er sei, volle Becher und hieß sie Bescheid tun. Der Richter tat das auch nach seiner Gewohnheit, und reichte auch dem Teufel eine Kanne, dieser aber nahm den Trunk nicht an, weil er wohl wusste, dass es des Richters Ernst nicht war.

Nun geschah es von ungefähr, dass ein Weib ein Schwein daher trieb, welches nicht nach ihrem Willen ging, sondern die Kreuz die Quere, da schrie das zornige Weib im höchsten Ärger dem Schwein zu: »Ei so geh zum Teufel, dass dich der mit Haut und Haar hole!«

»Hörst du, Geselle?« rief der Richter dem Teufel zu. »Jetzt greife hin und nimm das Schwein.« Aber der Teufel antwortete: »Es ist leider der Frau nicht Ernst mit ihrem Wort. Sie würde ein ganzes Jahr lang trauern und sich grämen, nähme ich ihr Schwein. Nur was mir im Ernste gegeben wird, das darf ich nehmen.«

Ähnliches geschah bald hernach mit einem Weib und einem Kind. Das letztere ging auch nicht so, wie die Frau es lenken wollte, so dass sie auch zu schreien begann: »Hole dich der Teufel, und drehe dir den Hals um!«

»Hörst du, Geselle?« fragte da wieder der Richter. »Das Kind ist dein, hörst du nicht, dass man es dir ernstlich gibt?« »O nein, es ist auch nicht ihr Ernst!« antwortete der Teufel. »Sie würde bitterlich wehklagen, nähme ich sie beim Wort, und das Kind nicht fahren lassen.«

Jetzt sahen beide ein Weib, das hatte viel mit einem Kinde zu schaffen, welches heftig schrie und sich sehr unartig gebärdete, so dass die Frau voll Unwillens war und ausrief: »Willst du mir nicht folgen, so nehme dich der böse Feind, du Balg!«

»Nun? nimmst du auch nicht das Kind?« fragte der Richter ganz verwundert, und der Teufel antwortete: »Ich habe des keine Macht, das Kindlein zu nehmen. Dieses Weib nähme nicht zehn, nicht hundert und nicht tausend Pfund, und gönnte mir im Ernst das Kind; wie gern ich's auch nähme, darf ich doch nicht, denn es ist nicht des Weibes rechter Ernst.«

Nun kamen die beiden recht mitten auf den Markt, wo das dichteste Volksgedränge war, da mussten sie ein wenig stille stehen, und konnten nicht durch das Gewimmel und Getümmel schreiten. Da wurde ein Weib des Richters ansichtig, das war arm und alt und krank und trug ein großes Ungemach; sie begann laut zu weinen und zu schreien, und ließ vor allem Volk folgende heftige Rede vernehmen: »Weh über dich, Richter! Weh über dich, dass du so reich bist und ich so arm bin; du hast mir ohne Schuld, göttliche und menschliche Barmherzigkeit verleugnend, mein einziges Kühlein genommen, das mich ernährte, von dem ich meinen ganzen Unterhalt hatte. Weh über dich, der du es mir genommen hast! Ich flehe und schreie zu Gott, dass er durch seinen Tod und bitteres Leiden, die er für die Menschheit und für uns arme Sünder trug, meine Bitte gewähre, und die ist, dass deinen Leib und deine Seele der Teufel zur Hölle führe!«

Auf diese Rede tat der Richter weder Sage noch Frage, aber der Teufel fuhr ihn höhnisch an und sprach: »Siehst du, Richter, das ist Ernst, und den sollst du gleich gewahr werden!« Damit streckte der Teufel seine Krallen aus, nahm den Richter beim Schopf, und fuhr mit ihm durch die Lüfte von dannen, wie der Geier mit einem Huhn. Alles Volk erschrak und staunte, und weise Männer sprachen die Lehre aus:

»Es ist ein unweiser Rat,
Der mit dem Teufel umgaht.
Wer gern mit ihm umfährt,
Dem wird ein böser Lohn beschert.«


ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Sonntag, 23. November 2014

Eduard Engel: Deutsche Stilkunst

Zwing all dein Fühlen und Denken in einen Punkt, in den deiner Federspitze, wie alle Strahlen der Sonne in den Brennpunkt des Hohlspiegels gesammelt werden, und sei gewiss, dir wird das rechte Wort zur rechten Sache im rechten Augenblick nicht mangeln. Ihr Höchstes leistet die Prosa gleich der Poesie nur aus dem ganz von einem Gefühl erfüllten Herzen. Du sitzest am Schreibtisch, starrst gegen die Wand, sinnst, schreibst, streichst aus, schreibst neu, streichst wieder aus: das erste Wort dünkt dich zu schwach, das zweite zu stumpf, das dritte zu verschwommen in den Umrissen, das vierte zu blass an Farbe. Stärke deine sachliche Bemeisterung des Gegenstandes, und dir wird das stärkere Wort auftönen; spitze dein Denken noch schärfer zu, und der schärfere Ausdruck ist plötzlich da; weise alles nicht streng zur Sache Gehörige weit von dir, und eine scharf umreißende Wendung steht da; sieh was du denkst, und das farbige Wort prangt leuchtend vor deinen Augen. 'Alle Blumen des Vortrages müssen aus der Sache selbst, an diesem Ort, an dieser Stelle, wie Blumen aus dem Schoße ihrer Mutter Erde hervorgehen' (Herder). Denke nicht an die Schreibstube, sondern ans Leben, begnüge dich also nicht mit der schwammigen 'Drehvorrichtung', sondern sage dir selbst: die Sprache ist keine Kanzleischreiberin, muss also ein Lebenswort dafür haben: Kurbel heißt es. Tu nicht gelehrt mit hydraulicher Energie, denn dies ist halb Eitelkeit, halb Unverständlichkeit; sondern schreibe in der Sprache deines Vaters und deiner Mutter: Wasserkraft. Hydrauliche Energie kann ja nur einem Menschen in die Feder kommen, der dabei weder das fließende Wasser sieht, noch dessen Donnerkraft hört, dem sich vielmehr alles grüngoldene Leben in graues Aktenpapier verwandelt. Ein bisschen spielerisch, aber doch ganz lustig rät Rückert:

Lass auf dich etwas rechten Eindruck machen,
So wirst du schnell den rechten Ausdruck finden;
Und kannst du nur den rechten Ausdruck finden,
So wirst du schnell den rechten Eindruck machen.

(Aus dem Abschnitt 'Die Macht des Wortes' des 1922 in dreißigster Auflage erschienenen Werks)

ZUM GEBURTSTAG DES PHILOLOGEN

Über den Autor (1851-1938)

Samstag, 22. November 2014

Samuel Christian Pape: Die Kleine

Sie weinte bitterlich,
Die liebe, gute Kleine:
"Da geh' ich hier und weine
Und denke nur den ganzen Tag,
Wann doch mein Wilhelm kommen mag?
Ach, käme nur ein Wandersmann
Und sagte mir was Gutes an
Von meines Trauten Leben,
Ich wollt ihm Alles geben,
Und einen Kuss dazu!"

Sie weinte bitterlich,
und blickt' ins Feld hinüber.
Und, sieh! Da ritt vorüber
Ein Mann mit einem langen Bart,
Dass auch dem Mädlein bange ward,
Ein Jäger, blank von Haupt zu Fuß;
Der bot ihr einen schönen Gruß
So wohlgemut und munter
Von seinem Ross herunter
Und einen Kuss dazu.

Sie weinte bitterlich
Vor lauter Herzenssehnen;
Sie trocknete die Tränen
Mit ihrem schönen seid'nen Tuch,
Dass ihr das Herz im Busen schlug.
Da nahte sich der blanke Mann.
"Du liebe Kleine!" hub er an,
"Das Tuch kannst du mir schenken
Zum süßen Angedenken
Und einen Kuss dazu!"

Sie weinte bitterlich:
"Ei, sieh! was mich doch wundert!
Warum nicht lieber hundert?
Ein fremder Mann, ich weiß nicht, wer?
Ja, käme so mein Wilhelm her,
Und fordert's er, ich weiß nicht, was?
Und sagte mir nur Dies und Das:
Wenn er nicht haben sollte,
Was er nur haben wollte,
Und einen Kuss dazu!"

Sie weinte bitterlich.
Da hub er an: "Oh, weine
Nicht so, du liebe Kleine!
Sieh her! An dieser rechten Hand,
Siehst du das Ringlein mit Demant?
Das war an seinem Hochzeitstag,
Da schenkt' er mir den Ring und sprach:
Den gab mir einst im Städtchen
Ein kleines eitles Mädchen
Und einen Kuss dazu!"

Sie weinte bitterlich:
Ei sieh! was ich wohl dächte!
Du bist mir auch der Rechte.
Ja, ja! Als er zu Felde ging,
Da gab ich ihm den schönen Ring.
Allein das Andre ist nicht wahr,
Das lügst du, Jäger, offenbar.
Du willst mich nur betrügen,
Mein schönes Tuch zu kriegen
Und einen Kuß dazu!"

Sie weinte bitterlich.
"Oh doch, du liebe Kleine!
Du weißt wohl, was ich meine.
Es sind der schönen Mädchen mehr,
Die locken hin, die locken her.
Dein Trauter ist ein wack'res Blut;
Der ist den schönen Mädchen gut.
Da ließ er sich nun fangen
Durch rosenrote Wangen
Und einen Kuss dazu!"

Sie weinte bitterlich:
"Das hätt' er lassen müssen!
Er konnte mich ja küssen!
Nicht wahr? So hatt' er mich nur lieb,
So lang' er immer bei mir blieb!
Gewiss! Das hat er schlecht gemacht;
Das hätt' ich nimmermehr gedacht!
Da lässt er sich nun fangen
Durch rosenrote Wangen
Und einen Kuss dazu!"

Sie weinte bitterlich;
Sie bat ihn auf und nieder:
"Gib mir das Ringlein wieder!
Ich bitte dich, so viel ich kann,
Du lieber, lieber, schöner Mann!" –
"Nein, Mädlein, nein! Ich bin kein Tor.
Willst du, so musst du mir zuvor
Zum süßen Angedenken
Das Tuch von Seide schenken
Und einen Kuss dazu!"

Sie weinte bitterlich:
"Ach, hier ist was zu küssen!
Soll ich mit Tränengüssen
Dich harten Mann noch länger flehn?
So magst du meinetwegen gehn!
Ich kaufe nicht um solchen Preis:
Allein ich weiß wohl, was ich weiß:
Den Ring hast du gestohlen;
Nun willst du dies noch holen,
Und einen Kuss dazu!"

Sie weinte bitterlich.
Da bog er sich hinüber;
Die Augen gingen über,
Dass er in Tränen sich ergoss.
Er sprang herab von seinem Ross.
Herab die Maske vom Gesicht:
"Und kennst du deinen Wilhelm nicht? –
Da hast du meine Treue
Und meine Hand aufs Neue,
Und einen Kuss dazu!"

Sie weinte bitterlich.
Sie schrie vor lauter Wonne;
Die gold'ne Abendsonne
Umglänzte sie mit Himmelslicht,
Wie eines Engels Angesicht. –
Er stand nach einem halben Jahr
Mit seiner Kleinen am Altar.
Sie gab ihm, was er wollte,
Und was er haben sollte
Und einen Kuss dazu! –


(Ballade aus dem Jahre 1797)

ZUM GEBURTSTAG DES DICHTERS

Über den Autor (1774-1817)

Freitag, 21. November 2014

Friedrich Schleiermacher: Monologen

Lass Dir keine Ordnung gebieten, wann Du anschauen sollest oder begreifen, wann in Dich hineingehen oder aus Dir heraus! Fröhlich jedes fremde Gesetz verschmäht und den Gedanken verscheucht, der in toten Buchstaben verzeichnen will des Lebens freien Wechsel! Lass Dir nicht sagen, dies müsse erst vollendet sein, dann jenes! Gehe weiter, wie und wann es Dir gefällt, mit leichtem Schritt: lebt doch Alles in Dir und bleibt, was Du gehandelt hast, und findest es wieder, wenn Du zurückkommst. Lass Dir nicht bange machen, was wohl daraus werden möchte, wenn Du jetzt dies begönnest oder jenes! Immer wird nichts als Du; denn was Du wollen kannst, gehört auch in Dein Leben. Wolle ja nicht mäßig sein im Handeln! Lebe frisch immer fort; keine Kraft geht verloren, als die Du ungebraucht in Dich zurückdrängst. Wolle ja nicht dies jetzt, damit Du hernach wollen könnest jenes! Schäme Dich, freier Geist, wenn das Eine in Dir sollte dienen dem Andern; nichts darf Mittel sein in Dir, ist ja Eins so viel wert als das Andere; darum, was Du wirst, werde um seiner selbst willen! Törichter Betrug, dass Du wollen solltest, was Du nicht willst! Lass Dir nicht gebieten von der Welt, wann und was Du leisten sollest für sie! Verlache stolz die törichte Anmaßung und leide nicht den Druck! Alles ist Deine freie Gabe; denn in Deinem inneren Handeln muss aufgehen der Entschluss, ihr etwas zu tun; und tue nichts, als was so Dir in freier Liebe und Lust hervorgeht aus dem Innern des Gemütes! Lass Dir keine Grenzen setzen in Deiner Liebe, nicht Maß, nicht Art, nicht Dauer! Ist sie doch Dein Eigentum: wer kann sie fordern? Ist doch ihr Gesetz bloß in Dir: wer hat dort zu gebieten? Schäme Dich, fremder Meinung zu folgen in dem, was das Heiligste ist! Schäme Dich der falschen Scham, dass sie nicht verstehen möchten, wenn Du den Fragenden sagtest: darum liebe ich! Lass Dich nicht stören, was auch äußerlich geschehe, in des inneren Lebens Fülle und Freude! Wer wollte vermischen, was nicht zusammen gehört, und grämlich sein in sich selbst? Härme Dich nicht, wenn Du dies nicht sein kannst, und jenes nicht tun! Wer wollte mit leerem Verlangen nach der Unmöglichkeit hinsehen, und mit halbsüchtigem Auge nach fremdem Gut?

So frei und fröhlich bewegt sich mein inneres Leben! Wann und wie sollte wohl Zeit und Schicksal mich andere Weisheit lehren? Der Welt lasse ich ihr Recht: nach Ordnung und Weisheit, nach Besonnenheit und Maß strebe ich im äußeren Tun. Warum sollte ich auch verschmähen, was sich leicht und gern darbietet und willig hervorgeht aus meinem inneren Wesen und Handeln? Ohne Mühe gewinnt das Alles in reichem Maße, wer die Welt anschaut; aber durch das Anschauen seiner selbst gewinnt der Mensch, dass sich ihm nicht nähern darf Mutlosigkeit und Schwäche: denn dem Bewusstsein der inneren Freiheit und ihres Handelns entsprießt ewige Jugend und Freude. Dies habe ich ergriffen, und lasse es nimmer, und so sehe ich lächelnd schwinden der Augen Licht und keimen das weisse Haar zwischen den blonden Locken. Nichts, was geschehen kann, mag mir das Herz beklemmen: frisch bleibt der Puls des inneren Lebens bis an den Tod.

(Schluss des 1800 erschienenen Werks)

ZUM GEBURTSTAG DES THEOLOGEN

Über den Autor (1768-1834)

Donnerstag, 20. November 2014

Paula Modersohn-Becker: Tagebuchblätter

Es ist meine Erfahrung, dass die Ehe nicht glücklicher macht. Sie nimmt die Illusion, die vorher das ganze Wesen trug, dass es eine Schwesterseele gäbe. Man fühlt in der Ehe doppelt das Unverstandensein, weil das ganze frühere Leben darauf hinausging, ein Wesen zu finden, das versteht. Und ist es vielleicht nicht doch besser ohne Illusion? Aug' in Auge einer großen einsamen Wahrheit?

Dies schreibe ich in mein Küchenhaushaltebuch am Ostersonntag 1902, sitze in meiner Küche und koche Kalbsbraten.

(Zitiert bei operone.de)

ZUM TODESTAG DER MALERIN

Über die Autorin (1876-1907)

Mittwoch, 19. November 2014

Georg Hermann: Jettchen Gebert

Man lasse mich hier eine Geschichte erzählen, einfach deshalb, weil es mich gelüstet, es zu tun. Aus keinem Grunde sonst. Ich will mich ganz in ihr verplaudern, mich darin einspinnen wie der Seidenwurm in seine eigenen Fäden. Nehmt es als Laune! Denkt, es ist ein Spielzeug, das er sich da zusammenbaut! Gott weiß, weshalb! Aber – hört zu! Denn erzähle ich nicht diese Geschichte, so wird niemand sein, der sie euch erzählen wird, und sie könnte verlorengehen, könnte ungeschehen werden – und das wäre schade! Sie selbst nämlich, die an den Vorgängen Anteil hatten, werden nichts mehr von ihnen verraten. Keine Silbe darüber werdet ihr von ihnen vernehmen; denn sie sind ein wenig schweigsam, seitdem sie sich vom Geschäft dieses Daseins vor einigen Jahrzehnten zurückgezogen haben, um ungestört in behaglicher Selbstbeschaulichkeit auf den Tag zu warten, an dem mit Schnur und Messstange Wege und Straßen durch die lärmumwogte Einsamkeit ihres heutigen Domizils gezogen werden und anstatt ihrer bescheidenen efeubezogenen Hügel, zwischen denen sich nachmittags die Kinder jagen, granitene Bordschwellen und Platten für den Bürgersteig zu Haufen schichtet. Es ist Sage geworden, das Leben all derer, von denen ich sprechen werde. Mehr noch – es hat sich in nichts aufgelöst. Sie sind, wie der Psalmist sagt, dahingegangen, als ob sie nie gewesen wären.

Und deshalb lasst mich von ihnen sprechen! Denn es ist eine Ungerechtigkeit, eine schreiende Ungerechtigkeit, dass etwas, das einmal gewesen ist, so glatt wieder in das Nichts zurücktauchen soll, dass nach uns ... nach unserer Anwesenheit an dieser zweifelhaften Stelle, kaum fünfzig, sechzig Jahre nach unserem Abgang von der Lebensbühne keine Seele mehr fragen soll, kein Huhn gackern, kein Hahn krähen. Leben wir dazu? Weinen und freuen wir uns dazu? Tragen wir die Ketten von eisernen Ringen und goldenen Gliedern, die unlösbar miteinander verhakt und vernietet sind, von Glück und Leid, nur dazu? Soll niemand wissen, was wir getragen haben? Warum soll nicht das Wort vom Leben Zeugnis geben? Warum soll nicht der letzte Hall von Menschen und Dingen aufgefangen werden? Warum nicht den Stein noch einmal mühselig bergan wälzen, ehe er für immer von der nächtlichen Tiefe der Schluchten verschlungen wird?

(Beginn des 1906 erschienenen Romans)

ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1871-1943)

Dienstag, 18. November 2014

Gustav Theodor Fechner: Das Büchlein vom Leben nach dem Tode

Der Mensch lebt auf der Erde nicht einmal, sondern dreimal. Seine erste Lebensstufe ist ein steter Schlaf, die zweite eine Abwechselung zwischen Schlaf und Wachen, die dritte ein ewiges Wachen.

Auf der ersten Stufe lebt der Mensch einsam im Dunkel, auf der zweiten lebt er gesellig aber gesondert neben und zwischen andern in einem Lichte, das ihm die Oberfläche abspiegelt, auf der dritten verflicht sich sein Leben mit dem von andern Geistern zu einem höhern Leben in dem höchsten Geiste, und schaut er in das Wesen der endlichen Dinge.

Auf der ersten Stufe entwickelt sich der Körper aus dem Keime und erschafft sich seine Werkzeuge für die zweite; auf der zweiten entwickelt sich der Geist aus dem Keime und erschafft sich seine Werkzeuge für die dritte; auf der dritten entwickelt sich der göttliche Keim, der in jedes Menschen Geiste liegt und schon hier in ein für uns dunkles, für den Geist der dritten Stufe tageshelles Jenseits durch Ahnung, Glaube, Gefühl und Instinkt des Genius über den Menschen hinausweist.

Der Übergang von der ersten zur zweiten Lebensstufe heißt Geburt; der Übergang von der zweiten zur dritten heißt Tod.

Der Weg, auf dem wir von der zweiten zur dritten Stufe übergehen, ist nicht finstrer als der, auf dem wir von der ersten zur zweiten gelangen. Der eine führt zum äußern, der andere zum innern Schauen der Welt.

Wie aber das Kind auf der ersten Stufe noch blind und taub ist für allen Glanz und alle Musik des Lebens auf der zweiten und seine Geburt aus dem warmen Mutterleibe ihm hart ankommt und es schmerzt, und wie es einen Augenblick in der Geburt gibt, wo es die Zerstörung seines früheren Daseins als Tod fühlt, bevor noch das Erwachen zum äußern neuen Sein stattfindet, so wissen wir in unserm jetzigen Dasein, wo unser ganzes Bewußtsein noch im engen Körper gebunden liegt, noch nichts vom Glanze und der Musik und der Herrlichkeit und Freiheit des Lebens auf der dritten Stufe und halten leicht den engen dunkeln Gang, der uns dahin führt, für einen blinden Sack, aus dem kein Ausgang sei. Aber der Tod ist nur eine zweite Geburt zu einem freiern Sein, wobei der Geist seine enge Hülle sprengt und liegen und verfaulen läßt, wie das Kind die seine bei der ersten Geburt.

Danach wird alles, was uns mit unsern jetzigen Sinnen äußerlich und gleichsam nur aus der Ferne nahe gebracht wird, in seiner Innerlichkeit von uns durchdrungen und empfunden werden. Der Geist wird nicht mehr vorüberstreifen am Berge und Grase, er wird nicht mehr, umgeben von der ganzen Wonne des Frühlings, doch von der Wehmut gequält werden, daß das alles ihm nur äußerlich bleibt, sondern er wird Berg und Gras durchdringen und jenes Stärke und dessen Lust im Wachsen fühlen; er wird sich nicht mehr abmühen, durch Worte und Gebärde einen Gedanken in andern zu erzeugen, sondern in der unmittelbaren Einwirkung der Geister aufeinander, die nicht mehr durch die Körper getrennt, sondern durch die Körper verbunden werden, wird die Lust der Gedankenzeugung bestehen; er wird nicht äußerlich den zurückgelassenen Lieben erscheinen, sondern er wird in ihren innersten Seelen wohnen, als Teil derselben, in ihnen und durch sie denken und handeln.

(Erstes Kapitel des 1836 erschienen Werks)

ZUM TODESTAG DES PSYCHOLOGEN

Über den Autor (1801-1887)