Der Mensch lebt auf der Erde nicht einmal, sondern dreimal. Seine
erste Lebensstufe ist ein steter Schlaf, die zweite eine Abwechselung
zwischen Schlaf und Wachen, die dritte ein ewiges Wachen.
Auf der ersten Stufe lebt der Mensch einsam im Dunkel, auf der
zweiten lebt er gesellig aber gesondert neben und zwischen andern in
einem Lichte, das ihm die Oberfläche abspiegelt, auf der dritten
verflicht sich sein Leben mit dem von andern Geistern zu einem höhern
Leben in dem höchsten Geiste, und schaut er in das Wesen der endlichen
Dinge.
Auf der ersten Stufe entwickelt sich der Körper aus dem Keime
und erschafft sich seine Werkzeuge für die zweite; auf der zweiten
entwickelt sich der Geist aus dem Keime und erschafft sich seine
Werkzeuge für die dritte; auf der dritten entwickelt sich der göttliche
Keim, der in jedes Menschen Geiste liegt und schon hier in ein für uns
dunkles, für den Geist der dritten Stufe tageshelles Jenseits durch
Ahnung, Glaube, Gefühl und Instinkt des Genius über den Menschen
hinausweist.
Der Übergang von der ersten zur zweiten Lebensstufe heißt Geburt; der Übergang von der zweiten zur dritten heißt Tod.
Der Weg, auf dem wir von der zweiten zur dritten Stufe
übergehen, ist nicht finstrer als der, auf dem wir von der ersten zur
zweiten gelangen. Der eine führt zum äußern, der andere zum innern
Schauen der Welt.
Wie aber das Kind auf der ersten Stufe noch blind und taub ist für allen Glanz und alle Musik des Lebens auf der
zweiten und
seine Geburt aus dem warmen Mutterleibe ihm hart ankommt und es
schmerzt, und wie es einen Augenblick in der Geburt gibt, wo es die
Zerstörung seines früheren Daseins als Tod fühlt, bevor noch das
Erwachen zum äußern neuen Sein stattfindet, so wissen wir in unserm
jetzigen Dasein, wo unser ganzes Bewußtsein noch im engen Körper
gebunden liegt, noch nichts vom Glanze und der Musik und der
Herrlichkeit und Freiheit des Lebens auf der dritten Stufe und halten
leicht den engen dunkeln Gang, der uns dahin führt, für einen blinden
Sack, aus dem kein Ausgang sei. Aber der Tod ist nur eine zweite Geburt
zu einem freiern Sein, wobei der Geist seine enge Hülle sprengt und
liegen und verfaulen läßt, wie das Kind die seine bei der ersten Geburt.
Danach wird alles, was uns mit unsern jetzigen Sinnen äußerlich
und gleichsam nur aus der Ferne nahe gebracht wird, in seiner
Innerlichkeit von uns durchdrungen und empfunden werden. Der Geist wird
nicht mehr vorüberstreifen am Berge und Grase, er wird nicht mehr,
umgeben von der ganzen Wonne des Frühlings, doch von der Wehmut gequält
werden, daß das alles ihm nur äußerlich bleibt, sondern er wird Berg und
Gras durchdringen und jenes Stärke und dessen Lust im Wachsen fühlen;
er wird sich nicht mehr abmühen, durch Worte und Gebärde einen Gedanken
in andern zu erzeugen, sondern in der unmittelbaren Einwirkung der
Geister aufeinander, die nicht mehr durch die Körper getrennt, sondern
durch die Körper verbunden werden, wird die Lust der Gedankenzeugung
bestehen; er wird nicht äußerlich den zurückgelassenen Lieben
erscheinen, sondern er wird in ihren innersten Seelen wohnen, als Teil
derselben, in ihnen und durch sie denken und handeln.
(Erstes Kapitel des 1836 erschienen Werks)
ZUM TODESTAG DES PSYCHOLOGEN
Über den Autor (1801-1887)
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