Samstag, 22. November 2014

Samuel Christian Pape: Die Kleine

Sie weinte bitterlich,
Die liebe, gute Kleine:
"Da geh' ich hier und weine
Und denke nur den ganzen Tag,
Wann doch mein Wilhelm kommen mag?
Ach, käme nur ein Wandersmann
Und sagte mir was Gutes an
Von meines Trauten Leben,
Ich wollt ihm Alles geben,
Und einen Kuss dazu!"

Sie weinte bitterlich,
und blickt' ins Feld hinüber.
Und, sieh! Da ritt vorüber
Ein Mann mit einem langen Bart,
Dass auch dem Mädlein bange ward,
Ein Jäger, blank von Haupt zu Fuß;
Der bot ihr einen schönen Gruß
So wohlgemut und munter
Von seinem Ross herunter
Und einen Kuss dazu.

Sie weinte bitterlich
Vor lauter Herzenssehnen;
Sie trocknete die Tränen
Mit ihrem schönen seid'nen Tuch,
Dass ihr das Herz im Busen schlug.
Da nahte sich der blanke Mann.
"Du liebe Kleine!" hub er an,
"Das Tuch kannst du mir schenken
Zum süßen Angedenken
Und einen Kuss dazu!"

Sie weinte bitterlich:
"Ei, sieh! was mich doch wundert!
Warum nicht lieber hundert?
Ein fremder Mann, ich weiß nicht, wer?
Ja, käme so mein Wilhelm her,
Und fordert's er, ich weiß nicht, was?
Und sagte mir nur Dies und Das:
Wenn er nicht haben sollte,
Was er nur haben wollte,
Und einen Kuss dazu!"

Sie weinte bitterlich.
Da hub er an: "Oh, weine
Nicht so, du liebe Kleine!
Sieh her! An dieser rechten Hand,
Siehst du das Ringlein mit Demant?
Das war an seinem Hochzeitstag,
Da schenkt' er mir den Ring und sprach:
Den gab mir einst im Städtchen
Ein kleines eitles Mädchen
Und einen Kuss dazu!"

Sie weinte bitterlich:
Ei sieh! was ich wohl dächte!
Du bist mir auch der Rechte.
Ja, ja! Als er zu Felde ging,
Da gab ich ihm den schönen Ring.
Allein das Andre ist nicht wahr,
Das lügst du, Jäger, offenbar.
Du willst mich nur betrügen,
Mein schönes Tuch zu kriegen
Und einen Kuß dazu!"

Sie weinte bitterlich.
"Oh doch, du liebe Kleine!
Du weißt wohl, was ich meine.
Es sind der schönen Mädchen mehr,
Die locken hin, die locken her.
Dein Trauter ist ein wack'res Blut;
Der ist den schönen Mädchen gut.
Da ließ er sich nun fangen
Durch rosenrote Wangen
Und einen Kuss dazu!"

Sie weinte bitterlich:
"Das hätt' er lassen müssen!
Er konnte mich ja küssen!
Nicht wahr? So hatt' er mich nur lieb,
So lang' er immer bei mir blieb!
Gewiss! Das hat er schlecht gemacht;
Das hätt' ich nimmermehr gedacht!
Da lässt er sich nun fangen
Durch rosenrote Wangen
Und einen Kuss dazu!"

Sie weinte bitterlich;
Sie bat ihn auf und nieder:
"Gib mir das Ringlein wieder!
Ich bitte dich, so viel ich kann,
Du lieber, lieber, schöner Mann!" –
"Nein, Mädlein, nein! Ich bin kein Tor.
Willst du, so musst du mir zuvor
Zum süßen Angedenken
Das Tuch von Seide schenken
Und einen Kuss dazu!"

Sie weinte bitterlich:
"Ach, hier ist was zu küssen!
Soll ich mit Tränengüssen
Dich harten Mann noch länger flehn?
So magst du meinetwegen gehn!
Ich kaufe nicht um solchen Preis:
Allein ich weiß wohl, was ich weiß:
Den Ring hast du gestohlen;
Nun willst du dies noch holen,
Und einen Kuss dazu!"

Sie weinte bitterlich.
Da bog er sich hinüber;
Die Augen gingen über,
Dass er in Tränen sich ergoss.
Er sprang herab von seinem Ross.
Herab die Maske vom Gesicht:
"Und kennst du deinen Wilhelm nicht? –
Da hast du meine Treue
Und meine Hand aufs Neue,
Und einen Kuss dazu!"

Sie weinte bitterlich.
Sie schrie vor lauter Wonne;
Die gold'ne Abendsonne
Umglänzte sie mit Himmelslicht,
Wie eines Engels Angesicht. –
Er stand nach einem halben Jahr
Mit seiner Kleinen am Altar.
Sie gab ihm, was er wollte,
Und was er haben sollte
Und einen Kuss dazu! –


(Ballade aus dem Jahre 1797)

ZUM GEBURTSTAG DES DICHTERS

Über den Autor (1774-1817)

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