Mittwoch, 19. November 2014

Georg Hermann: Jettchen Gebert

Man lasse mich hier eine Geschichte erzählen, einfach deshalb, weil es mich gelüstet, es zu tun. Aus keinem Grunde sonst. Ich will mich ganz in ihr verplaudern, mich darin einspinnen wie der Seidenwurm in seine eigenen Fäden. Nehmt es als Laune! Denkt, es ist ein Spielzeug, das er sich da zusammenbaut! Gott weiß, weshalb! Aber – hört zu! Denn erzähle ich nicht diese Geschichte, so wird niemand sein, der sie euch erzählen wird, und sie könnte verlorengehen, könnte ungeschehen werden – und das wäre schade! Sie selbst nämlich, die an den Vorgängen Anteil hatten, werden nichts mehr von ihnen verraten. Keine Silbe darüber werdet ihr von ihnen vernehmen; denn sie sind ein wenig schweigsam, seitdem sie sich vom Geschäft dieses Daseins vor einigen Jahrzehnten zurückgezogen haben, um ungestört in behaglicher Selbstbeschaulichkeit auf den Tag zu warten, an dem mit Schnur und Messstange Wege und Straßen durch die lärmumwogte Einsamkeit ihres heutigen Domizils gezogen werden und anstatt ihrer bescheidenen efeubezogenen Hügel, zwischen denen sich nachmittags die Kinder jagen, granitene Bordschwellen und Platten für den Bürgersteig zu Haufen schichtet. Es ist Sage geworden, das Leben all derer, von denen ich sprechen werde. Mehr noch – es hat sich in nichts aufgelöst. Sie sind, wie der Psalmist sagt, dahingegangen, als ob sie nie gewesen wären.

Und deshalb lasst mich von ihnen sprechen! Denn es ist eine Ungerechtigkeit, eine schreiende Ungerechtigkeit, dass etwas, das einmal gewesen ist, so glatt wieder in das Nichts zurücktauchen soll, dass nach uns ... nach unserer Anwesenheit an dieser zweifelhaften Stelle, kaum fünfzig, sechzig Jahre nach unserem Abgang von der Lebensbühne keine Seele mehr fragen soll, kein Huhn gackern, kein Hahn krähen. Leben wir dazu? Weinen und freuen wir uns dazu? Tragen wir die Ketten von eisernen Ringen und goldenen Gliedern, die unlösbar miteinander verhakt und vernietet sind, von Glück und Leid, nur dazu? Soll niemand wissen, was wir getragen haben? Warum soll nicht das Wort vom Leben Zeugnis geben? Warum soll nicht der letzte Hall von Menschen und Dingen aufgefangen werden? Warum nicht den Stein noch einmal mühselig bergan wälzen, ehe er für immer von der nächtlichen Tiefe der Schluchten verschlungen wird?

(Beginn des 1906 erschienenen Romans)

ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1871-1943)

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