Donnerstag, 31. Juli 2014

Peter Rosegger: Waldheimat

Ich erinnere mich an eine Geschichte, welche mein Vater oft erzählt und die sich zu Zeiten seines Großvaters zugetragen hatte. Dieser Großvater hatte einen Nachbar, welcher einmal in einer Nacht den Grenzstein versetzte, so dass dadurch der Großvater um einige Klafter Wiesengrund benachteilt wurde. Der Nachbar starb, ohne sein Unrecht gut gemacht zu haben, und was geschah? Jede und jede Nacht musste er aus seinem Grabe steigen und den Grenzstein auf seinen ursprünglichen Platz zurücktragen. Der Großvater meines Vaters selbst hatte den Geist des Nachbars mehrmals gesehen, wie dieser an der Grenzscheide hin und her ging, bis der Großvater den Grenzstein amtlich richtigstellen ließ und zum Zeichen seiner Verzeihung für den Nachbar eine Messe opferte. Von dieser Zeit an war der Geist nicht mehr zu sehen, er war erlöst, er konnte ruhen. / Nicht viel besser wie diesem Nachbar ist es auch mir ergangen. Ich war denn fortgezogen von meinem Meister und seinem Handwerk. Ich habe in der Welt gelebt und gestrebt – und habe doch noch bei ihm sitzen und nähen müssen. Viele Jahre sind vorbei, seit ich von meinem Lehrmeister gegangen bin; viele Jahre ist es, seit ich jeden Tag an der geistigen Ausbildung und Vollendung meines Wesens arbeite, Hunderte und Hunderte von Büchern lese und selbst welche schreibe; und seit vielen Jahren war es, dass ich gar manche Nacht neben meinem Lehrmeister in irgendeinem Bauernhause saß und schneiderte. / Ich erzähle Träume und sage Wahrheit. Ich erfreue mich sonst eines gesunden Schlummers, aber ich habe die Ruhe von so mancher Nacht eingebüßt, ich habe neben meinem bescheidenen Studenten- und Literatendasein den Schatten meines Schneiderlebens durch die langen Jahre geschleppt, wie ein Gespenst, ohne seiner los werden zu können. / Es ist nicht wahr, dass ich mich tagsüber in Gedanken so häufig und und lebhaft mit meiner Vergangenheit beschäftigt hätte. Ein der Haut eines Handwerkers entsprungener Welt- und Himmelsstürmer hat anderes zu tun. Aber auch an seine nächtlichen Träume wird der flottgewordene Bursche kaum gedacht haben; erst später, als ich gewohnt worden war, über alles nachzudenken, oder auch, als sich der Philister in mir mehr zu regen begann, fiel es mir auf, wieso ich denn – wenn ich überhaupt träumte – allemal der Schneidergesell' sei, und dass ich solchergestalt schon so lange Zeit bei meinem Lehrmeister unentgeltlich in der Werkstatt arbeite. Ich war mir, wenn ich so neben ihm saß und nähte und bügelte, recht wohl bewusst, dass ich eigentlich nicht mehr dorthin gehöre, dass ich mich jetzt mit ganz anderen Dingen zu befassen hätte; doch hatte ich stets Ferien, war stets auf der Sommerfrische, und so saß ich zur Aushilfe beim Lehrmeister. Es war mir oft gar unbehaglich, ich bedauerte den Verlust der Zeit, in welcher ich mich besser und nützlicher zu beschäftigen gewusst hätte. Vom Lehrmeister musste ich mir mitunter, wenn etwas nicht ganz nach Maß und Schnitt ausfallen wollte, eine Rüge gefallen lassen; von einem Wochenlohn jedoch war gar niemals die Rede; oft, wenn ich mit gekrümmtem Rücken in der dunkeln Werkstatt so dasaß, nahm ich mir vor, die Arbeit zu kündigen und mich fremd zu machen. Einmal tat ich's sogar, jedoch der Meister nahm keine Notiz davon, und nächstens saß ich doch wieder bei ihm und nähte. / Wie mich nach solch langweiligen Stunden das Erwachen beglückte! Und da nahm ich mir vor, wenn dieser zudringliche Traum sich wieder einmal einstellen sollte, ihn mit Gewalt von mir zu werfen und laut auszurufen: es ist nur Gaukelspiel, ich liege im Bett und will schlafen! – Und in der nächsten Nacht saß ich doch wieder in der Schneiderwerkstatt. / So ging es jahrelang in unheimlicher Regelmäßigkeit fort. Da war es einmal, als wir, der Meister und ich, beim Alpelhofer arbeiteten, bei jenem Bauer, wo ich in die Lehre getreten war, dass sich mein Meister besonders unzufrieden mit meinen Arbeiten zeigte. »Möcht' nur wissen, wo du deine Gedanken hast!« sagte er und sah mich finster an. Ich dachte, das Vernünftigste wäre, wenn ich jetzt aufstünde, dem Meister bedeutete, dass ich nur aus Gefälligkeit bei ihm sei, und wenn ich dann davonginge. Aber ich tat es nicht. Ich ließ es mir gefallen, als der Meister einen Lehrling aufnahm und mir befahl, demselben auf der Bank Platz zu machen. Ich rückte in den Winkel und nähte. An demselben Tage wurde auch noch ein Geselle aufgenommen – bigott, es war der Böhm', welcher vor vielen Jahren bei uns gearbeitet hatte und damals auf dem Wege vom Wirtshause in den Bach gefallen war. Als er sich setzen wollte, war kein Platz da. Ich blickte den Meister fragend an, und dieser sagte zu mir: »Du hast ja doch keinen Schick zur Schneiderei, du kannst gehen, du bist fremd gemacht.« – So übermächtig war hierüber mein Schreck, dass ich erwachte. / Das Morgengrauen schimmerte zu den klaren Fenstern herein in mein trautes Heim. Gegenstände der Kunst umgaben mich; im stilvollen Bücherschranke harrte meiner der ewige Homer, der gigantische Dante, der unvergleichliche Shakespeare, der glorreiche Goethe – die Herrlichen, die Unsterblichen alle. Vom Nebenzimmer her klangen die hellen Stimmchen der erwachenden und mit ihrer Mutter schäkernden Kinder. Mir war zumute, als hätte ich dieses süße, dieses friedensmilde und poesiereiche, helldurchgeistigte Leben, in welchem ich das Glück der Beschaulichkeit so oft und tief empfand, von neuem wieder gefunden. Und doch wurmte es mich, dass ich mit der Kündigung meinem Meister nicht zuvorgekommen, sondern von ihm abgedankt worden war. / Und wie merkwürdig ist mir das: seit jener Nacht, da mich der Meister »fremd gemacht« hatte, genieße ich Ruhe, träume nicht mehr von meiner in ferner Vergangenheit liegenden Schneiderzeit, die in ihrer Anspruchslosigkeit ja so kindlich froh gewesen, und die doch einen so langen Schatten in meine späteren Lebensjahre hineingeworfen hat.

(Aus dem 1877 erschienenen Erzählband

ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Mittwoch, 30. Juli 2014

Otto von Bismarck: Gedanken und Erinnerungen

Als normales Produkt unsres staatlichen Unterrichts verließ ich Ostern 1832 die Schule als Pantheist, und wenn nicht als Republikaner, doch mit der Überzeugung, dass die Republik die vernünftigste Staatsform sei, und mit Nachdenken über die Ursachen, welche Millionen von Menschen bestimmen könnten, Einem dauernd zu gehorchen, während ich von Erwachsenen manche bittre oder geringschätzige Kritik über die Herrscher hören konnte. Dazu hatte ich von der turnerischen Vorschule mit Jahn'schen Traditionen (Plamann), in der ich vom sechsten bis zum zwölften Jahre gelebt, deutsch-nationale Eindrücke mitgebracht. Diese blieben im Stadium theoretischer Betrachtungen und waren nicht stark genug, um angeborne preußisch-monarchische Gefühle auszutilgen. Meine geschichtlichen Sympathien blieben auf Seiten der Autorität. Harmodius und Aristogiton sowohl wie Brutus waren für mein kindliches Rechtsgefühl Verbrecher und Tell ein Rebell und Mörder. Jeder deutsche Fürst, der vor dem 30jährigen Kriege dem Kaiser widerstrebte, ärgerte mich; vom Großen Kurfürsten an aber war ich parteiisch genug, antikaiserlich zu urteilen und natürlich zu finden, dass der siebenjährige Krieg sich vorbereitete. Doch blieb mein deutsches Nationalgefühl so stark, dass ich im Anfang der Universitätszeit zunächst zur Burschenschaft in Beziehung geriet, welche die Pflege des nationalen Gefühls als ihren Zweck bezeichnete. Aber bei persönlicher Bekanntschaft mit ihren Mitgliedern missfielen mir ihre Weigerung, Satisfaktion zu geben, und ihr Mangel an äußerlicher Erziehung und an Formen der guten Gesellschaft, bei näherer Bekanntschaft auch die Extravaganz ihrer politischen Auffassungen, die auf einem Mangel an Bildung und an Kenntnis der vorhandnen, historisch gewordnen Lebensverhältnisse beruhte, von denen ich bei meinen siebzehn Jahren mehr zu beobachten Gelegenheit gehabt hatte als die meisten jener durchschnittlich ältern Studenten. Ich hatte den Eindruck einer Verbindung von Utopie und Mangel an Erziehung. Gleichwohl bewahrte ich innerlich meine nationalen Empfindungen und den Glauben, dass die Entwicklung der nächsten Zukunft uns zur deutschen Einheit führen werde; ich ging mit meinem amerikanischen Freunde Coffin die Wette darauf ein, dass dieses Ziel in zwanzig Jahren erreicht sein werde.

(Beginn der 1890/91 entstandenen Autobiographie)

ZUM TODESTAG DES POLITIKERS

Über den Autor (1815-1898)

Dienstag, 29. Juli 2014

Robert Schumann: Musikalische Haus- und Lebensregeln

    Die Bildung des Gehörs ist das Wichtigste. Bemühe dich frühzeitig, Tonart und Ton zu erkennen. Die Glocke, die Fensterscheibe, der Kuckuck – forsche nach, welche Töne sie angeben.
   Du sollst Tonleitern und andere Fingerübungen fleißig spielen. Es gibt aber viele Leute, die meinen, damit alles zu erreichen, die bis in ihr hohes Alter täglich viele Stunden mit mechanischem Üben hinbringen. Das ist ungefähr ebenso, als bemühe man sich täglich, das ABC möglichst schnell und immer schneller auszusprechen. Wende die Zeit besser an.
   Man hat sogenannte „stumme Klaviaturen“ erfunden; versuche sie eine Weile lang, um zu sehen, dass sie zu nichts taugen. Von Stummen kann man nicht sprechen lernen.
   Spiele im Takte! Das Spiel mancher Virtuosen ist wie der Gang eines Betrunkenen. Solche nimm dir nicht zum Muster.
   Lerne frühzeitig die Grundgesetze der Harmonie.
   Fürchte dich nicht vor den Worten Theorie, Generalbass, Kontrapunkt etc.; sie kommen dir freundlich entgegen, wenn du dasselbe tust.
   Klimpere nie! Spiele immer frisch zu und nie ein Stück halb!
   Schleppen und eilen sind gleich große Fehler.
   Wenn du spielst, kümmere dich nicht darum, wer dir zuhört. Spiele immer, als hörte dir ein Meister zu.
   Bemühe dich, leichte Stücke gut und schön zu spielen; es ist besser, als schwere mittelmäßig vorzutragen.
   Du hast immer auf ein rein gestimmtes Instrument zu halten.
   Nicht allein mit den Fingern musst du deine Stückchen können, du musst sie dir auch ohne Klavier vorträllern können. Schärfe deine Einbildungskraft so, dass du nicht allein die Melodie einer Komposition, sondern auch die dazugehörige Harmonie im Gedächtnis festzuhalten vermagst.
   Bemühe dich, und wenn du auch nur wenig Stimme hast, ohne Hilfe des Instrumentes vom Blatt zu singen; die Schärfe deines Gehörs wird dadurch immer zunehmen. Hast du aber eine klangvolle Stimme, so säume keinen Augenblick, sie auszubilden, betrachte sie als das schönste Geschenk, das dir der Himmel verliehen!
   Du musst es so weit bringen, dass du eine Musik auf dem Papier verstehst. / Legt dir jemand eine Komposition zum erstenmal vor, dass du sie spielen sollst, so überlies sie erst.
   Hast du dein musikalisches Tagewerk getan und fühlst dich ermüdet, so strenge dich nicht zu weiterer Arbeit an. Besser rasten, als ohne Lust und Frische arbeiten.
   Spiele, wenn du älter wirst, nichts Modisches. Die Zeit ist kostbar. Man müsste hundert Menschenleben haben, wenn man nur alles Gute, was da ist, kennen lernen wollte.  
   Jeder Zeit gerechte Würdigung! Auch die neuere hat Glänzendes errungen.
   Sollst du jemandem vorspielen, so ziere dich nicht; sondern tu's gleich oder gar nicht!
   Du musst aber nicht nur einen Meister lieb haben. Es hat deren viel gegeben.
   Glaube nicht, dass die alte Musik veraltet sei. Wie ein schönes wahres Wort nie veralten kann, ebenso wenig eine schöne wahre Musik!
   Es hat zu allen Zeiten schlechte Kompositionen gegeben und Narren, die sie gepriesen haben.
   Mit Süßigkeiten, Back- und Zuckerwerk zieht man keine Kinder zu gesunden Menschen. Wie die leibliche, so muss die geistige Kost einfach und kräftig sein. Die Meister haben hinlänglich für die letztere gesorgt; haltet euch an diese.
   Mache dich über den Umfang der menschlichen Stimme in ihren vier Hauptarten frühzeitig klar; belausche sie namentlich im Chor, forsche nach, in welchen Intervallen ihre höchste Kraft liegt, in welchen andern sie sich zum Weichen und Zarten verwenden lassen.
   Verlieh dir der Himmel eine rege Phantasie, so wirst du in einsamen Stunden wohl oft wie festgebannt am Flügel sitzen, in Harmonien dein Inneres aussprechen wollen, und um so geheimnisvoller wirst du dich wie in magische Kreise gezogen fühlen, je unklarer dir vielleicht das Harmonienreich noch ist. Der Jugend glücklichste Stunden sind diese. Hüte dich indessen, dich zu oft einem Talente hinzugeben, das Kraft und Zeit gleichsam an Schattenbilder zu verschwenden dich verleitet. Die Beherrschung der Form, die Kraft klarer Gestaltung gewinnst du nur durch das feste Zeichen der Schrift. Schreibe also mehr, als du phantasierst.
    Aller Passagenkram ändert sich mit der Zeit; nur, wo die Fertigkeit höheren Zwecken dient, hat sie Wert.
   Schlechte Kompositionen musst du nicht verbreiten, im Gegenteil sie mit aller Kraft unterdrücken helfen. / Du sollst schlechte Kompositionen weder spielen noch, wenn du nicht dazu gezwungen bist, sie anhören.
   Such’ es nie in der Fertigkeit der sogenannten Bravour. Suche mit einer Komposition den Eindruck hervorzubringen, den der Komponist im Sinne hatte; mehr soll man nicht; was darüber ist, ist Zerrbild.
   Betrachte es als etwas Abscheuliches, in Stücken guter Tonsetzer etwas zu ändern, wegzulassen, oder gar neumodische Verzierungen anzubringen. Dies ist die größte Schmach, die du der Kunst antust.
   Wegen der Wahl im Studium deiner Stücke befrage Ältere; du ersparst dir dadurch viel Zeit.
   Du musst nach und nach alle bedeutenderen Werke aller bedeutenden Meister kennenlernen.
   Lass dich durch den Beifall, den sogenannte große Virtuosen oft erringen, nicht irremachen. Der Beifall der Künstler sei dir mehr wert als der des großen Haufens.
   Alles Modische wird wieder unmodisch, und treibst du’s bis in das Alter, so wirst du ein Geck, den niemand achtet.
   Viel Spielen in Gesellschaften bringt mehr Schaden als Nutzen. Sieh dir die Leute an; aber spiele nie etwas, dessen du dich in deinem Innern zu schämen hättest.
   Versäume aber keine Gelegenheit, wo du mit anderen zusammen musizieren kannst, in Duos, Trios etc. Dies macht dein Spiel fließend, schwungvoll. Auch Sängern akkompagniere oft.
   Wenn alle erste Violine spielen wollten, würden wir kein Orchester zusammenbekommen. Achte daher jeden Musiker an seiner Stelle. / Liebe dein Instrument, halte es aber nicht in Eitelkeit für das höchste und einzige. Bedenke, dass es noch andere und ebenso schöne gibt. Bedenke auch, dass es Sänger gibt, dass im Chor und Orchester das Höchste der Musik zur Aussprache kommt.
   Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
   Spiele fleißig Fugen guter Meister, vor allen von Johann Sebastian Bach. „Das wohltemperierte Klavier“ sei dein täglich Brot. Dann wirst du gewiss ein tüchtiger Musiker.
   Suche unter deinen Kameraden die aus, die mehr als du wissen.
   Von deinen musikalischen Studien erhole dich fleißig durch Dichterlektüre. Ergehe dich oft im Freien!
   Von Sängern und Sängerinnen lässt sich manches lernen, doch glaube ihnen auch nicht alles.
   Hinter den Bergen wohnen auch Leute. Sei bescheiden, du hast noch nichts erfunden und gedacht, was nicht andere vor dir schon gedacht und erfunden. Und hättest du’s, so betrachte es als ein Geschenk von oben, das du mit anderen zu teilen hast.
   Das Studium der Geschichte der Musik, unterstützt vom lebendigen Hören der Meisterwerke der verschiedenen Epochen, wird dich am schnellsten von Eigendünkel und Eitelkeit kurieren.
   Ein schönes Buch über Musik ist das: „Über Reinheit der Tonkunst“ von Thibaut. Lies es oft, wenn du älter wirst.
   Gehst du an einer Kirche vorbei und hörst Orgel darin spielen, so gehe hinein und höre zu. Wird es dir gar so wohl, dich selbst auf die Orgelbank setzen zu dürfen, so versuche deine kleinen Finger und staune vor dieser Allgewalt der Musik. / Versäume keine Gelegenheit, dich auf der Orgel zu üben; es gibt kein Instrument, das am Unreinen und Unsauberen im Tonsatz wie im Spiel alsogleich Rache nähme, als die Orgel.
   Singe fleißig im Chor mit, namentlich Mittelstimmen. Dies macht dich musikalisch.
   Was heißt denn aber musikalisch sein? Du bist es nicht, wenn du, die Augen ängstlich auf die Noten gerichtet, dein Stück mühsam zu Ende spielst; du bist es nicht, wenn du (es wendet dir jemand etwa zwei Seiten auf einmal um) steckenbleibst und nicht fortkannst. Du bist es aber, wenn du bei einem neuen Stück das, was kommt, ungefähr ahnst, bei einem dir bekannten auswendig weißt; mit einem Worte, wenn du Musik nicht allein in den Fingern, sondern auch im Kopf und Herzen hast.
   Wie wird man aber musikalisch? Liebes Kind, die Hauptsache, ein scharfes Ohr, schnelle Auffassungskraft, kommt wie in allen Dingen von oben. Aber es lässt sich die Anlage bilden und erhöhen. Du wirst es nicht dadurch dass du dich einsiedlerisch tagelang absperrst und mechanische Studien treibst, sondern dadurch, dass du dich in lebendigem, vielseitig-musikalischem Verkehr erhältst, namentlich dadurch, dass du viel mit Chor und Orchester verkehrst.
   Höre fleißig auf alle Volkslieder; sie sind eine Fundgrube der schönsten Melodien und öffnen dir den Blick in den Charakter der verschiedenen Nationen.
   Übe dich frühzeitig im Lesen der alten Schlüssel. Viele Schätze der Vergangenheit bleiben dir sonst verschlossen.
   Achte schon frühzeitig auf Ton und Charakter der verschiedenen Instrumente; suche ihre eigentümliche Klangfarbe deinem Ohr einzuprägen.
   Gute Opern zu hören, versäume nie.
   Ehre das Alte hoch, bringe aber auch dem Neuen ein warmes Herz entgegen. Gegen dir unbekannte Namen hege kein Vorurteil.
   Urteile nicht nach dem Erstenmalhören über eine Komposition; was dir im ersten Augenblick gefällt, ist nicht immer das Beste. Meister wollen studiert sein. Vieles wird dir erst im höchsten Alter klar werden.
   Bei Beurteilung von Kompositionen unterscheide, ob sie dem Kunstfach angehören oder nur dilettantische Unterhaltung bezwecken. Für die der ersten Art stehe ein; wegen der anderen erzürne dich nicht!
   „Melodie“ ist das Feldgeschrei der Dilettanten, und gewiss ist eine Musik ohne Melodie gar keine. Verstehe aber wohl, was jene darunter meinen; eine leichtfassliche, rhythmisch-gefällige gilt ihnen allein dafür. Es gibt aber auch andere anderen Schlages, und wo du Bach, Mozart, Beethoven aufschlägst, blicken sie dich in tausend verschiedenen Weisen an: des dürftigen Einerleis namentlich neuerer italienischer Opernmelodien wirst du hoffentlich bald überdrüssig.
   Suchst du dir am Klavier kleine Melodien zusammen, so ist das wohl hübsch; kommen sie dir aber einmal von selbst, nicht am Klavier, dann freue dich noch mehr, dann regt sich in dir der innere Tonsinn. – Die Finger müssen machen, was der Kopf will, nicht umgekehrt.
   Fängst du an zu komponieren, so mache alles im Kopf. Erst wenn du ein Stück ganz fertig hast, probiere es am Instrumente. Kam dir deine Musik aus dem Innern, empfandest du sie, so wird sie auch so auf andere wirken.
   Verschaffe dir frühzeitig Kenntnis vom Dirigieren, sieh dir gute Dirigenten oft an; selbst im Stillen mitzudirigieren sei dir unverwehrt. Dies bringt Klarheit in dich.
   Sieh dich tüchtig im Leben um wie auch in anderen Künsten und Wissenschaften.
   Die Gesetze der Moral sind auch die der Kunst.
   Durch Fleiß und Ausdauer wirst du es immer höher bringen.
   Aus einem Pfund Eisen, das wenig Groschen kostet, lassen sich viele tausend Uhrfedern machen, deren Wert in die Hunderttausend geht. Das Pfund, das du von Gott erhalten, nütze es treulich.
   Ohne Enthusiasmus wird nichts Rechtes in der Kunst zu Wege gebracht.
   Die Kunst ist nicht da, um Reichtümer zu erwerben. Werde nur ein immer größerer Künstler; alles andere fällt dir von selbst zu.
   Nur erst, wenn dir die Form ganz klar ist, wird dir der Geist klar werden.
   Vielleicht versteht nur der Genius den Genius ganz.
   Es meinte jemand, ein vollkommener Musiker müsse imstande sein, ein zum erstenmal gehörtes, auch komplizierteres Orchesterwerk wie in leibhaftiger Partitur vor sich zu sehen. Das ist das Höchste, was gedacht werden kann.
   Es ist des Lernens kein Ende.

(Textanhang zum 1848 entstandenen Album für die Jugend, op. 48)

ZUM TODESTAG DES KOMPONISTEN

Über den Autor (1810-1856)

Montag, 28. Juli 2014

Ludwig Feuerbach: Philosophische Kritiken und Grundsätze

Weg mit der Klage über die Kürze des Lebens! Sie ist eine Finte der Gottheit, durch die sie sich den Weg zu unserm Geist und Herzen bahnt, um uns die besten Säfte zum Nutzen anderer Wesen abzuzapfen. Die besten? Nein, die Säfte, die schon nahe an der Fäulnis sind und uns Gift zu werden drohen, wenn ihnen nicht schleunigst ein Abfluss eröffnet wird. Je kürzer unser Leben ist, je weniger wir Zeit haben, gerade desto mehr haben wir Zeit; denn der Mangel an Zeit verdoppelt unsre Kräfte, konzentriert uns nur auf das Notwendige und Wesentliche, flößt uns Geistesgegenwart, Unternehmungsgeist, Takt, Entschlossenheit ein. Es gibt darum keine schlechtere Entschuldigung als die mit dem Mangel an Zeit. Was man insgemein Mangel an Zeit nennt, ist Mangel an Lust, an Kraft, an Gewandtheit, seinen gewohnten Schlendrian zu unterbrechen.

(Aus dem "Tagebuch von 1834-1836")

ZUM GEBURTSTAG DES RELIGIONSKRITIKERS

Über den Autor (1804-1874)

Sonntag, 27. Juli 2014

Charlotte von Ahlefeld: Der Sommerregen

Wie milde säuselst Du, o kühler Regen,
Auf die verschmachtende, verbleichte Flur.
Dein längst so heiß, so bang erflehter Segen,
Erfrischt die ganze seufzende Natur,
Und neu gestärkt erheben Gras und Bäume
Die matten Häupter in der Lüfte Räume.

Der Sonne Glut schien alles zu verzehren;
Es welkte still dahin der Blumen Glanz.
Die Pflanzen neigten sich – ein allgemein Verheeren
Bedrohte selbst der Wälder dunklen Kranz,
Und brennend schien in ihrer dumpfen Schwüle
Die schwere Luft dem lechzenden Gefühle.

Da strömtest Du, aus höhern Regionen
Zur Labung freundlich uns herabgesandt,
Die kühlen Perlen, die in Millionen
Voll heißen Durstes trank das dürre Land.
Wie gute Geister wehen durch die Fluren
Der neuen Lust und der Erquickung Spuren.

So mildert gern den heißen Brand der Schmerzen,
Der uns im Lauf des Lebens oft versengt,
Der Tränen Tau, der sanft aus unsern Herzen
Das bittre Gift verschlossnen Grames drängt,
Und Lindrung bringen uns der Wehmut Gaben,
Indem sie still den bangen Busen laben.

O netzt auch mir das Auge, das so dunkel
Nur öde Wüsten steinigt vor sich sieht,
Und dem der Hoffnung goldnes Sterngefunkel
In unerreichbar weite Ferne flieht.
Ach, wie der matten Flur ein frischer Regen,
Sind Tränen meinem kranken Herzen Segen.

(Aus der 1808 erschienenen Sammlung "Gedichte von Natalie")

ZUM TODESTAG DER SCHRIFTSTELLERIN

Über die Autorin (1781-1849)

Samstag, 26. Juli 2014

Gottlob Frege: Logische Untersuchungen

Das Zählen gehört ohne Zweifel zu den schwierigsten wissenschaftlichen Arbeiten. Es muss wohl besonders kräftige Seelen geben, welche die Dinge von allen ihren Unterschieden reinigen können, und denen es, wenn sie sich nur rechte Mühe geben, trotzdem gelingt, die nicht mehr verschiedenen Dinge so zu unterscheiden, dass sie ihnen mit Sicherheit einzeln alle Dinge, die auch nicht mehr verschieden sind, zuordnen können. Unterschieden sich die Dinge auch noch so wenig, so wäre eine Änderung in der Zuordnung von Einfluss auf das Ergebnis, und das darf nicht sein. Andererseits muss die Zuordnung noch möglich sein, sonst entsteht keine Zahl. Die von den besonders kräftigen Seelen erzeugten Zahlen müssen dann in die gewöhnlichen Menschenseelen übergeführt werden. Und jene werden gut tun, für einen recht großen Vorrat an Zahlen zu sorgen, dass wenigstens von den nützlichsten Arten jeder Mensch ein Exemplar erhalten kann. Aber bei aller Hochachtung vor ihnen glaube ich doch nicht, dass sie unendlich viele Zahlen zusammenbekommen können.

(Aus der 1899 erschienenen Kritik an einem Enzyklopädieartikel des Mathematikers Hermann Schubert über Zählen und Zahl)

ZUM TODESTAG DES LOGIKERS

Über den Autor (1848-1925)

Freitag, 25. Juli 2014

Charlotte von Kalb: Verehrter Herr Geheimrat

Ich wünsche, dass diese Zeilen Euch in Wohlbefinden und ersprießlichen Gesinnungen finden mögen. So war ehemals der Anfang bei traulichen Briefen; auch ist es ohne solche Hoffnung nicht möglich, den Fernen ein gemütliches Wort zu sagen. In Gedanken war ich oft bei Ihnen, aber diese zaubern mir Ihre Antwort nicht zurück. Doch will ich die Hemmung lösen und Ihnen endlich einmal mit flüchtigen Worten begegnen. Leicht ist es auch, von meiner Existenz Kunde zu geben, denn zwar in Abgeschiedenheit, kann ich dennoch sagen: den Mangel äußerer Erregungen, die andre Ehre und Freude nennen, vermisse ich nicht, denn nur in schweigsamer Stille lösen sich die Bande der Verworrenheit und Mischmasch. O möchte mir die friedsame Ruhe bleiben und die befreitere Seele nicht nach dem Hades zurückblicken. Die Sehnsucht aller ist ja das Verlangen nach Erlösung, und dies ist ja die Aufgabe der geistigen Macht. Was Sie dafür gewirkt, höre ich jetzt mit beseligterem Erwägen. Ich bescheide mich wohl, dass kunstreiche Fertigkeit, diese dädalischen Wunder mir Erstaunen erregen, aber dass ich die sinnigen Fügungen nicht zu unterscheiden vermag.

Durch die gänzliche Schwäche meiner Augen entbehre ich die Unterhaltung, die mir das Selbstlesen verschaffen könnte, doch kann ich die Genüsse der Literatur und Selbsttätigkeit des Geistes mir nicht versagen wollen. Diese allein bestimmt die Gegenwart und schenkt sie uns gleichsam. Aus dem eignen Ich schöpfend kann ich leider nicht geben, aber ich habe Schriften gefunden, deren Bewahrung in unserer Sprache eine besondre Erwägung und Sichtung verdient. Ich nenne hier nur St. Martin, der in seinen oeuvres postumes uns angibt, was in seinen Schriften innere Gesinnung und was überflüssige Zugabe ist. So habe ich von einigen die Verdeutschung begonnen, nicht in der Meinung, dass es mir besonders gelingen könnte, sondern in dem Bewusstsein, dass es zur Heilung und Beseligung dient und ich so den nagenden Schmerz, der auf so traurigen Erinnerungen haftet, lindre. So will ich fortfahren, mich in diese geistige Wesenheit zu denken, und in Geduld harren der Anschauungen, die sie mir gewähren könnten. So isoliert ich mich auch damit beschäftige, so bedurfte es doch mancher Bitte und Nachfrage, allein es ist sonderbar, wie weit seit der ersten Nennung St. Martins bis jetzt [.?.] dies Geschäft begleiten, von denen einige noch nicht verklungen sind, und so begegnen uns Misslaune oder dämonische Subtilität – nein, nicht diese, sondern Starrheit, diese Sucht erregt mir mehr Scheu als eine andre Epidemie.

Durch einen Traum verleitet, habe ich schon vor mehreren Wochen diese Zeilen niedergelegt, ich sah Sie, was ich wachend nicht mehr vermöchte, in der grünen Hof-Uniform. Aber das entschwundene Bild hat mir dennoch das Zeichen gelassen, die Frage: wenn du leichter Mitteilung noch fähig, warum wolltest du nicht schriftlich meiner gedenken. Auch sagte ich mir, dass die Zahl der älteren Bekannten sich so vermindert habe und Sie die Äußerungen eines noch lebenden Gemüts traulich aufnehmen werden. So lausch ich noch des Traumes, wie wir gern dem Geflüster der Lüfte lauschen durch weiches Laub.


ZUM GEBURTSTAG DER SCHRIFTSTELLERIN

Donnerstag, 24. Juli 2014

Frank Wedekind: Prolog in der Buchhandlung

Der normale Leser (schwankt herein) :
Ich möchte gern ein Buch bei ihnen kaufen.
Was drin steht, ist mir gänzlich einerlei.
Der Mensch lebt, heißt es, nicht allein vom Saufen.
Auch wünsch' ich dringend, dass es billig sei.
Die älteste Tochter will ich zum Gedenken
Der ersten Kommunion damit beschenken.

Der rührige Verleger:
Da kann ich Ihnen warm ein Buch empfehlen,
Bei dem das Herz des Menschen höher schlägt.
Heut lesen es schon fünf Miliionen Seelen,
Und morgen wird's von neuem aufgelegt.
Für jeden bleibt's ein dauernder Gewinn,
Steht doch für niemand etwas Neues drin.

(Beginn des 1902 erschienen Dramas "Die Büchse der Pandora")

ZUM 150. GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1864-1968)

Mittwoch, 23. Juli 2014

Kuno Fischer: Logik und Metaphysik oder Wissenschaftslehre

In folgenden Sätzen begründe ich meinen Standpunkt und begreife darin zugleich die Prinzipien der Philosophie seit Kant: / Es gibt keine Erkenntnis ohne Kategorien oder Begriffe, welche sie bilden (Kant). Es gibt keine Kategorien ohne ein Selbstbewusstsein, welches sie produziert. Es gibt kein (produktives) Selbstbewusstsein, wenn es nicht absolut ist (Fichte). Das Selbstbewusstsein ist nicht absolut, wenn nicht Geist und Natur identisch sind (Schelling). Diese Identität (die Vernunft) kann nicht gewusst werden, wenn nicht die selbstbewusste Vernunft, d.h. der Geist, das einmütige Weltprinzip bildet (Hegel).

(Aus der Vorrede zu dem 1852 erschienenen Lehrbuch)

ZUM GEBURTSTAG DES NEUKANTIANERS

Über den Autor (1824-1907)

Dienstag, 22. Juli 2014

Detlev von Liliencron: Mein täglicher Spaziergang

Nur ein paar Birken, Einsamkeit und Leere,
Ein Sumpf, geheimnisvoll, ein Fleckchen Heide,
Der Kiebitz gibt mir im April die Ehre,
Im Winter Raben, Rauch und Reifgeschmeide,
Und niemals Menschen, keine Grande Misère,
Nichts, nichts von unserm ewigen Seelenleide.
Ich bin allein. Was einzig ich begehre?
Grast ihr für euch, und mir laßt meine Weide.

(Aus der 1903 erschienenen Gedichtsammlung "Bunte Beute")

ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1844-1909)

Montag, 21. Juli 2014

Lovis Corinth: Gesammelte Schriften

Diese Extra-Aufgabe ist mir auch noch zu Theil geworden. Meine Artikel sollten gesammelt werden – als »Werk« heraus kommen und jetzt soll ich dem »geneigten Leser« noch erklären – erklären aber was? Daß ich geboren bin etwa? Es sei! Ich bin also geboren, wie alle, die da schreiben; und nicht wenig stolz sind auf ihre Feder. Außerdem bin ich nicht einmal berufen und auch nicht auserwählt [...]. Daraufhin ist mir natürlich dieses Menetekel schon genügend unter die Nase gerieben worden: »Bilde Künstler, rede nicht!« Schreib auch nicht! Genau wie in der Schule meine Aufsätze ein Gaudium für die Schulgenossen wurden, sobald der strenge Lehrer diese mit der schlechtesten Censur belegte, zum abschreckenden Beispiel der Klasse laut vorlas und dann später meine Löffel eine verfängliche Röthe zeigten. »Junge«, sagte er mir meist »das ist wie das Deutsch vom Karlchen Mießnick aus dem Kladderadatsch.« So wurde ich schon von Jugend an gegen scharfe Kritik gefeit. Und wer sich ohne Schuld fühlt, werfe auf mich den ersten Stein! Aber schreiben werde ich dennoch und malen immer und die Kritik mag auch thun, was ihres Amtes ist. Aber wenn schon was an mir getadelt werden soll, möge man mir lieber mein Schreiben vorwerfen als mein Malen. Und wenn alle Kritiker gegen mein ganzes Thun sich erhöben, so werde ich auch dieses ertragen können; dank dem Lehrer, welcher mir schon immer das prophezeit hat. Mache es kurz – geneigter Leser – ist es dir langweilig so schließe das Buch und ergreife interessantere Bücher. Wir werden uns doch verstehen. Lebe wohl und sei nicht böse!

(Handschriftliche Einleitung zur Buchausgabe von 1920)

ZUM GEBURTSTAG DES MALERS

Über den Autor (1858-1925)

Sonntag, 20. Juli 2014

Max Liebermann: Die Phantasie in der Malerei

Ein Bund Spargel, ein Rosenbukett genügt für ein Meisterwerk; ein hässliches oder ein hübsches Mädchen, ein Apoll oder ein missgestalteter Zwerg: aus allem läßt sich ein Meisterwerk machen, allerdings mit dem nötigen Quantum Phantasie; sie allein macht aus dem Handwerk ein Kunstwerk. / Die Phantasie, als das schöpferische Grundprinzip des gesamten geistigen Lebens, ist für alle Künste dieselbe, aber in den verschiedenen Künsten kommt sie auf verschiedene Weise zum Ausdruck. Obgleich nur die bildende Kunst, als einzig räumliche unter den Künsten, imstande ist, die Ausdehnung aus der Wirklichkeit mit zu übernehmen, ist sie doch deshalb nicht materieller als Poesie oder Musik. Allerdings sind die Werke der bildenden Kunst gleichsam fass- und tastbar und – wie Gregor der Große im Kampfe gegen die Bilderstürmer meinte: »Bilder sind die Bücher derer, die nicht lesen können« – daher werden sie für leichter verständlich gehalten. Im Grunde jedoch ist die Kunst an einem Bilde genau ebenso nur dem inneren Auge wahrnehmbar, wie die an einem Musikstücke nur dem inneren Ohr. Denn was anders als die Phantasie des Künstlers unterscheidet ein Werk des Phidias von einem Abguss über Natur? Daher ist es für den Wert eines Werkes der bildenden Kunst ganz gleichgültig, was es darstellt, nur die Erfindung und die Ausdrucksfähigkeit ihrer Form macht seinen Wert aus. / Der Satz, dass die gutgemalte Rübe besser sei als die schlechtgemalte Madonna, gehört bereits zum eisernen Bestand der modernen Ästhetik. Aber der Satz ist falsch; er müsste lauten: die gutgemalte Rübe ist ebenso gut wie die gutgemalte Madonna. Wohlgemerkt als rein malerisches Produkt, denn, zur Beruhigung frommer Gemüter sei's gesagt, es fällt mir beileibe nicht ein, zwei ästhetisch so ungleichwertige Gegenstände miteinander vergleichen zu wollen. Auch weiß ich wohl, dass die Darstellung einer Madonna noch andere als rein malerische Ansprüche an den Künstler stellt, und dass sie als künstlerische Aufgabe schwerer zu bewältigen ist als ein Stillleben. Obgleich in einem Vierzeiler das Genie Goethes ebenso sichtbar ist als im Faust, kann als künstlerische Leistung »Über allen Gipfeln ist Ruh« doch nicht mit dem Faust verglichen werden. / Aber die spezifisch malerische Phantasie des Künstlers kann sich in einem Stillleben gerade deshalb stärker zeigen als in der Darstellung des Menschen, weil das Bund Spargel nur durch die künstlerische Auffassung interessiert, an dem Menschen, am Kopf oder an einem schönen Frauenkörper interessiert uns – namentlich an letzterem – auch noch der dargestellte Gegenstand. / Der spezifisch malerische Gehalt eines Bildes ist um so größer, je geringer das Interesse an seinem Gegenstande selbst ist; je restloser der Inhalt eines Bildes in malerische Form aufgegangen ist, desto größer der Maler.

(Aus der 1903 erschienenen Schrift)

ZUM GEBURTSTAG DES KÜNSTLERS

Über den Autor (1847-1935)

Samstag, 19. Juli 2014

Gottfried Keller: Ich hab in kalten Wintertagen ...

Ich hab in kalten Wintertagen,
In dunkler, hoffnungsarmer Zeit
Ganz aus dem Sinne dich geschlagen,
O Trugbild der Unsterblichkeit.

Nun, da der Sommer glüht und glänzet,
Nun seh ich, dass ich wohlgetan!
Aufs neu hab ich das Haupt bekränzet,
Im Grabe aber ruht der Wahn.

Ich fahre auf dem klaren Strome,
Er rinnt mir kühlend durch die Hand,
Ich schau hinauf zum blauen Dome
Und such – kein bessres Vaterland.

Nun erst versteh ich, die da blühet,
O Lilie, deinen stillen Gruß:
Ich weiß, wie sehr das Herz auch glühet,
Dass ich wie du vergehen muss!

Seid mir gegrüßt, ihr holden Rosen,
In eures Daseins flücht'gem Glück!
Ich wende mich vom Schrankenlosen
Zu eurer Anmut froh zurück!

Zu glühn, zu blühn und ganz zu leben,
Das lehret euer Duft und Schein,
Und willig dann sich hinzugeben
Dem ewigen Nimmerwiedersein!

(Gedicht aus dem Jahre 1849)

ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1819-1890)

Freitag, 18. Juli 2014

Karl Simrock: Zwiegespräch

Schwalbe dort am Fensterrand,
Wo du nisten willst und brüten:
Flogst du her aus fernem Land,
Dies mein Häuschen zu behüten?

"Hab viel andres wohl zu tun
Als ein fremdes Haus bewachen;
An dem meinen bau ich nun:
Fördre jetzt die eignen Sachen."

Baue denn in guter Ruh
Unter meinem Dach von Schiefer:
Ein willkommner Gast bist du,
Erbfeind allem Ungeziefer.

"Fliegen, Mücken fang ich mir,
Weil sie meinen Hunger stillen;
Aber sprich, was fängst du dir?
Allerhöchstens fängst du Grillen."

Du bist glücklich: schön und gut,
Hast ein Weibchen dir erkoren,
Mutter deiner Schwalbenbrut,
Dir zu Leid und Lust verschworen.

"Sie, an der mein Heil geschah!
Liebste mir in allen Reichen!
Doch was stehst du müßig da?
Geh doch hin und tu desgleichen!"

Eine weiß ich, ohne Die
Müsst ich an der Welt verzagen:
Manches holde Wort an sie
Hab ich dir schon aufgetragen.

"Selten hör ich, was du sagst,
Singe nie nach fremden Noten;
Wo du selber reden magst,
Braucht es keiner Liebesboten."

(Aus der 1844 erschienenen Gedichte-Sammlung)

ZUM TODESTAG DES GERMANISTEN

Über den Autor (1802-1876)

Donnerstag, 17. Juli 2014

Alexander Gottlieb Baumgarten: Philosophische Briefe

Es war einmal ein Mann unter unsern Vorfahren, der suchte seine liebe Mutter, die Wahrheit, mit allem Ernst. Er gab sein ganzes väterliches Erbe weg, das sehr beträchtlich war, um nach ihr zu reisen. Er durchzog meist die ganze Welt und suchte, doch ohne zu finden. Beinahe war sogar die Hoffnung, sie zu finden, verloren, als ihm nicht weit vom verlornen Paradiese ein Berg gezeigt wurde, darauf ein Brunnen lebendigen Wassers sei, von dem die Rede ging, es sei die Wahrheit da hineingestürzt und habe sich seitdem nirgend anders sehen lassen. Indem er auf den Ort zueilet, um wenigstens bei dem Grabe seiner Mutter, wider seinen Gebrauch, zu weinen, so findet er die Wege steil, mit den gefährlichsten Abgründen umgeben, unordentlich verwachsen, vom Schlamm schlüpfrig, und doch scheinen die herumliegenden Gegenden dürr und erstorben. Allein je näher er kommt, je fruchtbarer zeigt sich der Boden. Je fruchtbarer er wurde, je angenehmer ward die natürliche Verwirrung der häufig blühenden und Frucht tragenden Kräuter, Blumen, Sträucher, Stauden und Bäume, die so fest durcheinander standen, dass es das Ansehen hatte, es sei noch nie ein Mensch durch sie hindurchgedrungen. Kaum hatte ihn Durst und Neubegierde getrieben, diesen Versuch zu tun, so sah er menschliche Fußstapfen von übernatürlicher Größe, die schon sehr alt sein mussten, weil sie zwar tief, aber doch ziemlich unkenntlich waren. Endlich entdeckte sich die Spitze des Berges, die von unten sehr klein geschienen und nun einen ungemeinen Umfang hatte. Es zeigten sich, nebst den schon etwas ausgetretenen noch viele frischere, wiewohl weit kleinere Fußstapfen von Menschen und zugleich ein ganzer Vorrat von abgenützten Flöten, Hirtenstäben und anderm Schäfergeräte, das die vor ihm hergereisten Gäste sonder Zweifel zurückgelassen hatten. Indem er zur Quelle kam, sah er an ihrem Ufer, wo es etwas sandig war, Dreiecke, Vierecke und dergleichen Sachen gezeichnet, die ihm mehr als deutlich wiesen, er sei nicht der erste unter den Sterblichen, der diesen Brunnen entdeckt. Er hatte nicht Zeit, sich darum gar zu lange zu bekümmern. Er war durstig – und trank. Sogleich durchdringet ihn eine neue Lebenskraft bis aufs Innerste. Seine Augen werden heiter und sehen die Wahrheit in der erhellten Tiefe mit solchem Glanz, dass man erzählet, er habe sich bald darauf die Augen geblendet, um nachher nichts anders zu sehen. Ich halte das letzte für eine Fabel.

(Aus dem zehnten Schreiben des 1741 erschienenen Sammelbands)

ZUM 300. GEBURTSTAG DES AUFKLÄRERS

Über den Autor (1714-1762)

Mittwoch, 16. Juli 2014

Andreas Gryphius: Leo Armenius, oder: Fürsten-Mord

Was ist ein Prinz doch mehr als ein gekrönter Knecht,
Den jeden Augenblick, was hoch, was tief, was schlecht,
Was mächtig, trotzt und höhnt; den stets von beiden Seiten
Neid, Untreu, Argwohn, Hass, Schmerz, Angst und Furcht bestreiten?
Wem traut er seinen Leib, weil er die lange Nacht
In lauter Sorgen teilt und für die Länder wacht,
Die mehr auf seinen Schmuck als rauen Kummer sehen,
Und – weil ihm nicht mehr frei – was Ruhm verdienet, schmähen?
Wen nimmt er auf den Hof? Den, der sein Leben wagt
Bald für, bald wider ihn und ihn vom Hofe jagt,
Wenn sich das Spiel verkehrt. Man muss den Todfeind ehren,
Mit blinden Augen sehn, mit tauben Ohren hören.
Man muss, wie sehr das Herz von Zorn und Eifer brennt,
In Worten sittsam sein und den, der Regiment
Und Kron' mit Füßen tritt, zu Ehren-Ämtern heben.
Wie oft ist diese Schuld dem Lästerer vergeben!

(Aus dem Ersten Akt des 1650 erschienenen Trauerspiels)

ZUM TODESTAG DES BAROCKDICHTERS

Dienstag, 15. Juli 2014

Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte




Mein Flügel ist zum Schwung bereit
ich kehrte gern zurück
denn blieb' ich auch lebendige Zeit
ich hätte wenig Glück.

GERHARD SCHOLEM
(Gruß vom Angelus)




Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

(Die "These IX" in dem 1940 verfassten Aufsatz)

ZUM GEBURTSTAG DES ESSAYISTEN

Über den Autor (1892-1940)

Foto: "Engel der Geschichte im Holz" von Peter Galle (2014)

Montag, 14. Juli 2014

Gustav Klimt: Mündliches

Gell, da schaun's und staunen's halt? – Ja, das sind Farben! – Daneben gehalten, sind alle "Sensationen" der Secession, der Kunstschau, der Neukunst und wie die modernen und ultramodernen Künstlerbünde sonst noch heißen mögen, unerträglich anzuschauende dumpfe und stumpfe Schmieragen. Kein in kostbaren Edelsteinen erstarrtes Licht sprüht farbigeres Leuchten als die Blumenblüten. Alles nur erdenkliche Farbenflammen, Farbenleuchten, Farbenglühen, Farbenschimmern bieten die Blumenblüten dar. [...] All diese und noch viel mehr, ja unaufzählbar viele Farben und Farbenklänge strahlen Milliarden Blüten zugleich mit linden oder scharfen, süßen oder herben Düften aus.

(Bemerkung gegenüber einem Besucher im Werkstattgarten, um 1900)

ZUM GEBURTSTAG DES MALERS

Über den Zitierten (1862-1918)

Sonntag, 13. Juli 2014

Kurt Huber: Rede vor dem Volksgerichtshof

Als deutscher Staatsbürger, als deutscher Hochschullehrer und als politischer Mensch erachte ich es als Recht nicht nur, sondern als sittliche Pflicht, an der Gestaltung der deutschen Geschichte mitzuarbeiten, offenkundige Schwächen aufzudecken und zu bekämpfen [...]. Was ich bezweckte, war die Weckung der studentischen Kreise nicht durch eine Organisation, sondern durch das schlichte Wort, nicht zu irgendeinem Akt der Gewalt, sondern zur sittlichen Einsicht in bestehende schwere Schäden des politischen Lebens. Rückkehr zu klaren sittlichen Grundsätzen, zum Rechtsstaat, zu gegenseitigem Vertrauen von Mensch zu Mensch, das ist nicht illegal, sondern umgekehrt die Wiederherstellung der Legalität. Ich habe mich im Sinne von Kants kategorischem Imperativ gefragt, was geschähe, wenn diese subjektive Maxime meines Handelns ein allgemeines Gesetz würde. [...] Ein Staat, der jegliche freie Meinungsäußerung und jede sittlich berechtigte Kritik, jeden Verbesserungsvorschlag als "Vorbereitung zum Hochverrat" unter die furchtbarsten Strafen stellt, bricht ein ungeschriebenes deutsches, germanisches Recht, das im "gesunden Volksempfinden" noch immer lebendig war und lebendig bleiben muss. [...] Ich habe das eine Ziel erreicht, diese Warnung und Mahnung nicht in einem privaten, kleinen Diskutierclub, sondern an verantwortlicher, an höchster richterlicher Stelle vorzubringen. Ich setze für diese Mahnung, für diese beschwörende Bitte zur Rückkehr, mein Leben ein. Ich fordere die Freiheit für unser deutsches Volk zurück. [...] Sie haben mir den Rang und die Rechte des Professors und den „summa cum laude“ erarbeiteten Doktorhut genommen und mich dem niedrigsten Verbrecher gleichgestellt. Die innere Würde des Hochschullehrers, des offenen, mutigen Bekenners seiner Welt- und Staatsanschauung, kann mir kein Hochverratsverfahren rauben. Mein Handeln und Wollen wird der eherne Gang der Geschichte rechtfertigen, darauf vertraue ich felsenfest. Ich hoffe zu Gott, dass die geistigen Kräfte, die es rechtfertigen, rechtzeitig aus meinem eigenen Volke sich entbinden mögen. Ich habe gehandelt, wie ich aus meiner inneren Stimme heraus handeln musste. Ich nehme die Folgen auf mich nach dem schönen Wort Johann Gottlieb Fichtes: "Und handeln sollst du so, / Als hinge von dir und deinem Tun allein / Das Schicksal ab der deutschen Dinge, / Und die Verantwortung wär dein!"

(Auszüge der Rede im zweiten "Weiße Rose"-Prozess am 19. April 1943)

ZUM TODESTAG DES MUSIKWISSENSCHAFTLERS

Über den Autor (1893-1943)

Samstag, 12. Juli 2014

Stefan George: Über Dichtung

Das wesen der dichtung wie des traumes: dass Ich und Du · Hier und Dort · Einst und Jezt nebeneinander bestehen und eins und dasselbe werden.

Tiefster eindruck · stärkstes empfinden sind noch keine bürgschaft für ein gutes gedicht. Beide müssen sich erst umsetzen in die klangliche stimmung die eine gewisse ruhe · ja freudigkeit erfordert. Das erklärt warum jedes gedicht unecht ist das schwärze bringt ohne jeden lichtstrahl. Etwas ähnliches meinte man wol früher mit dem ›idealischen‹.

Schönheit ist nicht am anfang und nicht am ende · sie ist höhepunkt ... Die kunst ergreift am meisten in der man das atemholen neuer noch schlafender geister spürt.

Die dichtung hat eine besondere stellung unter den künsten. Sie allein kennt das geheimnis der erweckung und das geheimnis des übergangs.

(Aus dem 1903 erschienenen Band "Tage und Taten")

ZUM GEBURTSTAG DES DICHTERS

Über den Autor (1868-1933)

Freitag, 11. Juli 2014

Leonard Nelson: System der philosophischen Ethik und Pädagogik

Wer gegen die Ausbeutung mit Erfolg kämpfen will, der darf nicht seine eigenen Ausbeuter unterstützen. [...] Ein Arbeiter [...] kann das auch [ein Ausbeuter sein! LA], indem er seine Frau und seine Kinder prügelt. Ja, er kann das in einer noch viel schlimmeren Weise. Er kann das, indem er dasselbe, was der Kapitalist mit ihm macht, mit denen tun, die sich gegen ihn noch viel weniger wehren können als er gegen die Kapitalisten – die die Allerwehrlosesten sind, die sich nie durch eine Koalition zusammentun können, um allmählich ihre Rechte in einem Klassenkampf zu erobern. Ein Arbeiter, der nicht nur ein ‚verhinderter Kapitalist' sein will, und dem es also Ernst ist mit dem Kampf gegen jede Ausbeutung, der beugt sich nicht der verächtlichen Gewohnheit, harmlose Tiere auszubeuten, der beteiligt sich nicht an dem täglichen millionenfachen Mord, der an Grausamkeit, Rohheit und Feigheit alle Schrecknisse des Weltkriegs in den Schatten stellt, – das sind Angelegenheiten, Genossen, die entziehen sich der Abstimmung. [...] Entweder man will gegen die Ausbeutung kämpfen, oder man lässt es bleiben. Aber wer als Sozialist über diese Forderungen lacht, der weiß nicht, was er tut. Der beweist, dass er nie im Ernst bedacht hat, was das Wort ‚Sozialismus' bedeutet.

(Aus der 1932 aus dem Nachlass herausgegebenen Vorlesung)

ZUM GEBURTSTAG DES ETHISCHEN SOZIALISTEN

Über den Autor (1882-1927)

Donnerstag, 10. Juli 2014

Elisabeth Förster-Nietzsche: Nietzsches Bibliothek

Leider hatte mein Bruder nicht die Gewohnheit, seinen Namen in die Bücher [seiner nur teilweise erhaltenen Bibliothek! LA] einzutragen. Da mögen nun manche in den Händen Solcher sein, die vielleicht glücklich wären, wenn sie wüssten, wer diese Striche, Fragen und Ausrufezeichen und Bemerkungen wie: Sehr gut! Gut beobachtet! Unsinn! Dumm!, mit denen mein Bruder seine Bücher an den Rändern auszustatten pflegte, gemacht hat. Auch umfangreichere Bemerkungen schrieb er häufig an den Rand. Ein sehr häufiges Zeichen seines Missbehagens ist es, wenn plötzlich Striche und Bemerkungen aufhören, man sieht: hier hat der Leser das Buch beiseite geworfen.

(Aus dem 1900 veröffentlichten Beitrag zu "Bücher und Wege zu Büchern", herausgegeben von Arthur Bertold)

ZUM GEBURTSTAG VON NIETZSCHES SCHWESTER

Über die Autorin (1846-1935)

Mittwoch, 9. Juli 2014

Johanna Schopenhauer: Ausflug an den Niederrhein und nach Belgien im Jahr 1828

Die Luft mit ihren Stürmen ungerechnet, mit Wasser und Feuer zugleich es aufnehmen? Mit den beiden in ihrer Zerstörungskraft furchtbarsten Elementen? Nimmermehr! Das wäre ein Wagstück ohne Not, während die schönste Chaussee in Deutschland auf die sicherste und angenehmste Art mich zum Ziel meiner Reise bringen kann. So sprach ich oft, und die mehresten meiner Freunde, die, wie ich eben auch, noch kein Dampfschiff gesehen, stimmten mit mir ein. / Sind doch alle Augenblicke die Zeitungen mit Nachrichten von Unglücksfällen angefüllt, die bei der Dampfschifffahrt sich zugetragen. Ja, wäre es noch die alte ehrliche Wasserdiligence [Postkutsche! LA] von Mainz, die freilich ein wenig langsam geht; aber sie ist jetzt aus der Mode gekommen, von der Neuheit verdrängt, wie vieles an und für sich gute Alte. Sie setzt zwar ihren gewohnten Lauf noch immer rüstig genug fort, doch die Gesellschaft, die man auf ihr antrifft, ist jetzt anderer Art als wohl früher; auch soll sie, wenigstens im Äußern, etwas gebrechlich geworden sein. / So sprach ich vor dem Antritt meiner Reise und nahm mir fest vor, bei dem Entschluss, mich nicht frevelhaft der neuen gefährlichen Erfindung anzuvertrauen, zu beharren und zu Lande nach Godesberg zu gehen. In Frankfurt kam es aber niemand in den Sinn, dass man anders als mit dem Dampfschiff den Rhein hinunterreisen wollen könne, und es fehlte nicht viel, so hätten meine dortigen Freunde über meine von der Zerstörungskraft der beiden mächtigsten Elemente hergenommenen Gründe gegen diese Art zu reisen geradezu gelacht. Auslachen ist eine der kräftigsten Waffen gegen Vorurteil, und Beispiel übt über Jung und Alt eine unwiderstehliche Gewalt. Täglich sah ich Freunde und Bekannte, die mehreremale bloß zum Vergnügen das große Wagnis, mit dem Dampfschiffe zu gehen, ganz ungefährdet überstanden hatten; kommen so viele glücklich davon, dachte ich endlich, nun so werde ich allein doch nicht bestimmt sein, mit der Geschichte meines traurigen Unterganges einen Zeitungsartikel füllen helfen zu müssen.

(Aus dem 1831 erschienenen Reisebuch)

ZUM GEBURTSTAG DER SCHRIFTSTELLERIN UND SALONNIÈRE

Über die Autorin (1766-1838)

Dienstag, 8. Juli 2014

Walter Hasenclever: Christus

Zu viele Christen sind gestorben.
Kein Christus stieg von des Kreuzes Not,
ging durch Felder, von Pestluft verdorben,
lebte und siegte über den Tod.
Sie starben im Dunkel, das sie geboren
aus dem verhassten Schoße der Lust:
Entfesselte Brut der bewusstlosen Toren,
rückwärts gebohrt in die eigene Brust.
Der rächende Engel von Sodoms Stätte
zuckte auf ihrem Sündenfall
dumpfes Geschütz in der Bürger Bette.
Sie fuhren nieder zur Hölle all.
Zweitausend Jahre nach seinem Namen:
Die Gemeinschaft der Heiligen ist verdammt.
Giftige Frucht aus der Feindschaft Samen
hat die Mäuler der Irren entflammt.
In Mord und Hunger, Gewalt und Lüge,
bekränzt mit dem Glorienschein des Rechts:
Kein Heiland, der die Augen aufschlüge,
Sohn Gottes, Erlöser des falschen Geschlechts.
Kein Heiland, der in der Schlacht als Seher,
wo dreier Jahre Sonne noch scheint,
ein Korn des Guten der Menschheit näher,
eine Träne Schmerz und Hoffnung geweint.
Christus am Kreuz ist mit ihnen gefallen.
Sein Reich ist verloren. Sein Name entweiht.
Propheten Zions! Trompeten erschallen.
Sei, Mensch, zur Hilfe der Menschen bereit!

(Gedicht aus dem Jahre 1913; Quelle: Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts, dtv 1962)

ZUM GEBURTSTAG DES DICHTERS

Über den Autor (1890-1940)

Montag, 7. Juli 2014

Johanna Spyri: Heidis Lehr- und Wanderjahre

„Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?“ setzte hier Frau Sesemann ein. / In sprachlosem Erstaunen schaute der überraschte Herr die Dame an. / „Es ist ja wirklich völlig wunderbar“, sagte er endlich, „nicht nur, dass das junge Mädchen nach all' meinen gründlichen Erklärungen und ungewöhnlichen Bemühungen das ABC nicht erlernt hat, sondern auch und besonders, dass es jetzt in kürzester Zeit, nachdem ich mich entschloſſen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu lassen und ohne alle weitergreifenden Erläuterungen nur noch sozusagen die nackten Buchstaben vor die Augen des jungen Mädchens zu bringen, sozuſagen über Nacht das Lesen erfasst hat, und dazu sogleich mit einer Korrektheit der Worte liest, wie mir bei Anfängern noch selten vorgekommen ist. Fast ebenso wunderbar aber ist mir die Wahrnehmung, dass die gnädige Frau gerade diese fernliegende Tatsache als Möglichkeit vermutete.“ / „Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben“, bestätigte Frau Sesemann und lächelte vergnüglich; „es können auch einmal zwei Dinge glücklich zusammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine neue Lehrmethode, und beide können Nichts schaden, Herr Kandidat. Jetzt wollen wir uns freuen, dass das Kind so weit ist, und auf guten Fortgang hoffen.“ / Damit begleitete sie den Herrn Kandidaten zur Tür hinaus und ging rasch nach dem Studierzimmer, um sich selbst der erfreulichen Nachricht zu versichern. Richtig saß hier Heidi neben Klara und las dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem größten Erstaunen und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt eindringend, die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegentraten und Leben gewannen und zu herzbewegenden Geschichten wurden. Noch an demselben Abend, als man sich zu Tische setzte, fand Heidi auf seinem Teller das große Buch liegen mit den schönen Bildern, und als es fragend nach der Großmama blickte, sagte diese freundlich nickend: „Ja, ja, nun gehört es dir.“ /„Für immer? Auch wenn ich heimgehe?“ fragte Heidi, ganz rot vor Freude. / „Gewiss, für immer!“ versicherte die Großmama, „morgen fangen wir an zu lesen.“ / „Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi“, warf Klara hier ein; „wenn nun die Großmama wieder fortgeht, dann mußt du erst recht bei mir bleiben.“ / Noch vor dem Schlafengehen musste Heidi in seinem Zimmer sein schönes Buch ansehen, und von dem Tage an war es sein Liebstes, über seinem Buch zu sitzen und immer wieder die Geschichten zu lesen, zu denen die schönen, bunten Bilder gehörten. Sagte am Abend die Großmama: „Nun liest uns Heidi vor“, so war das Kind sehr beglückt, denn das Lesen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die Geschichten laut vorlas, so kamen sie ihm noch viel schöner und verständlicher vor, und die Großmama erklärte dann noch so Vieles und erzählte immer noch mehr hinzu. Am liebsten beschaute Heidi immer wieder seine grüne Weide und den Hirten mitten unter der Herde, wie er so vergnüglich, auf seinen langen Stab gelehnt, dastand, denn da war er noch bei der schönen Herde des Vaters und ging nur den lustigen Schäfchen und Ziegen nach, weil es ihn freute. Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus weggelaufen, nun in der Fremde war und die Schweinchen hüten musste und ganz mager geworden war bei den Träbern, die er allein noch zu essen bekam. Und auf dem Bilde schien auch die Sonne nicht mehr so golden, da war das Land grau und neblig. Aber dann kam noch ein Bild zu der Geschichte: da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus dem Hause heraus und lief dem heimkehrenden, reuigen Sohn entgegen, um ihn zu empfangen, der ganz furchtsam und abgemagert in einem zerrissenen Wams daherkam. Das war Heidi's Lieblingsgeschichte, die es immer wieder las, laut und leise und es konnte nie genug der Erklärungen bekommen, welche die Großmama den Kindern dazu machte. Da waren aber noch so viele schöne Geschichten in dem Buch, und bei dem Lesen derselben und dem Bilderbesehen gingen die Tage sehr schnell dahin, und schon nahte die Zeit heran, welche die Großmama zu ihrer Abreise bestimmt hatte.

(Aus dem zehnten Kapitel des 1880 erschienenen Kinderbuchs)

ZUM TODESTAG DER JUGENDSCHRIFTSTELLERIN

Über die Autorin (1827-1901)

Sonntag, 6. Juli 2014

Johann Gustav Droysen: Grundriss der Historik

§. 1. Natur und Geschichte sind die weitesten Begriffe, unter denen der menschliche Geist die Welt der Erscheinungen begreift. Und er fasst sie so den ihm typischen Anschauungen Raum und Zeit gemäß. / Nicht objektiv scheiden sich die Erscheinungen nach Raum und Zeit; unsre Auffassung unterscheidet sie, je nachdem die Erscheinungen sich mehr dem Raum nach, mehr der Zeit nach zu verhalten scheinen. / Bestimmtheit und Inhalt gewinnen die Begriffe Natur und Gechichte in dem Maße, als das Nebeneinander des Seienden, das Nacheinander des Gewordenen wahrgenommen, erforscht, erkannt wird.
§. 2. Die rastlose Bewegung in der Welt der Erscheinungen lässt uns die Dinge als im steten Werden auffassen, mag das Werden der einen sich periodisch zu wiederholen, das der andern sich in der
Wiederholung summierend in rastloser Steigerung zu wachsen scheinen. / In denjenigen Erscheinungen, in welchen sich uns ein solches Fortschreiten zeigt, gilt uns das Nacheinander, das Moment der Zeit als das Maßgebende. Sie fassen wir auf und zusammen als Geschichte.
§. 3. Dem menschlichen Auge erscheint nur das Menschliche in stets fortschreitender Steigerung. Und die Summierung derselben ist die sittliche Welt. Nur auf diese, oder doch vor allem auf diese, wird der Ausdruck Geschichte angewandt.
§. 4. Die Geschichte ist ein Ergebniss empirischen Wahrnehmens, Erfahrens und Forschens. / Die unmittelbare Wahrnehmung, die subjektive Auffassung des Wahrgenommenen zu prüfen, zu verifizieren, zu objektiver Kenntnis umzuformen, ist die Aufgabe der historischen Wissenschaft.
§. 5. Alle empirische Wahrnehmung und Forschung bestimmt sich nach den Gegebenheiten, auf die sie gerichtet ist. Und sie kann sich nur auf solche richten, die ihr zu unmittelbarer, zu sinnlicher Wahrnehmbarkeit gegenwärtig sind. / Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen; sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein.
§. 6. Jeder Punkt in der Gegenwart ist ein gewordener. Was er war und wie er wurde, ist vergangen; aber seine Vergangenheit ist ideell in ihm. / Aber nur ideell, erloschene Züge, latente Scheine; ungewusst sind sie da, als wären sie nicht da. / Der forschende Blick, der Blick der Forschung vermag sie zu erwecken, wieder aufleben, in das leere Dunkel der Vergangenheiten zurückleuchten zu lassen. / Nicht die Vergangenheiten werden hell, sondern was von ihnen noch unvergangen ist. Diese erweckten Scheine sind ideell die Vergangenheit, sind das geistige Gegenbild der Vergangenheit. / Der endliche Geist hat nur das Jetzt und Hier. Aber diese dürftige Enge seines Seins erweitert er sich vorwärts mit seinen Hoffnungen und Zwecken, rückwärts mit der Fülle seiner Erinnerungen. So ideell die Zukunft und die Vergangenheit in sich zusammenschließend, hat er ein Analogon der Ewigkeit. / Er umleuchtet seine Gegenwart mit den Bildern der Vergangenheit, die kein Sein und keine Dauer hat, außer im Geist und durch ihn. / Die Erinnerung schafft ihm die Formen und die Stoffe seiner geistigen Welt.
§. 7. Nur was Menschengeist und Menschensinn gestaltet, geprägt, berührt hat, nur die Menschenspur leuchtet uns wieder auf. / Prägend, formend, ordnend, in jeder Äußerung gibt der Mensch einen Ausdruck seines individuellen Wesens, seines Ich. Was von solchen Ausdrücken und Abdrücken irgendwie, irgendwo vorhanden ist, spricht zu uns, ist uns verständlich.

(Beginn der Einleitung des 1868 erschienenen Geschichtswerks)

ZUM GEBURTSTAG DES HISTORIKERS

Samstag, 5. Juli 2014

Carl Günther Ludovici: Großes vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste

Ich nehme an, es habe einer niemals eine Uhr zu Gesichte bekommen. Wenn nun selbiger einen Uhrmacher ein Stücke nach dem andern zusammensetzen siehet, bis die Uhr völlig fertig ist, so wird er zwar einen Begriff von der Uhr bekommen, und er wird angeben können, wie eines an dem andern in einer Uhr henget, wie ein Stück so mit dem andern verwandt sey, daß immer eines das andere voraussetzet; aber wer wird läugnen, daß der Vortheil nicht ungleich grösser seyn würde, wenn einer schon vorher gewust, was alles zu einer Uhr gehöret, und er sodann erst die Werckstatt des Künstlers besuchet. So ist es auch mit Erlernung der Wahrheiten. Man bekommet eine tieffere Einsicht in den Zusammenhang derselben, wenn man sie erstlich in der materiellen Ordnung, und hernach nach ihrer Abstammung, oder wie eine aus der andern herzuleiten sey, betrachtet, zu welchem letztern Behuf die demonstrativischen Schrifften unentbehrlich sind. Wollte man gleich sagen, daß man sich auch den ersteren Nutzen zugleich bey demonstrativischen Schrifften von beygefügten guten und vollständigen Registern versprechen könne; so ist dennoch hierbey eine grosse Verdrüßlichkeit vorhanden.

(Aus der Vorrede zum 1739 erschienenen Band 19)

ZUM TODESTAG DES GELEHRTEN

Über den Autor (1707-1778)

Freitag, 4. Juli 2014

Theodor Storm: Gedichte

Natur, du kannst mich nicht vernichten,
Weil es dich selbst vernichten heißt.
HEBBEL

Wie wenn das Leben wär nichts andres
Als das Verbrennen eines Lichts!
Verloren geht kein einzig Teilchen,
Jedoch wir selber gehn ins Nichts!

Denn was wir Leib und Seele nennen,
So fest in eins gestaltet kaum,
Es löst sich auf in Tausendteilchen
Und wimmelt durch den öden Raum.

Es waltet stets dasselbe Leben,
Natur geht ihren ew'gen Lauf;
In tausend neuerschaffnen Wesen
Stehn diese tausend Teilchen auf.

Das Wesen aber ist verloren,
Das nur durch ihren Bund bestand,
Wenn nicht der Zufall die verstäubten
Aufs neu zu einem Sein verband.

(Aus der 1885 erschienenen Nachlese)

ZUM TODESTAG DES DICHTERS

Über den Autor (1817-1888)

Donnerstag, 3. Juli 2014

Theodor Herzl: Der Judenstaat

Wir sind nicht anders als die anderen Menschen. Wir lieben unsere Feinde nicht, das ist ganz wahr. Aber nur wer sich selbst zu überwinden vermag, darf es uns vorwerfen. Der Druck erzeugt bei uns natürlich eine Feindseligkeit gegen unsere Bedränger – und unsere Feindseligkeit steigert wieder den Druck. / Aus diesem Kreislauf herauszukommen ist unmöglich. / „Doch!“ werden weichmütige Schwärmer sagen, „doch, es ist möglich! Und zwar durch die herbeizuführende Güte der Menschen.“
Brauche ich wirklich erst noch zu beweisen, was das für eine sentimentale Faselei ist? Wer eine Besserung der Zustände auf die Güte aller Menschen gründen wollte, der schriebe allerdings eine Utopie! / Ich sprach schon von unserer „Assimilierung“. Ich sage keinen Augenblick, dass ich sie wünsche. Unsere Volkspersönlichkeit ist geschichtlich zu berühmt und trotz aller Erniedrigungen zu hoch, als dass ihr Untergang zu wünschen wäre. Aber vielleicht könnten wir überall in den uns umgebenden Völkern spurlos aufgehen, wenn man uns nur zwei Generationen hindurch in Ruhe ließe. Man wird uns nicht in Ruhe lassen. Nach kurzen Perioden der Duldsamkeit erwacht immer und immer wieder die Feindseligkeit gegen uns. Unser Wohlergehen scheint etwas Aufreizendes zu enthalten, weil die Welt seit vielen Jahrhunderten gewohnt war, in uns die Verächtlichsten unter den Armen zu sehen. Dabei bemerkt man aus Unwissenheit oder Engherzigkeit nicht, dass unser Wohlergehen uns als Juden schwächt und unsere Besonderheiten auslöscht. Nur der Druck presst uns wieder an den alten Stamm, nur der Hass unserer Umgebung macht uns wieder zu Fremden. So sind und bleiben wir denn, ob wir es wollen oder nicht, eine historische Gruppe von erkennbarer Zusammengehörigkeit. / Wir sind ein Volk – der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu, wie das immer in der Geschichte so war. In der Bedrängnis stehen wir zusammen, und da entdecken wir plötzlich unsere Kraft. Ja, wir haben die Kraft, einen Staat, und zwar einen Musterstaat zu bilden. Wir haben alle menschlichen und sachlichen Mittel, die dazu nötig sind.

(Aus dem Abschnitt "Wirkung des Antisemitismus" in dem 1896 erschienenen Werk)

ZUM TODESTAG DES ZIONISTEN

Über den Autor (1860-1904)

Mittwoch, 2. Juli 2014

Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Messias

Der Messias entfernt sich von dem Volke, geht auf den Ölberg und verspricht Gott noch einmal in einem feierlichen Gebete, die Erlösung zu übernehmen. Sein Engel, Gabriel, wird hierauf von ihm in den Himmel geschickt, dies Gebet vor Gott zu bringen. Um den Himmel sind lauter Sonnen. Gabriel geht durch einen Sonnenweg, von dem ehemals ein ätherischer Strom nach Eden herunter floss. Er hört auf einer der nächsten Sonnen ein Lied mit an, das allezeit nach dem Dreimalheilig gesungen wird. Eloa, der erhabenste unter allen Engeln, und den Gott besonders zu seinen Diensten braucht, kommt Gabriel entgegen, und führt ihn zu dem Altare des Messias. Gabriel opfert Räucherwerk und begleitet das Opfer mit dem Gebete des Messias, welches er vor Gott singt. Alles erwartet still die Antwort Gottes. Gott eröffnet durch ein Donnerwetter das Allerheiligste des Himmels, die Seligen zu seiner Antwort vorzubereiten. Seraph Eloa und Cherub Urim unterreden sich von dem, was sie in dem Allerheiligsten sehen. Gott redet nunmehr. Er sei die Liebe; jetzt, da die Erlösung des menschlichen Geschlechts anginge, wollte er einen zweiten Sabbat feiern, die Seelen der Väter sollten auf die Sonne herunter steigen, von da Zeugen der Erlösung zu sein. Auch empfängt Gabriel Befehle, an den Engel der Sonne und an die Engel der Erde, wegen der Wunder beim Tode Jesu. Die Thronenengel verteilen sich, wegen der Feier des zweiten Sabbats, durch die Himmel. Gabriel steigt zur Erde herab. Er findet den Messias schlafend. Er redet ihn gleichwohl, als den Allwissenden, an. Er geht von da zu den Schutzengeln der Erde. Ihr Wohnplatz ist mitten in der Erde, auf einer kleinern Sonne. Hierzu kommt er durch eine Öffnung bei dem Nordpole. Er findet die Engel der Erde auf ihrer Sonne und die Seelen ganz zarter Kinder, die hier zum Himmel vorbereitet werden. Von hier erhebt er sich zur Sonne und findet da die Seelen der Väter bei Uriel, dem Engel der Sonne.

(Inhalt des ersten der zwanzig Gesänge des 1749 bis 1773 erschienenen Epos)

ZUM GEBURTSTAG DES DICHTERS

Über den Autor (1724-1803)

Dienstag, 1. Juli 2014

Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher

Es ist ein sehr wesentlicher Umstand (wenn es nur verstanden wird), sich alles, was man weiß, so eigen zu machen, dass es ganz zu eines seinem Wesen zu gehören scheint. Das historische Wissen ist gerade das Gegenteil davon, das taugt beim Denken nichts und fällt einem nicht bei, wenn man's braucht, obgleich es gut ist, vieles historisch zu wissen. Also alles recht an ein Ganzes angeschlossen, sei es auch zweifelhafte Hypothese, es ist immer besser als Kollektionen von Fakten dem Gedächtnis anvertraut. In dem, was ich hier sage, ist mehr, als ich auszudrücken imstande bin. Ich werde mich aber hoffentlich immer wieder verstehen, wenn ich dieses lese.

(Aphorismus vom 26. Dezember 1791)

ZUM TODESTAG DES WISSENSCHAFTLERS

Über den Autor (1742-1799)