Ich erinnere mich an eine Geschichte, welche mein
Vater oft erzählt und die sich zu Zeiten seines Großvaters zugetragen
hatte. Dieser Großvater hatte einen Nachbar, welcher einmal in einer
Nacht den Grenzstein versetzte, so dass dadurch der Großvater um einige
Klafter Wiesengrund benachteilt wurde. Der Nachbar starb, ohne sein
Unrecht gut gemacht zu haben, und was geschah? Jede und jede Nacht musste
er aus seinem Grabe steigen und den Grenzstein auf seinen
ursprünglichen Platz zurücktragen. Der Großvater meines Vaters selbst
hatte den Geist des Nachbars mehrmals gesehen, wie dieser an der
Grenzscheide hin und her ging, bis der Großvater den
Grenzstein amtlich richtigstellen ließ und zum Zeichen seiner
Verzeihung für den Nachbar eine Messe opferte. Von dieser Zeit an war
der Geist nicht mehr zu sehen, er war erlöst, er konnte ruhen. / Nicht viel besser wie diesem Nachbar ist es auch
mir ergangen. Ich war denn fortgezogen von meinem Meister und seinem
Handwerk. Ich habe in der Welt gelebt und gestrebt – und habe doch noch
bei ihm sitzen und nähen müssen. Viele Jahre sind vorbei, seit ich von
meinem Lehrmeister gegangen bin; viele Jahre ist es, seit ich jeden Tag
an der geistigen Ausbildung und Vollendung meines Wesens arbeite,
Hunderte und Hunderte von Büchern lese und selbst welche schreibe; und
seit vielen Jahren war es, dass ich gar manche Nacht neben meinem
Lehrmeister in irgendeinem Bauernhause saß und schneiderte. / Ich erzähle Träume und sage Wahrheit. Ich erfreue
mich sonst eines gesunden Schlummers, aber ich habe die Ruhe von so
mancher Nacht eingebüßt, ich habe neben meinem bescheidenen Studenten-
und Literatendasein den Schatten meines Schneiderlebens durch die langen
Jahre geschleppt, wie ein Gespenst, ohne seiner los werden zu können. / Es ist nicht wahr, dass ich mich tagsüber in
Gedanken so häufig und und lebhaft mit meiner Vergangenheit beschäftigt
hätte. Ein der Haut eines Handwerkers entsprungener Welt- und
Himmelsstürmer hat anderes zu tun. Aber auch an seine nächtlichen Träume
wird der flottgewordene Bursche kaum gedacht haben; erst später, als
ich gewohnt worden war, über alles nachzudenken, oder auch, als sich der
Philister in mir mehr zu regen begann, fiel es mir auf, wieso ich denn –
wenn ich überhaupt
träumte – allemal der Schneidergesell' sei, und dass ich solchergestalt
schon so lange Zeit bei meinem Lehrmeister unentgeltlich in der
Werkstatt arbeite. Ich war mir, wenn ich so neben ihm saß und nähte und
bügelte, recht wohl bewusst, dass ich eigentlich nicht mehr dorthin
gehöre, dass ich mich jetzt mit ganz anderen Dingen zu befassen hätte;
doch hatte ich stets Ferien, war stets auf der Sommerfrische, und so saß
ich zur Aushilfe beim Lehrmeister. Es war mir oft gar unbehaglich, ich
bedauerte den Verlust der Zeit, in welcher ich mich besser und
nützlicher zu beschäftigen gewusst hätte. Vom Lehrmeister musste ich mir
mitunter, wenn etwas nicht ganz nach Maß und Schnitt ausfallen wollte,
eine Rüge gefallen lassen; von einem Wochenlohn jedoch war gar niemals
die Rede; oft, wenn ich mit gekrümmtem Rücken in der dunkeln Werkstatt
so dasaß, nahm ich mir vor, die Arbeit zu kündigen und mich fremd zu
machen. Einmal tat ich's sogar, jedoch der Meister nahm keine Notiz
davon, und nächstens saß ich doch wieder bei ihm und nähte. / Wie mich nach solch langweiligen Stunden das
Erwachen beglückte! Und da nahm ich mir vor, wenn dieser zudringliche
Traum sich wieder einmal einstellen sollte, ihn mit Gewalt von mir zu
werfen und laut auszurufen: es ist nur Gaukelspiel, ich liege im Bett
und will schlafen! – Und in der nächsten Nacht saß ich doch wieder in
der Schneiderwerkstatt. / So ging es jahrelang in unheimlicher
Regelmäßigkeit fort. Da war es einmal, als wir, der Meister und ich,
beim Alpelhofer arbeiteten, bei jenem Bauer, wo ich in die Lehre
getreten war, dass sich mein Meister besonders
unzufrieden mit meinen Arbeiten zeigte. »Möcht' nur wissen, wo du
deine Gedanken hast!« sagte er und sah mich finster an. Ich dachte, das
Vernünftigste wäre, wenn ich jetzt aufstünde, dem Meister bedeutete, dass
ich nur aus Gefälligkeit bei ihm sei, und wenn ich dann davonginge.
Aber ich tat es nicht. Ich ließ es mir gefallen, als der Meister einen
Lehrling aufnahm und mir befahl, demselben auf der Bank Platz zu machen.
Ich rückte in den Winkel und nähte. An demselben Tage wurde auch noch
ein Geselle aufgenommen – bigott, es war der Böhm', welcher vor vielen
Jahren bei uns gearbeitet hatte und damals auf dem Wege vom Wirtshause
in den Bach gefallen war. Als er sich setzen wollte, war kein Platz da.
Ich blickte den Meister fragend an, und dieser sagte zu mir: »Du hast ja
doch keinen Schick zur Schneiderei, du kannst gehen, du bist fremd gemacht.« – So übermächtig war hierüber mein Schreck, dass ich erwachte. / Das Morgengrauen schimmerte zu den klaren
Fenstern herein in mein trautes Heim. Gegenstände der Kunst umgaben
mich; im stilvollen Bücherschranke harrte meiner der ewige Homer, der
gigantische Dante, der unvergleichliche Shakespeare, der glorreiche
Goethe – die Herrlichen, die Unsterblichen alle. Vom Nebenzimmer her
klangen die hellen Stimmchen der erwachenden und mit ihrer Mutter
schäkernden Kinder. Mir war zumute, als hätte ich dieses süße, dieses
friedensmilde und poesiereiche, helldurchgeistigte Leben, in welchem ich
das Glück der Beschaulichkeit so oft und tief empfand, von neuem wieder
gefunden. Und doch wurmte es mich, dass ich mit der Kündigung meinem
Meister nicht zuvorgekommen, sondern von ihm abgedankt worden war. / Und wie merkwürdig ist mir das: seit jener Nacht, da mich der Meister
»fremd gemacht« hatte, genieße ich Ruhe, träume nicht mehr von meiner in
ferner Vergangenheit liegenden Schneiderzeit, die in ihrer
Anspruchslosigkeit ja so kindlich froh gewesen, und die doch einen so
langen Schatten in meine späteren Lebensjahre hineingeworfen hat.
(Aus dem 1877 erschienenen Erzählband)
ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS