Wir sind nicht anders als die anderen Menschen. Wir lieben unsere Feinde
nicht, das ist ganz wahr. Aber nur wer sich selbst zu überwinden
vermag, darf es uns vorwerfen. Der Druck erzeugt bei uns natürlich eine
Feindseligkeit gegen unsere Bedränger – und unsere Feindseligkeit
steigert wieder den Druck. / Aus diesem Kreislauf herauszukommen ist unmöglich. / „Doch!“ werden weichmütige Schwärmer sagen, „doch, es ist möglich! Und zwar durch die herbeizuführende Güte der Menschen.“
Brauche
ich wirklich erst noch zu beweisen, was das für eine sentimentale
Faselei ist? Wer eine Besserung der Zustände auf die Güte aller Menschen
gründen wollte, der schriebe allerdings eine Utopie! / Ich sprach schon von unserer „Assimilierung“. Ich sage keinen
Augenblick, dass ich sie wünsche. Unsere Volkspersönlichkeit ist
geschichtlich zu berühmt und trotz aller Erniedrigungen zu hoch, als dass
ihr Untergang zu wünschen wäre. Aber vielleicht könnten wir überall in
den uns umgebenden Völkern spurlos aufgehen, wenn man uns nur zwei
Generationen hindurch in Ruhe ließe. Man wird uns nicht in Ruhe lassen.
Nach kurzen Perioden der Duldsamkeit erwacht immer und immer wieder die
Feindseligkeit gegen uns. Unser Wohlergehen scheint etwas Aufreizendes
zu enthalten, weil die Welt seit vielen Jahrhunderten gewohnt war, in
uns die Verächtlichsten unter den Armen zu sehen. Dabei bemerkt man aus
Unwissenheit oder Engherzigkeit nicht, dass unser Wohlergehen uns als
Juden schwächt und unsere Besonderheiten auslöscht. Nur der Druck presst
uns wieder an den alten Stamm, nur der Hass unserer Umgebung macht uns
wieder zu Fremden. So sind und bleiben wir denn, ob wir es wollen oder
nicht, eine historische Gruppe von erkennbarer Zusammengehörigkeit. / Wir
sind ein Volk – der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu, wie das
immer in der Geschichte so war. In der Bedrängnis stehen wir zusammen,
und da entdecken wir plötzlich unsere Kraft. Ja, wir haben die Kraft,
einen Staat, und zwar einen Musterstaat zu bilden. Wir haben alle
menschlichen und sachlichen Mittel, die dazu nötig sind.
(Aus dem Abschnitt "Wirkung des Antisemitismus" in dem 1896 erschienenen Werk)
ZUM TODESTAG DES ZIONISTEN
Über den Autor (1860-1904)
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