Donnerstag, 17. Juli 2014

Alexander Gottlieb Baumgarten: Philosophische Briefe

Es war einmal ein Mann unter unsern Vorfahren, der suchte seine liebe Mutter, die Wahrheit, mit allem Ernst. Er gab sein ganzes väterliches Erbe weg, das sehr beträchtlich war, um nach ihr zu reisen. Er durchzog meist die ganze Welt und suchte, doch ohne zu finden. Beinahe war sogar die Hoffnung, sie zu finden, verloren, als ihm nicht weit vom verlornen Paradiese ein Berg gezeigt wurde, darauf ein Brunnen lebendigen Wassers sei, von dem die Rede ging, es sei die Wahrheit da hineingestürzt und habe sich seitdem nirgend anders sehen lassen. Indem er auf den Ort zueilet, um wenigstens bei dem Grabe seiner Mutter, wider seinen Gebrauch, zu weinen, so findet er die Wege steil, mit den gefährlichsten Abgründen umgeben, unordentlich verwachsen, vom Schlamm schlüpfrig, und doch scheinen die herumliegenden Gegenden dürr und erstorben. Allein je näher er kommt, je fruchtbarer zeigt sich der Boden. Je fruchtbarer er wurde, je angenehmer ward die natürliche Verwirrung der häufig blühenden und Frucht tragenden Kräuter, Blumen, Sträucher, Stauden und Bäume, die so fest durcheinander standen, dass es das Ansehen hatte, es sei noch nie ein Mensch durch sie hindurchgedrungen. Kaum hatte ihn Durst und Neubegierde getrieben, diesen Versuch zu tun, so sah er menschliche Fußstapfen von übernatürlicher Größe, die schon sehr alt sein mussten, weil sie zwar tief, aber doch ziemlich unkenntlich waren. Endlich entdeckte sich die Spitze des Berges, die von unten sehr klein geschienen und nun einen ungemeinen Umfang hatte. Es zeigten sich, nebst den schon etwas ausgetretenen noch viele frischere, wiewohl weit kleinere Fußstapfen von Menschen und zugleich ein ganzer Vorrat von abgenützten Flöten, Hirtenstäben und anderm Schäfergeräte, das die vor ihm hergereisten Gäste sonder Zweifel zurückgelassen hatten. Indem er zur Quelle kam, sah er an ihrem Ufer, wo es etwas sandig war, Dreiecke, Vierecke und dergleichen Sachen gezeichnet, die ihm mehr als deutlich wiesen, er sei nicht der erste unter den Sterblichen, der diesen Brunnen entdeckt. Er hatte nicht Zeit, sich darum gar zu lange zu bekümmern. Er war durstig – und trank. Sogleich durchdringet ihn eine neue Lebenskraft bis aufs Innerste. Seine Augen werden heiter und sehen die Wahrheit in der erhellten Tiefe mit solchem Glanz, dass man erzählet, er habe sich bald darauf die Augen geblendet, um nachher nichts anders zu sehen. Ich halte das letzte für eine Fabel.

(Aus dem zehnten Schreiben des 1741 erschienenen Sammelbands)

ZUM 300. GEBURTSTAG DES AUFKLÄRERS

Über den Autor (1714-1762)

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