Montag, 7. Juli 2014

Johanna Spyri: Heidis Lehr- und Wanderjahre

„Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?“ setzte hier Frau Sesemann ein. / In sprachlosem Erstaunen schaute der überraschte Herr die Dame an. / „Es ist ja wirklich völlig wunderbar“, sagte er endlich, „nicht nur, dass das junge Mädchen nach all' meinen gründlichen Erklärungen und ungewöhnlichen Bemühungen das ABC nicht erlernt hat, sondern auch und besonders, dass es jetzt in kürzester Zeit, nachdem ich mich entschloſſen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu lassen und ohne alle weitergreifenden Erläuterungen nur noch sozusagen die nackten Buchstaben vor die Augen des jungen Mädchens zu bringen, sozuſagen über Nacht das Lesen erfasst hat, und dazu sogleich mit einer Korrektheit der Worte liest, wie mir bei Anfängern noch selten vorgekommen ist. Fast ebenso wunderbar aber ist mir die Wahrnehmung, dass die gnädige Frau gerade diese fernliegende Tatsache als Möglichkeit vermutete.“ / „Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben“, bestätigte Frau Sesemann und lächelte vergnüglich; „es können auch einmal zwei Dinge glücklich zusammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine neue Lehrmethode, und beide können Nichts schaden, Herr Kandidat. Jetzt wollen wir uns freuen, dass das Kind so weit ist, und auf guten Fortgang hoffen.“ / Damit begleitete sie den Herrn Kandidaten zur Tür hinaus und ging rasch nach dem Studierzimmer, um sich selbst der erfreulichen Nachricht zu versichern. Richtig saß hier Heidi neben Klara und las dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem größten Erstaunen und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt eindringend, die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegentraten und Leben gewannen und zu herzbewegenden Geschichten wurden. Noch an demselben Abend, als man sich zu Tische setzte, fand Heidi auf seinem Teller das große Buch liegen mit den schönen Bildern, und als es fragend nach der Großmama blickte, sagte diese freundlich nickend: „Ja, ja, nun gehört es dir.“ /„Für immer? Auch wenn ich heimgehe?“ fragte Heidi, ganz rot vor Freude. / „Gewiss, für immer!“ versicherte die Großmama, „morgen fangen wir an zu lesen.“ / „Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi“, warf Klara hier ein; „wenn nun die Großmama wieder fortgeht, dann mußt du erst recht bei mir bleiben.“ / Noch vor dem Schlafengehen musste Heidi in seinem Zimmer sein schönes Buch ansehen, und von dem Tage an war es sein Liebstes, über seinem Buch zu sitzen und immer wieder die Geschichten zu lesen, zu denen die schönen, bunten Bilder gehörten. Sagte am Abend die Großmama: „Nun liest uns Heidi vor“, so war das Kind sehr beglückt, denn das Lesen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die Geschichten laut vorlas, so kamen sie ihm noch viel schöner und verständlicher vor, und die Großmama erklärte dann noch so Vieles und erzählte immer noch mehr hinzu. Am liebsten beschaute Heidi immer wieder seine grüne Weide und den Hirten mitten unter der Herde, wie er so vergnüglich, auf seinen langen Stab gelehnt, dastand, denn da war er noch bei der schönen Herde des Vaters und ging nur den lustigen Schäfchen und Ziegen nach, weil es ihn freute. Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus weggelaufen, nun in der Fremde war und die Schweinchen hüten musste und ganz mager geworden war bei den Träbern, die er allein noch zu essen bekam. Und auf dem Bilde schien auch die Sonne nicht mehr so golden, da war das Land grau und neblig. Aber dann kam noch ein Bild zu der Geschichte: da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus dem Hause heraus und lief dem heimkehrenden, reuigen Sohn entgegen, um ihn zu empfangen, der ganz furchtsam und abgemagert in einem zerrissenen Wams daherkam. Das war Heidi's Lieblingsgeschichte, die es immer wieder las, laut und leise und es konnte nie genug der Erklärungen bekommen, welche die Großmama den Kindern dazu machte. Da waren aber noch so viele schöne Geschichten in dem Buch, und bei dem Lesen derselben und dem Bilderbesehen gingen die Tage sehr schnell dahin, und schon nahte die Zeit heran, welche die Großmama zu ihrer Abreise bestimmt hatte.

(Aus dem zehnten Kapitel des 1880 erschienenen Kinderbuchs)

ZUM TODESTAG DER JUGENDSCHRIFTSTELLERIN

Über die Autorin (1827-1901)

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