Dienstag, 29. Juli 2014

Robert Schumann: Musikalische Haus- und Lebensregeln

    Die Bildung des Gehörs ist das Wichtigste. Bemühe dich frühzeitig, Tonart und Ton zu erkennen. Die Glocke, die Fensterscheibe, der Kuckuck – forsche nach, welche Töne sie angeben.
   Du sollst Tonleitern und andere Fingerübungen fleißig spielen. Es gibt aber viele Leute, die meinen, damit alles zu erreichen, die bis in ihr hohes Alter täglich viele Stunden mit mechanischem Üben hinbringen. Das ist ungefähr ebenso, als bemühe man sich täglich, das ABC möglichst schnell und immer schneller auszusprechen. Wende die Zeit besser an.
   Man hat sogenannte „stumme Klaviaturen“ erfunden; versuche sie eine Weile lang, um zu sehen, dass sie zu nichts taugen. Von Stummen kann man nicht sprechen lernen.
   Spiele im Takte! Das Spiel mancher Virtuosen ist wie der Gang eines Betrunkenen. Solche nimm dir nicht zum Muster.
   Lerne frühzeitig die Grundgesetze der Harmonie.
   Fürchte dich nicht vor den Worten Theorie, Generalbass, Kontrapunkt etc.; sie kommen dir freundlich entgegen, wenn du dasselbe tust.
   Klimpere nie! Spiele immer frisch zu und nie ein Stück halb!
   Schleppen und eilen sind gleich große Fehler.
   Wenn du spielst, kümmere dich nicht darum, wer dir zuhört. Spiele immer, als hörte dir ein Meister zu.
   Bemühe dich, leichte Stücke gut und schön zu spielen; es ist besser, als schwere mittelmäßig vorzutragen.
   Du hast immer auf ein rein gestimmtes Instrument zu halten.
   Nicht allein mit den Fingern musst du deine Stückchen können, du musst sie dir auch ohne Klavier vorträllern können. Schärfe deine Einbildungskraft so, dass du nicht allein die Melodie einer Komposition, sondern auch die dazugehörige Harmonie im Gedächtnis festzuhalten vermagst.
   Bemühe dich, und wenn du auch nur wenig Stimme hast, ohne Hilfe des Instrumentes vom Blatt zu singen; die Schärfe deines Gehörs wird dadurch immer zunehmen. Hast du aber eine klangvolle Stimme, so säume keinen Augenblick, sie auszubilden, betrachte sie als das schönste Geschenk, das dir der Himmel verliehen!
   Du musst es so weit bringen, dass du eine Musik auf dem Papier verstehst. / Legt dir jemand eine Komposition zum erstenmal vor, dass du sie spielen sollst, so überlies sie erst.
   Hast du dein musikalisches Tagewerk getan und fühlst dich ermüdet, so strenge dich nicht zu weiterer Arbeit an. Besser rasten, als ohne Lust und Frische arbeiten.
   Spiele, wenn du älter wirst, nichts Modisches. Die Zeit ist kostbar. Man müsste hundert Menschenleben haben, wenn man nur alles Gute, was da ist, kennen lernen wollte.  
   Jeder Zeit gerechte Würdigung! Auch die neuere hat Glänzendes errungen.
   Sollst du jemandem vorspielen, so ziere dich nicht; sondern tu's gleich oder gar nicht!
   Du musst aber nicht nur einen Meister lieb haben. Es hat deren viel gegeben.
   Glaube nicht, dass die alte Musik veraltet sei. Wie ein schönes wahres Wort nie veralten kann, ebenso wenig eine schöne wahre Musik!
   Es hat zu allen Zeiten schlechte Kompositionen gegeben und Narren, die sie gepriesen haben.
   Mit Süßigkeiten, Back- und Zuckerwerk zieht man keine Kinder zu gesunden Menschen. Wie die leibliche, so muss die geistige Kost einfach und kräftig sein. Die Meister haben hinlänglich für die letztere gesorgt; haltet euch an diese.
   Mache dich über den Umfang der menschlichen Stimme in ihren vier Hauptarten frühzeitig klar; belausche sie namentlich im Chor, forsche nach, in welchen Intervallen ihre höchste Kraft liegt, in welchen andern sie sich zum Weichen und Zarten verwenden lassen.
   Verlieh dir der Himmel eine rege Phantasie, so wirst du in einsamen Stunden wohl oft wie festgebannt am Flügel sitzen, in Harmonien dein Inneres aussprechen wollen, und um so geheimnisvoller wirst du dich wie in magische Kreise gezogen fühlen, je unklarer dir vielleicht das Harmonienreich noch ist. Der Jugend glücklichste Stunden sind diese. Hüte dich indessen, dich zu oft einem Talente hinzugeben, das Kraft und Zeit gleichsam an Schattenbilder zu verschwenden dich verleitet. Die Beherrschung der Form, die Kraft klarer Gestaltung gewinnst du nur durch das feste Zeichen der Schrift. Schreibe also mehr, als du phantasierst.
    Aller Passagenkram ändert sich mit der Zeit; nur, wo die Fertigkeit höheren Zwecken dient, hat sie Wert.
   Schlechte Kompositionen musst du nicht verbreiten, im Gegenteil sie mit aller Kraft unterdrücken helfen. / Du sollst schlechte Kompositionen weder spielen noch, wenn du nicht dazu gezwungen bist, sie anhören.
   Such’ es nie in der Fertigkeit der sogenannten Bravour. Suche mit einer Komposition den Eindruck hervorzubringen, den der Komponist im Sinne hatte; mehr soll man nicht; was darüber ist, ist Zerrbild.
   Betrachte es als etwas Abscheuliches, in Stücken guter Tonsetzer etwas zu ändern, wegzulassen, oder gar neumodische Verzierungen anzubringen. Dies ist die größte Schmach, die du der Kunst antust.
   Wegen der Wahl im Studium deiner Stücke befrage Ältere; du ersparst dir dadurch viel Zeit.
   Du musst nach und nach alle bedeutenderen Werke aller bedeutenden Meister kennenlernen.
   Lass dich durch den Beifall, den sogenannte große Virtuosen oft erringen, nicht irremachen. Der Beifall der Künstler sei dir mehr wert als der des großen Haufens.
   Alles Modische wird wieder unmodisch, und treibst du’s bis in das Alter, so wirst du ein Geck, den niemand achtet.
   Viel Spielen in Gesellschaften bringt mehr Schaden als Nutzen. Sieh dir die Leute an; aber spiele nie etwas, dessen du dich in deinem Innern zu schämen hättest.
   Versäume aber keine Gelegenheit, wo du mit anderen zusammen musizieren kannst, in Duos, Trios etc. Dies macht dein Spiel fließend, schwungvoll. Auch Sängern akkompagniere oft.
   Wenn alle erste Violine spielen wollten, würden wir kein Orchester zusammenbekommen. Achte daher jeden Musiker an seiner Stelle. / Liebe dein Instrument, halte es aber nicht in Eitelkeit für das höchste und einzige. Bedenke, dass es noch andere und ebenso schöne gibt. Bedenke auch, dass es Sänger gibt, dass im Chor und Orchester das Höchste der Musik zur Aussprache kommt.
   Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
   Spiele fleißig Fugen guter Meister, vor allen von Johann Sebastian Bach. „Das wohltemperierte Klavier“ sei dein täglich Brot. Dann wirst du gewiss ein tüchtiger Musiker.
   Suche unter deinen Kameraden die aus, die mehr als du wissen.
   Von deinen musikalischen Studien erhole dich fleißig durch Dichterlektüre. Ergehe dich oft im Freien!
   Von Sängern und Sängerinnen lässt sich manches lernen, doch glaube ihnen auch nicht alles.
   Hinter den Bergen wohnen auch Leute. Sei bescheiden, du hast noch nichts erfunden und gedacht, was nicht andere vor dir schon gedacht und erfunden. Und hättest du’s, so betrachte es als ein Geschenk von oben, das du mit anderen zu teilen hast.
   Das Studium der Geschichte der Musik, unterstützt vom lebendigen Hören der Meisterwerke der verschiedenen Epochen, wird dich am schnellsten von Eigendünkel und Eitelkeit kurieren.
   Ein schönes Buch über Musik ist das: „Über Reinheit der Tonkunst“ von Thibaut. Lies es oft, wenn du älter wirst.
   Gehst du an einer Kirche vorbei und hörst Orgel darin spielen, so gehe hinein und höre zu. Wird es dir gar so wohl, dich selbst auf die Orgelbank setzen zu dürfen, so versuche deine kleinen Finger und staune vor dieser Allgewalt der Musik. / Versäume keine Gelegenheit, dich auf der Orgel zu üben; es gibt kein Instrument, das am Unreinen und Unsauberen im Tonsatz wie im Spiel alsogleich Rache nähme, als die Orgel.
   Singe fleißig im Chor mit, namentlich Mittelstimmen. Dies macht dich musikalisch.
   Was heißt denn aber musikalisch sein? Du bist es nicht, wenn du, die Augen ängstlich auf die Noten gerichtet, dein Stück mühsam zu Ende spielst; du bist es nicht, wenn du (es wendet dir jemand etwa zwei Seiten auf einmal um) steckenbleibst und nicht fortkannst. Du bist es aber, wenn du bei einem neuen Stück das, was kommt, ungefähr ahnst, bei einem dir bekannten auswendig weißt; mit einem Worte, wenn du Musik nicht allein in den Fingern, sondern auch im Kopf und Herzen hast.
   Wie wird man aber musikalisch? Liebes Kind, die Hauptsache, ein scharfes Ohr, schnelle Auffassungskraft, kommt wie in allen Dingen von oben. Aber es lässt sich die Anlage bilden und erhöhen. Du wirst es nicht dadurch dass du dich einsiedlerisch tagelang absperrst und mechanische Studien treibst, sondern dadurch, dass du dich in lebendigem, vielseitig-musikalischem Verkehr erhältst, namentlich dadurch, dass du viel mit Chor und Orchester verkehrst.
   Höre fleißig auf alle Volkslieder; sie sind eine Fundgrube der schönsten Melodien und öffnen dir den Blick in den Charakter der verschiedenen Nationen.
   Übe dich frühzeitig im Lesen der alten Schlüssel. Viele Schätze der Vergangenheit bleiben dir sonst verschlossen.
   Achte schon frühzeitig auf Ton und Charakter der verschiedenen Instrumente; suche ihre eigentümliche Klangfarbe deinem Ohr einzuprägen.
   Gute Opern zu hören, versäume nie.
   Ehre das Alte hoch, bringe aber auch dem Neuen ein warmes Herz entgegen. Gegen dir unbekannte Namen hege kein Vorurteil.
   Urteile nicht nach dem Erstenmalhören über eine Komposition; was dir im ersten Augenblick gefällt, ist nicht immer das Beste. Meister wollen studiert sein. Vieles wird dir erst im höchsten Alter klar werden.
   Bei Beurteilung von Kompositionen unterscheide, ob sie dem Kunstfach angehören oder nur dilettantische Unterhaltung bezwecken. Für die der ersten Art stehe ein; wegen der anderen erzürne dich nicht!
   „Melodie“ ist das Feldgeschrei der Dilettanten, und gewiss ist eine Musik ohne Melodie gar keine. Verstehe aber wohl, was jene darunter meinen; eine leichtfassliche, rhythmisch-gefällige gilt ihnen allein dafür. Es gibt aber auch andere anderen Schlages, und wo du Bach, Mozart, Beethoven aufschlägst, blicken sie dich in tausend verschiedenen Weisen an: des dürftigen Einerleis namentlich neuerer italienischer Opernmelodien wirst du hoffentlich bald überdrüssig.
   Suchst du dir am Klavier kleine Melodien zusammen, so ist das wohl hübsch; kommen sie dir aber einmal von selbst, nicht am Klavier, dann freue dich noch mehr, dann regt sich in dir der innere Tonsinn. – Die Finger müssen machen, was der Kopf will, nicht umgekehrt.
   Fängst du an zu komponieren, so mache alles im Kopf. Erst wenn du ein Stück ganz fertig hast, probiere es am Instrumente. Kam dir deine Musik aus dem Innern, empfandest du sie, so wird sie auch so auf andere wirken.
   Verschaffe dir frühzeitig Kenntnis vom Dirigieren, sieh dir gute Dirigenten oft an; selbst im Stillen mitzudirigieren sei dir unverwehrt. Dies bringt Klarheit in dich.
   Sieh dich tüchtig im Leben um wie auch in anderen Künsten und Wissenschaften.
   Die Gesetze der Moral sind auch die der Kunst.
   Durch Fleiß und Ausdauer wirst du es immer höher bringen.
   Aus einem Pfund Eisen, das wenig Groschen kostet, lassen sich viele tausend Uhrfedern machen, deren Wert in die Hunderttausend geht. Das Pfund, das du von Gott erhalten, nütze es treulich.
   Ohne Enthusiasmus wird nichts Rechtes in der Kunst zu Wege gebracht.
   Die Kunst ist nicht da, um Reichtümer zu erwerben. Werde nur ein immer größerer Künstler; alles andere fällt dir von selbst zu.
   Nur erst, wenn dir die Form ganz klar ist, wird dir der Geist klar werden.
   Vielleicht versteht nur der Genius den Genius ganz.
   Es meinte jemand, ein vollkommener Musiker müsse imstande sein, ein zum erstenmal gehörtes, auch komplizierteres Orchesterwerk wie in leibhaftiger Partitur vor sich zu sehen. Das ist das Höchste, was gedacht werden kann.
   Es ist des Lernens kein Ende.

(Textanhang zum 1848 entstandenen Album für die Jugend, op. 48)

ZUM TODESTAG DES KOMPONISTEN

Über den Autor (1810-1856)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen