Ein Bund Spargel, ein Rosenbukett genügt für
ein Meisterwerk; ein hässliches oder ein hübsches
Mädchen, ein Apoll oder ein missgestalteter Zwerg:
aus allem läßt sich ein Meisterwerk machen, allerdings
mit dem nötigen Quantum Phantasie; sie allein
macht aus dem Handwerk ein Kunstwerk. / Die Phantasie, als das schöpferische Grundprinzip
des gesamten geistigen Lebens, ist für alle Künste
dieselbe, aber in den verschiedenen Künsten kommt
sie auf verschiedene Weise zum Ausdruck. Obgleich
nur die bildende Kunst, als einzig räumliche unter
den Künsten, imstande ist, die Ausdehnung aus der
Wirklichkeit mit zu übernehmen, ist sie doch deshalb
nicht materieller als Poesie oder Musik. Allerdings
sind die Werke der bildenden Kunst gleichsam
fass- und tastbar und – wie Gregor der Große im
Kampfe gegen die Bilderstürmer meinte: »Bilder sind
die Bücher derer, die nicht lesen können« – daher
werden sie für leichter verständlich gehalten. Im
Grunde jedoch ist die Kunst an einem Bilde genau
ebenso nur dem inneren Auge wahrnehmbar, wie die
an einem Musikstücke nur dem inneren Ohr. Denn
was anders als die Phantasie des Künstlers unterscheidet
ein Werk des Phidias von einem Abguss
über Natur? Daher ist es für den Wert eines Werkes
der bildenden Kunst ganz gleichgültig, was es darstellt,
nur die Erfindung und die Ausdrucksfähigkeit ihrer
Form macht seinen Wert aus. / Der Satz, dass die gutgemalte Rübe besser sei als
die schlechtgemalte Madonna, gehört bereits zum
eisernen Bestand der modernen Ästhetik. Aber der
Satz ist falsch; er müsste lauten: die gutgemalte
Rübe ist ebenso gut wie die gutgemalte Madonna.
Wohlgemerkt als rein malerisches Produkt, denn, zur
Beruhigung frommer Gemüter sei's gesagt, es fällt
mir beileibe nicht ein, zwei ästhetisch so ungleichwertige
Gegenstände miteinander vergleichen zu wollen.
Auch weiß ich wohl, dass die Darstellung einer Madonna
noch andere als rein malerische Ansprüche an
den Künstler stellt, und dass sie als künstlerische
Aufgabe schwerer zu bewältigen ist als ein Stillleben.
Obgleich in einem Vierzeiler das Genie
Goethes ebenso sichtbar ist als im Faust, kann als
künstlerische Leistung »Über allen Gipfeln ist Ruh«
doch nicht mit dem Faust verglichen werden. / Aber die spezifisch malerische Phantasie des Künstlers
kann sich in einem Stillleben gerade deshalb stärker
zeigen als in der Darstellung des Menschen, weil das
Bund Spargel nur durch die künstlerische Auffassung
interessiert, an dem Menschen, am Kopf oder an
einem schönen Frauenkörper interessiert uns – namentlich
an letzterem – auch noch der dargestellte
Gegenstand. / Der spezifisch malerische Gehalt eines Bildes ist um
so größer, je geringer das Interesse an seinem Gegenstande
selbst ist; je restloser der Inhalt eines Bildes
in malerische Form aufgegangen ist, desto größer der
Maler.
(Aus der 1903 erschienenen Schrift)
ZUM GEBURTSTAG DES KÜNSTLERS
Über den Autor (1847-1935)
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