Sonntag, 20. Juli 2014

Max Liebermann: Die Phantasie in der Malerei

Ein Bund Spargel, ein Rosenbukett genügt für ein Meisterwerk; ein hässliches oder ein hübsches Mädchen, ein Apoll oder ein missgestalteter Zwerg: aus allem läßt sich ein Meisterwerk machen, allerdings mit dem nötigen Quantum Phantasie; sie allein macht aus dem Handwerk ein Kunstwerk. / Die Phantasie, als das schöpferische Grundprinzip des gesamten geistigen Lebens, ist für alle Künste dieselbe, aber in den verschiedenen Künsten kommt sie auf verschiedene Weise zum Ausdruck. Obgleich nur die bildende Kunst, als einzig räumliche unter den Künsten, imstande ist, die Ausdehnung aus der Wirklichkeit mit zu übernehmen, ist sie doch deshalb nicht materieller als Poesie oder Musik. Allerdings sind die Werke der bildenden Kunst gleichsam fass- und tastbar und – wie Gregor der Große im Kampfe gegen die Bilderstürmer meinte: »Bilder sind die Bücher derer, die nicht lesen können« – daher werden sie für leichter verständlich gehalten. Im Grunde jedoch ist die Kunst an einem Bilde genau ebenso nur dem inneren Auge wahrnehmbar, wie die an einem Musikstücke nur dem inneren Ohr. Denn was anders als die Phantasie des Künstlers unterscheidet ein Werk des Phidias von einem Abguss über Natur? Daher ist es für den Wert eines Werkes der bildenden Kunst ganz gleichgültig, was es darstellt, nur die Erfindung und die Ausdrucksfähigkeit ihrer Form macht seinen Wert aus. / Der Satz, dass die gutgemalte Rübe besser sei als die schlechtgemalte Madonna, gehört bereits zum eisernen Bestand der modernen Ästhetik. Aber der Satz ist falsch; er müsste lauten: die gutgemalte Rübe ist ebenso gut wie die gutgemalte Madonna. Wohlgemerkt als rein malerisches Produkt, denn, zur Beruhigung frommer Gemüter sei's gesagt, es fällt mir beileibe nicht ein, zwei ästhetisch so ungleichwertige Gegenstände miteinander vergleichen zu wollen. Auch weiß ich wohl, dass die Darstellung einer Madonna noch andere als rein malerische Ansprüche an den Künstler stellt, und dass sie als künstlerische Aufgabe schwerer zu bewältigen ist als ein Stillleben. Obgleich in einem Vierzeiler das Genie Goethes ebenso sichtbar ist als im Faust, kann als künstlerische Leistung »Über allen Gipfeln ist Ruh« doch nicht mit dem Faust verglichen werden. / Aber die spezifisch malerische Phantasie des Künstlers kann sich in einem Stillleben gerade deshalb stärker zeigen als in der Darstellung des Menschen, weil das Bund Spargel nur durch die künstlerische Auffassung interessiert, an dem Menschen, am Kopf oder an einem schönen Frauenkörper interessiert uns – namentlich an letzterem – auch noch der dargestellte Gegenstand. / Der spezifisch malerische Gehalt eines Bildes ist um so größer, je geringer das Interesse an seinem Gegenstande selbst ist; je restloser der Inhalt eines Bildes in malerische Form aufgegangen ist, desto größer der Maler.

(Aus der 1903 erschienenen Schrift)

ZUM GEBURTSTAG DES KÜNSTLERS

Über den Autor (1847-1935)

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