Samstag, 31. Mai 2014

Ludwig Tieck: Denkwürdige Geschichtschronik der Schildbürger

Man zählt die Poesie zwar zu den brotlosen Künsten, doch unterließ man es nicht, großes Interesse an ihr zu nehmen. Ohne Zweifel ist es auch nur den Barbaren vergönnt, die Künste zu verachten und sie nicht auszubilden; dies sahen auch die Schildbürger sehr wohl ein, und darum taten sie auch weislich das Gegenteil. Da aber dieses Studium viele Zeit erfordert und es auch einigermaßen beschwerlich ist, sich damit einzulassen, so hatte man auch hierin Leute angestellt, die den übrigen Bürgern sagten, was sie von diesem und jenem Buche zu halten hätten. Diese Einrichtung gefiel den Einwohnern ungemein und sie übten sich daher so lange darin, bis sie es dahin brachten, dass sie es gar nicht mehr nötig hatten, die Werke selbst zu lesen, sondern sie erholten sich nur bei denen Rats, die sie in ihrem Namen beurteilten. Daher kam auch die wunderliche Sitte, daß es jedem öffentlichen Beurteiler erlaubt war, sich gleich den Königen und Fürsten in seinen Briefen Wir zu schreiben, weil jeder fest überzeugt sein konnte, dass er immer im Namen von tausend andern spreche. So brachten manche Leute ihre ganze Zeit damit zu, über Bücher zu sprechen, ohne selbst nur ein einziges Buch zu lesen, und die Beurteiler wurden in ihrer Kunst so perfekt, dass sie es auch am Ende unterließen.

(Aus dem Kapitel "Von der Verfassung, der Religion, der Philosophie der Schildbürger; Zustand der Künste und Wissenschaften" des erstmals 1798 erschienenen Werks)

ZUM GEBURTSTAG DES ROMANTIKERS

Über den Autor (1773-1853

Freitag, 30. Mai 2014

Robert Eduard Prutz: Die deutsche Literatur der Gegenwart

Wir wissen jetzt, dass politische Revolutionen zwar mitunter unvermeidlich sein können – gerade so unvermeidlich, wie gewisse Revolutionen des Erdlebens –, dass sie aber bei alledem in ihren nächsten und unmittelbarsten Folgen immer mehr zerstörend als segnend wirken: wie ja auch erst Jahrhunderte vergehen müssen, bevor die Lava, die grünende Felder und blühende Saaten vernichtet hat, sich zum fruchtbaren Boden umgestaltet. Allerdings trägt dieser Boden alsdann doppelte und dreifache Frucht: aber was kann das denjenigen nützen, deren Hab und Gut damals der Flammenstrom verschlang und die jetzt längst im Grabe modern, wenn endlich eine neue üppige Saat aus der toten Asche emporkeimt? Wer zum Schwerte greift, soll durch das Schwert umkommen; so kommt auch denjenigen, welche die Revolutionen gemacht haben, oder richtiger gesagt: die es haben dahin kommen lassen, dass die Revolution zur Notwendigkeit ward, von den wohltätigen Folgen derselben am allerwenigsten zugute, vielmehr gehen sie regelmäßig zugrunde als das tragische Opfer ihrer Schuld, und erst für spätere Geschlechter, die an dieser Letzteren keinen Teil mehr haben, verwandelt sich der Fluch in Segen. Das ist so nicht nur bei einzelnen geschichtlichen Persönlichkeiten, auch ganze Völker unterliegen demselben Gesetz. / Auch ihre Literaturen.

(Aus dem ersten Band des 1859 erschienenen Werks)

ZUM GEBURTSTAG DES VORMÄRZ-PUBLIZISTEN

Über den Autor (1816-1872)

Donnerstag, 29. Mai 2014

Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes

Das Bild des modernen Zauberers: eine Schalttafel mit ihren Hebeln und Bezeichnungen, an welchen der Arbeiter durch einen Fingerdruck gewaltige Wirkungen ins Dasein ruft, ohne von ihrem Wesen eine Ahnung zu haben, ist das Symbol der menschlichen Technik überhaupt. Das Bild der Lichtwelt um uns, so wie wir es kritisch, zerlegend, als Theorie, als Bild entwickelt haben, ist nichts als eine solche Tafel, auf der gewisse Dinge so bezeichnet sind, dass auf eine Berührung hin gewisse Wirkungen mit Sicherheit erfolgen. Das Geheimnis bleibt nicht weniger drückend. Aber durch diese Technik greift das Wachsein doch gewaltsam in die Tatsachenwelt; das Leben bedient sich des Denkens wie eines Zauberschlüssels, und auf der Höhe mancher Zivilisation, in deren großen Städten, erscheint endlich der Augenblick, wo technische Kritik es müde ist, dem Leben zu dienen, und sich zu seinem Tyrannen aufwirft. Eine Orgie dieses entfesselten Denkens von wahrhaft tragischen Maßen erlebt die abendländische Kultur eben jetzt.

(Aus dem Schlusskapitel des 1922 neu bearbeitet erschienenen Werks von 1918)

ZUM GEBURTSTAG DES GESCHICHTSMORPHOLOGEN

Über den Autor (1880-1936)

Mittwoch, 28. Mai 2014

Alfred Adler: Menschenkenntnis

Die Grundlagen der Menschenkenntnis sind derart, dass sie allzuviel Überhebung und Stolz nicht zulassen. Im Gegenteil, wahre Menschenkenntnis muss geeignet sein, eine gewisse Selbstbescheidung eintreten zu lassen, indem sie uns lehrt, dass hier eine ungeheure Aufgabe vorliegt, an der die Menschheit seit den Uranfängen ihrer Kultur arbeitet, ein Werk, dass sie bloß nicht zielbewusst und systematisch angegangen hat, so dass man immer nur einzelne große Menschen auftauchen sieht, die über mehr Menschenkenntnis verfügten als der Durchschnitt. Damit berühren wir einen wunden Punkt. Wenn man nämlich die Menschen unvoreingenommen auf ihre Menschenkenntnis hin prüft, so findet man, dass sie meistens versagen. Wir besitzen alle nicht viel Menschenkenntnis. Das hängt mit unserem isolierten Leben zusammen. Nie dürften die Menschen so isoliert gelebt haben wie heutzutage. Schon von Kindheit an haben wir wenig Zusammenhänge. Die Familie isoliert uns. Auch unsere ganze Art des Lebens gestattet uns keinen so intimen Kontakt mit unseren Mitmenschen, wie er zur Entfaltung einer Kunst, wie es Menschenkenntnis ist, unumgänglich notwendig ist. Denn wir können wieder den Kontakt mit anderen Menschen nicht finden, weil sie uns mangels eines besseren Verständnisses allzulange fremd anmuten. / Die schwerwiegendste Folge dieses Mangels ist die, dass wir in der Behandlung unserer Mitmenschen und im Zusammenleben mit ihnen meist versagen. Es ist eine oft hervorgehobene und empfindliche Tatsache, dass die Menschen aneinander vorübergehen und vorüberreden, den Zusammenschluss nicht finden können, weil sie sich fremd gegenüberstehen, nicht nur im weiteren Rahmen einer Gesellschaft, sondern sogar im engsten Kreis der Familie. Nichts tritt uns öfter entgegen als Klagen von Eltern, die ihre Kinder nicht verstehen, und von Kindern, dass sie von den Eltern nicht verstanden würden. Und doch liegt in den Grundbedingungen des menschlichen Zusammenlebens so viel Zwang, einander zu verstehen, weil unsere gesamte Haltung zum Nebenmenschen davon abhängt. Die Menschen würden viel besser zusammenleben, wenn die Menschenkenntnis größer wäre, weil gewisse störende Formen des Zusammenlebens wegfielen, die heute nur deshalb möglich sind, weil wir einander nicht kennen und so der Gefahr ausgesetzt sind, uns durch Äußerlichkeiten täuschen zu lassen und auf Verstellungen anderer hereinzufallen.

(Aus der Einleitung des erstmals 1927 erschienen Werks)

ZUM TODESTAG DES PSYCHOLOGEN

Über den Autor (1870-1937)

Dienstag, 27. Mai 2014

Paul Gerhardt: Gedichte


1. Du bist ein Mensch, das weißt du wohl;
was strebst du denn nach Dingen,
die Gott, der Höchst, alleine soll
und kann zu Werke bringen?
Du fährst mit deinem Witz und Sinn
durch so viel tausend
Sorgen hin und denkst:
Wie will´s auf Erden
doch endlich mit mir werden?

2. Es ist umsonst; du wirst fürwahr
mit allem deinem Dichten
und aller Sorgen großer Schar
das Kleinste nicht ausrichten;
und dient dein Gram sonst nirgend zu,
als daß du dich aus deiner Ruh
in Angst und Schmerzen stürzest
und selbst das Leben kürzest.

3. Willst du was tun, was Gott gefällt
und dir zum Heil gedeihet,
so wirf dein Sorgen auf den Held,
den Erd und Himmel scheuet,
und gib dein Leben, Tun und Stand
nur fröhlich hin in Gottes Hand,
so wird er deinen Sachen
ein fröhlich Ende machen.

4. O siehe doch, wie viel und oft
ist kläglich umgeschlagen,
was du gewiß und fest gehofft
mit Händen zu erjagen;
hingegen wie so manches Mal
ist des geschehn, das überall
kein Mensch, kein Rat, kein Sinnen
sich hat ersinnen können!

5. Wie oft bist du in große Not
durch eignen Willen kommen,
da dein verblendter Sinn den Tod
fürs Leben angenommen;
und hätte Gott dein Werk und Tat
ergehen lassen nach dem Rat,
in dem du´s angefangen,
du wärst zugrunde gangen.

6. Der aber, der uns ewig liebt,
macht gut, was wir verwirren,
erfreut, wo wir uns selbst betrübt,
und führt uns, wo wir irren.
Und dazu treibt ihn sein Gemüt
und die so reine Vatergüt,
in der uns arme Sünder
er trägt als seine Kinder.

7. Ach wie so oftmals schweigt er still
und tut doch, was uns nützet,
da unterdessen unser Will
und Herz in Ängsten sitzet,
sucht hier und da und findet nichts,
will sehn und mangelt doch des Lichts,
will aus der Angst sich winden
und kann den Weg nicht finden.

8. Gott aber geht gerade fort
auf seinen weisen Wegen;
er geht und bringt uns an den Ort,
da Wind und Sturm sich legen.
Hernachmals, wenn das Werk geschehn,
so kann alsdann der Mensch ersehn,
was der, so ihn regieret,
in seinem Rat geführet.

9. Drum, liebes Herz, sei wohlgemut
und laß von Sorg und Grämen!
Gott hat ein Herz, das nimmer ruht,
dein Bestes vorzunehmen.
Er kann´s nicht lassen, glaube mir;
sein Vaterherz ist gegen dir
und uns hier allzusammen
voll süßer Liebesflammen.

10. Tu als ein Kind und lege dich
in deines Vaters Arme,
bitt ihn und flehe, bis er sich
dein wie er pflegt, erbarme:
so wird er dich durch seinen Geist
auf Wegen, die du jetzt nicht weißt,
nach wohlgehaltnem Ringen
aus allen Sorgen bringen.


Liedfassung bei Youtube

ZUM TODESTAG DES KIRCHENLIEDDICHTERS

Über den Autor (1607-1676)

Montag, 26. Mai 2014

Emil Lask: Fichtes Idealismus und die Geschichte

Kant hat die Geschichte besser verstanden als seine Vorgänger. Er gelangt durch sein ganzes Denken zu dem, wovon die Aufklärungsphilosophie mit unkritischer Sorglosigkeit ausgegangen war: zu der Unentbehrlichkeit eines mit Bewusstsein angelegten Maßstabes dafür, worauf es denn bei Kultur und Geschichte ankomme. Jetzt erst verstehen wir, was Geschichte ist, denn wir kennen ihren Begriff.

(Aus der Einleitung des 1914 erschienenen Werks)

ZUM TODESTAG DES "NEUKANTIANERS"

Über den Autor (1875-1915)

Sonntag, 25. Mai 2014

Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte

Es scheint, als ob das Griechische die künftige Philosophie schon virtuell in sich enthielte: so unendlich ist seine Schmiegsamkeit an den Gedanken, dessen durchsichtigste Hülle es ist, vollends aber an den philosophischen Gedanken. Wir haben es mit einer vollständig von den Einzeldingen abgelösten Sprachwelt zu tun; mit einer Sprache, die, wie man richtig sagt, an sich schon eine praktische Dialektik und schon darum in philosophischen Bezeichnungen überaus schöpferisch ist. Der Annahme gegenüber, dass die größten und entscheidenden Ideen aus Ägypten möchten gekommen sein, dürfte schon die Erwägung berechtigt sein, ob das Altägyptische überhaupt eines unbildlichen Ausdruckes fähig gewesen sei, ob es einen freien Fluss abstrakter Gedanken gehabt habe. Auch die semitischen Sprachen stehen hinter dem Griechischen weit zurück. Den Aristoteles ins Hebräische zu übersetzen, würde gewiss unmöglich sein, und sogar die Araber hätten ohne die griechischen Vorbilder keine Philosophie bekommen; nur die Inder und Germanen hatten wohl außer den Griechen eine Sprache, die von Hause aus zur Philosophie taugte.

(Aus dem achten Abschnitt "Zur Philosophie, Wissenschaft und Redekunst" des postum von 1898 bis 1902 erschienenen Werks)

ZUM GEBURTSTAG DES HISTORIKERS

Über den Autor (1818-1897)

Samstag, 24. Mai 2014

Annette von Droste-Hülshoff: Der Knabe im Moor

O schaurig ist's übers Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Heiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt,
O schaurig ist's, übers Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!

Fest hält die Fibel das zitternde Kind
Und rennt, als ob man es jage;
Hohl über die Fläche sauset der Wind
Was raschelt drüben am Hage?
Das ist der gespenstige Gräberknecht,
Der dem Meister die besten Torfe verzecht;
Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind!
Hinducket das Knäblein zage.

Vom Ufer starret Gestumpf hervor,
Unheimlich nicket die Föhre,
Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,
Durch Riesenhalme wie Speere;
Und wie es rieselt und knittert darin!
Das ist die unselige Spinnerin,
Das ist die gebannte Spinnlenor',
Die den Haspel dreht im Geröhre!

Voran, voran! nur immer im Lauf,
Voran, als woll' es ihn holen!
Vor seinem Fuße brodelt es auf,
Es pfeift ihm unter den Sohlen
Wie eine gespenstige Melodei;
Das ist der Geigenmann ungetreu,
Das ist der diebische Fiedler Knauf,
Der den Hochzeitheller gestohlen!

Da birst das Moor, ein Seufzer geht
Hervor aus der klaffenden Höhle;
Weh, weh, da ruft die verdammte Margret:
»Ho, ho, meine arme Seele!«
Der Knabe springt wie ein wundes Reh;
Wär' nicht Schutzengel in seiner Näh',
Seine bleichenden Knöchelchen fände spät
Ein Gräber im Moorgeschwele.

Da mählich gründet der Boden sich,
Und drüben, neben der Weide,
Die Lampe flimmert so heimatlich,
Der Knabe steht an der Scheide.
Tief atmet er auf, zum Moor zurück
Noch immer wirft er den scheuen Blick:
Ja, im Geröhre war's fürchterlich,
O schaurig war's in der Heide!

(Aus der Sammlung "Gedichte" von 1844)

ZUM TODESTAG DER DICHTERIN

Freitag, 23. Mai 2014

Franz von Baader: Vierzig Sätze aus einer religiösen Erotik

Es kann nicht bloß Leichtsinn oder Zufall, sondern selbst ein Verbrechen sein, was die Menschen zusammenführt, woraus aber nicht folgt, dass auch ihr Zusammenbleiben ein Zufall oder Verbrechen ist, weil es in der Macht des Menschen liegt, aus einer schlechten Veranlassung ein Besseres zu machen. So bringen zum Beispiel Not oder niedriges Bedürfnis die Menschen zusammen, aber die gewordene Verbindung bleibt, während die Not vorübergeht. So ist uns jede natürliche Liebe als ein Unmittelbares gegeben, zugleich aber aufgegeben, durch vermittelndes Selbsttun ein Besseres aus ihr zu erwirken. Viele Menschen zeigen sich aber hierin nicht minder unverständig als die Orang-Utans, welche die Indianer von ihrem gemachten Feuer wegjagen und sich an selbem wärmen, welche aber nicht Verstand genug haben, um dieses Feuer durch Nachlegen sich zu unterhalten. Wie oft sehen wir darum die natürliche Geschlechtsliebe, Kindesliebe, Elternliebe, Geschwisterliebe, Stamm- und Vaterlandsliebe etc. aus gleicher Ursache schnell genug wieder erlöschen und ausgehen.

(Satz Nr. 32 aus der 1831 erschienenen Schrift)

ZUM TODESTAG DES CHRISTLICHEN THEOSOPHEN

Über den Autor (1765-1841)

Donnerstag, 22. Mai 2014

Ernst Toller: Weißt Du, wie eine Schwalbe fliegt


Ich sah
Im Kriege Gefangene wandern
Durch klagende Täler zerschossener Dörfer.
Den Reihen der Gaffenden
Entkrümmte sich
Ein Weib.
Hände gekrampft lösten sich,
Stiegen steil in Äther schwärzlichen Himmels,
Stiegen! Stiegen!
Schwebten!
Jauchzten!
Und einer Stimme seraphischer Jubel:
André!!!
 
Aber es war nicht wie der Flug einer Schwalbe.
 
Ich sah
Im Gefängnis gefesselte Menschen
Schlafend ...
Träumend ...
O Antlitz sternenstrahlend!
Gefesselte Menschen
Träumend!
Du seliger Sieger Traum!!!
 
Aber es war nicht wie der Flug einer Schwalbe

Der Schwalbe Flug – wie Unnennbares nennen?
Der Schwalbe Flug – wie Unbildbares bilden?
Lebte ein Gott,
Sein Zorn:
Der Schwalbe schnellendes Pfeilen,
Sein Lächeln:
Der Schwalbe innigweises Spiel,
Seine Liebe:
Der Schwalbe trunknes Sichverschenken.
 
Europa preist seine Äroplane,
Ich aber, ich Nummer 44,
Will mit den schweigenden Akkorden meines Herzens
Den Flug der Schwalbe preisen.

(Gefängnisgedicht aus dem 'Schwalbenbuch' von 1923 – Quelle: lyrik-lesezeichen.de)

ZUM TODESTAG DES RÄTEREPUBLIKANERS

Mittwoch, 21. Mai 2014

Hermann Lotze: Medizinische Psychologie

Das geistige Leben beruht überall auf einer Wechselwirkung zwischen der Seele und einem organisierten Körper. Die körperlichen Funktionen begründen jedoch die eigentümliche und spezifische Qualität der geistigen Verrichtungen nicht, sondern setzen die Fähigkeit zu ihnen als das ursprünglichste Eigentum der Seele in dieser selbst voraus; ihre Eindrücke geben jedoch diesen unentschiedenen Fähigkeiten Gegenstände der Anwendung und bestimmen die Richtung, in welcher die einzelnen Akte derselben kombiniert werden. Auch dies jedoch nicht durchgängig. Abgesehn vielmehr von dieser Verarbeitung der Eindrücke durch den Körper wird das Resultat dieser Arbeit noch einer selbständigen Behandlung von Seiten der Seele unterworfen, und großenteils erst dann, wenn die Summe der Eindrücke dieser innern psychischen Umformung unterlegen hat, tritt sie wieder als Anreiz für die Erzeugung physischer Prozesse in dem Körper hervor.

(Aus § 7 [Vom psychologischen Werte des Leibes] des 1852 erschienen Werks)

ZUM GEBURTSTAG DES PHILOSOPHEN UND NATURFORSCHERS

Über den Autor (1817-1881)

Dienstag, 20. Mai 2014

Claire von Glümer: Gesühnt

Der Kurierzug war angekommen; Omnibusse standen bereit, die Aussteigenden nach den Gasthöfen der kleinen Hafenstadt zu bringen; aber es war erst Mitte Mai, der Zuzug nach dem nahegelegenen, vielbesuchten Ostseebade hatte noch nicht begonnen und beinahe leer rasselten die Wagen nach der Stadt zurück. / In einem derselben, der die Aufschrift "Zum goldenen Anker" trug, saßen nur zwei Damen in Trauer. Die ältere, eine zarte Gestalt mit feinem, blassem Gesicht, lehnte sichtlich erschöpft zwischen Plaidbündeln und Reisetaschen, während die jüngere, ein schönes, blondes Mädchen, bald rechts, bald links aus dem Fenster sah. Endlich wendete sie sich zu ihrer Gefährtin und sagte: / "Mütterchen, sieh nur, wie hübsch es hier ist – wie still und freundlich: so recht zum Gesundwerden. Ganz heimisch musst du dich hier fühlen." / Die blasse Frau fuhr auf. / "Heimisch fühlen!" wiederholte sie, und in die mattblauen Augen kam ein Ausdruck der Angst; "was willst du damit sagen?" / "Mein armes Mütterchen, wie nervös du noch immer bist!" antwortete das junge Mädchen, indem sie sich vorbeugte und die Hand der Mutter liebkosend zwischen ihre beiden Hände nahm. "Ich meinte nur, die breiten Straßen mit den kleinen, weißen Häusern, vor denen hin und wieder Bäume stehen, müssten dich an unsere Wohnung in Hoboken erinnern." / "Ja, es ist möglich ... du kannst recht haben, liebe Käthe", sagte die Mutter und warf einen zerstreuten Blick aus dem Wagenfenster; dann zog sie den Schleier herunter und sank mit einem Seufzer in ihre frühere Stellung zurück. /  Die Tochter sah sie bekümmert an; aber jetzt bog der Wagen um die Straßenecke auf einen Platz, der, an drei Seiten von Häusern umschlossen, an der vierten vom Hafen begrenzt war. Ein Gewirr von Masten zeichnete sich auf dem Goldgrunde des Abendhimmels ab. / Käthe brach in einen Freudenruf aus: "Das Meer! dort drüben ist das Meer!" sagte sie. "Wie lange haben wir es entbehren müssen! ... Sieh, dort kommen Fischerboote nach Haus ... und das Schiff da drüben macht sich bereit, in See zu stechen – hörst du, wie die Matrosen singen? – Und hier steht ein ganzer Trupp Teerjacken beisammen. Mütterchen, wie glücklich bin ich, dich hier zu haben und dem düstern Berlin entronnen zu sein!" / Der Wagen hielt vor einem alten Hause, durch dessen Einfahrt ein winkliger, nicht allzu saubrer Hof sichtbar wurde. Ein Kellner stürzte herbei, den Damen beim Aussteigen zu helfen. / "Die für Mrs. Brown bestellten Zimmer", sagte das junge Mädchen, bot der Mutter den Arm und führte sie sorgsam die schmale, knarrende Holztreppe hinauf und über einen Gang, an dessen Ende der Kellner ein Zimmer mit altmodisch dürftiger Einrichtung öffnete. Dumpfige Luft schlug den Eintretenden entgegen. / "Liebe Mutter, hier kannst du nicht wohnen!" rief Käthe, und zu dem Kellner gewendet, fügte sie vorwurfsvoll hinzu: "Ich habe gute Zimmer bestellt!" / "Zu dienen, es sind unsere besten", gab er in gereiztem Tone zur Antwort. "Gnädige Frau wollen sich gefälligst überzeugen: Mittelsalon, Schlafzimmer rechts und links, ausgezeichnete Betten, Federmatratzen ..." / "Schon gut, lassen Sie das Gepäck heraufbringen", fiel die ältere Dame ein, und während sich der Kellner mit unmutigem Serviettenschwenken entfernte, sank sie in die Sofaecke, zog fröstelnd ihr Tuch um die Schultern und sah mit starren Augen wie ratlos umher. / Die Tochter, die inzwischen beide Fenster geöffnet und den Platz, auf den sie hinausgingen, mit raschem Blick überflogen hatte, trat an ihre Seite. /  "Du fühlst dich hier unbehaglich, liebe Mutter", sagte sie; "es soll nicht lange dauern; morgen quartieren wir uns um. Dort drüben steht ein neues, stattliches Hotel ... wie bist du nur dazu gekommen, dies elende Wirtshaus zu wählen? – 'Zum goldenen Anker' – es klingt gleich nach dem, was es ist." / "Zu meiner Zeit war es das beste", gab die Mutter zerstreut zur Antwort. / "Zu deiner Zeit!" wiederholte das junge Mädchen. "Du bist schon hier gewesen? – warum hast du mir das nie gesagt?" / "Liebe Käthe, quäle mich nicht mit Fragen", fiel die Mutter ungeduldig ein. "Lass Tee bringen und packe das Nötige aus, so dass ich mich gleich zurückziehen kann." / Käthe gehorchte. Nach kurzer Zeit war der Teetisch serviert; die Mutter rührte die Speisen kaum an. Bald saß sie in sich zusammengesunken, wie in Gedanken verloren; bald sah sie mit unruhigen Blicken umher, und die Hände griffen nach diesem und jenem. Plötzlich stand sie auf. / "Ich möchte mich niederlegen", sagte sie; "aber was fange ich mit dir an? Hast du etwas zu lesen?" / "Sorge dich nicht um mich, ich werde schreiben", antwortete das junge Mädchen. "Martins haben gebeten, ihnen gleich Nachricht zu geben, wie du die Reise überstanden hast." / Die Mutter zog die Brauen zusammen. / "Liebe Käthe", sagte sie, "ich habe natürlich nichts dagegen, dass du den Wunsch der guten Leute erfüllst, aber zu einer fortgesetzten Korrespondenz zwischen euch möchte ich es nicht kommen sehen. Die Frau eines Subalternbeamten, die möblierte Zimmer vermietet, ist kein Verkehr für dich." / Käthe sah die Mutter mit großen, erstaunten Augen an. / "Ich bin der Frau so sehr, sehr viel Dank schuldig", sagte sie. "Was hätte ich in dem wildfremden Berlin ohne ihre Hilfe angefangen? Wie manche Nacht hat sie an deinem Bette mit mir gewacht, wie unermüdlich für uns beide gesorgt ..." /  "Ja, ja, das alles weiß ich", fiel die Mutter ein; "ich habe mich auch nach Kräften dankbar bewiesen ... du magst hin und wieder schreiben, wenn es dir Bedürfnis ist ... was ich wünsche, ist nur ... wir sind nun einmal nicht mehr in Amerika, wo Schuster und Schneider zu den höchsten Staatsämtern gelangen können. Die verschiedenen Rangklassen sind hierzulande scharf abgegrenzt." / "Aber warum sollen wir uns danach richten?« rief Käthe, indem sie mit einer ihr eigenen stolzen Bewegung den Kopf erhob. »Wir gehören ja doch in keine dieser Rangklassen hinein." / Die Mutter wechselte die Farbe. / "Was willst du damit sagen?" fragte sie gereizt. "Wozu sind wir denn herübergekommen? – Glaubst du etwa, daß wir deines Vaters Wunsch und Absicht erfüllen, wenn wir uns damit begnügen, auf deutschem Boden zu stehen? – Unsern Verwandten haben wir uns anzuschließen, haben Rücksicht zu nehmen auf ihre Position ..."
"Mütterchen, Mütterchen, rege dich nicht so auf!" bat die Tochter. "Du machst dich wieder krank. Ich habe dich nicht erzürnen wollen und werde gewiss alles tun ..." / "Nun, so fange damit an, in deinen Freundschaften exklusiver zu sein", fiel ihr die Mutter ins Wort, indem sie dem Schlafzimmer zuging. "Gute Nacht!" fügte sie, über die Schwelle tretend, in milderem Tone hinzu, wies Käthe, die ihr folgen wollte, mit einer Handbewegung zurück, schloss die Tür und schob den Riegel vor. / Bestürzt blieb Käthe einen Augenblick stehen. Nie war die Mutter so heftig und ungerecht gewesen. Auf Verwandte sollte Käthe Rücksicht nehmen, von deren Dasein und Lebensstellung sie nie gehört hatte, und exklusiver in ihren Freundschaften sollte sie sein! Wusste denn die Mutter nicht, dass sie von Kindheit an nur einen Freund und Vertrauten gehabt hatte, den Vater, der vor acht Monaten gestorben war? / Sie setzte sich an das offene Fenster und sah in den verglimmenden Abendschein hinaus. Die Herzenseinsamkeit, in der sie des Vaters Tod zurückgelassen hatte, kam ihr zum Bewusstsein, wie lange nicht, denn in der Sorge um die kranke Mutter hatte sie seit Wochen und Monaten sich selbst vergessen. Nun drangen Sehnsucht und Erinnerung um so mächtiger auf sie ein. Sie sah des Vaters edle Züge wieder, das gütige, vertrauenerweckende Lächeln, die geistsprühenden Augen. Sie rief sich zurück, wie er sie, solange sie denken konnte, geistig und körperlich behütet hatte, wie er sie mehr und mehr an seinem inneren Leben teilnehmen ließ und sie endlich seinen "guten Kameraden" zu nennen pflegte.

(Anfang der 1882 im Sammelband "Vom Webstuhl der Zeit" erschienenen Novelle)

ZUM TODESTAG DER "1848ERIN"

Über die Autorin (1825-1906)

Montag, 19. Mai 2014

Rahel Varnhagen von Ense, geb. Levin: Briefe

Diesen Mittag bei Tische nahm Markus [ältester Bruder, 21 Jahre alt] die Kinder [jüngere Geschwister] in großes Verhör, weil er wirklich eine große Unart gefunden hatte, nämlich den Namen Levin oben in meinem Flur auf die Wand geschmiert. Röschen [12] sagte frei und lachend: "Ich war es nicht"; Ludwig [15] ebenso: "Ich auch nicht"; nur Moritz [8] leugnete, der sagte nämlich: "Ich hab' ja gar kein Bleistift" und dabei blieb er; das antwortete er wohl sechzehn- bis siebzehnmal, auf jede Frage, die nun in die Kreuz und Quere wie ein wirkliches Verhör und mit Verstand ihn ängstigend von allen Seiten hin und her getan wurden; seine Farbe zeugte wider ihn, aber selbst das Rotwerden unterdrückte er und blieb recht hübsch dabei: "Ich hab' ja kein Bleistift". Er hatte es nun endlich so gut wie gestanden, und obgleich ein Flor von Spaß über der ganzen Geschichte war, so wollten sie ihn doch zum völligsten Geständnis ängstigen; so sagt' ich [22]: "Nun gestehen kann er's doch nun nicht, genug, dass er's geleugnet hat." Das gefiel mir sehr. Kaum hatt' ich die Worte gehört, so musst' ich selbst entsetzlich lachen. (Sagen Sie mir, wie kann ich selbst lachen? Ich dachte sie doch erst, eh' ich sie sagte! Nun ja! Der Klang! –) Es gingen noch sehr hübsche Dinge bei der Geschichte vor, zuletzt wie er es denn wirklich gestanden hatte, so sagte Mama: "Man leugnet nicht, man sagt lieber, ich war's und ich habe nicht gewusst, dass es unrecht ist, nun werd ich's nicht mehr tun"; darauf sagt er ganz bieder: "Ich habe erst sehen wollen, ob's so geht." Überhaupt hat er recht hübsch geleugnet; Sie hätten's sehen sollen. Ich habe dabei viel gelacht; auch mäßigte ich das Verhör so viel als möglich [...]. – Warum verbietet man den Kindern so ausdrücklich Leugnen und Ausreden, die man (zwar leider! aber) doch braucht? Man erzieht sie ja für den Tummel der Welt, und nicht für einen positiven Himmel, der ein rotes Herz und unbeflecktes Gewissen genau belohnt.

(Aus Berlin am 18.2.1794 an David Veit; zitiert bei Hannah Arendt: Rahel Varnhagen)

ZUM GEBURTSTAG DER SALONNIÈRE

Über die Autorin (1771-1833)

Sonntag, 18. Mai 2014

Fanny zu Reventlow: Viragines* oder Hetären

Vielleicht entsteht noch einmal eine Frauenbewegung in diesem Sinn, die das Weib als Geschlechtswesen befreit, es fordern lehrt, was es zu fordern berechtigt ist, volle geschlechtliche Freiheit, das ist, freie Verfügung über seinen Körper, die uns das Hetärentum wiederbringt. Bitte, keinen Entrüstungsschrei! Die Hetären des Altertums waren freie, hochgebildete und geachtete Frauen, denen niemand es übel nahm, wenn sie ihre Liebe und ihren Körper verschenkten, an wen sie wollten und so oft sie wollten und die gleichzeitig am geistigen Leben der Männer mit teilnahmen. Das Christentum hat stattdessen die Einehe und – die Prostitution geschaffen. Letztere ist ein Beweis dafür, dass die Ehe eine mangelhafte Einrichtung ist. In einem Teil der Frauen sucht man von Jugend auf durch die christlich moralische Erziehung das Geschlechtsempfinden abzutöten, oder man verweist sie auf die Ehe mit der Behauptung, dass die Frau überhaupt monogam veranlagt sei. Gleichzeitig richtet man die Prostitution ein, zwingt also den anderen Teil der Frauen, polygam zu sein, damit den Männern geholfen werde, für die wiederum die Ehe unausreichend ist. Der Geschlechtstrieb und seine Befriedigung überhaupt wird als notwendiges Übel hingestellt, dem so oder so abgeholfen oder der gesteuert werden muss. In der Ehe wird er zur Pflicht gestempelt, außerhalb derselben verpönt, oder seine Befriedigung in möglichst unästhetischen Formen, wie unsere heutige staatliche konzessionierte Prostitution, gebracht. So geht mir doch mit der Behauptung, die Frau sei monogam! – Weil ihr sie dazu bringt, ja! Weil ihr sie Pflicht und Entsagung lehrt, wo ihr sie Freude und Verlangen lehren solltet. Weil ihr kein Schönheitsgefühl im Leibe habt. Was ist denn ästhetischer und im wahren Sinne moralischer: wenn ihr euere blühenden Mädchen zu abgestorbenen Gespenstern macht und euere Söhne ins Bordell schickt, oder wenn ihr sie sich miteinander in der Schönheit ihres Lebens freuen lasst? / Gottseidank, unsere christliche Gesellschaftsmoral hat sich mehr wie gründlich überlebt, die letzten Jahrzehnte, die moderne Bewegung, hat die junge Generation etwas von der mutigen Frohheit des Heidentums gelehrt. Wir haben angefangen, die alten Gesetzestafeln zu zerbrechen. / Warum sollte das morderne Heidentum uns nicht auch ein modernes Hetärentum bringen? Ich meine, den Frauen den Mut zur freien Liebe vor aller Welt wiederzugeben. In Frankreich ist man uns in dieser Beziehung, in der erotischen Kultur jedenfalls, weit voraus. Wir Deutschen müssen uns erst das schwere Blut, das kalte nordische Schuldbewusstsein und Verantwortungsgefühl abgewöhnen.

(Aus  dem ursprünglich "Was Frauen ziemt" betitelten, 1899 erschienenen Aufsatz für die "Zürcher Diskussionen")

* Viragines = Mannweiber

ZUM GEBURTSTAG DER SCHWABINGER GRÄFIN

Über die Autorin (1871-1918)

Samstag, 17. Mai 2014

Sebastian Kneipp: Meine Wasserkur

Ein Meister führt drei Häuser auf, alle nach einem und demselben Plane. In der Wahl des Materials jedoch wechselt er. Das erste Haus führt er auf mit den besten Steinen, dem besten Sand, und statt Kalk nimmt er Zement. Wenn dieses Haus fertig ist, steht es da so fest und dauerhaft, dass es allen Stürmen trotz bietet und fast unverwüstlich ist. – Das zweite baut er aus guten Steinen, ziemlich guten, aber nicht dem besten Sand und gebraucht auch guten Kalk. Auch dieses Haus wird fest und ausdauernd, wenn auch nicht in dem Maße wie das erste. Es wird lange stehen können, ehe es baufällig wird. – Beim Bau des dritten Hauses geht er aber recht leichtsinnig zu Werke; er ist gleichgültig in der Auswahl der Steine, nimmt schmutzigen Sand und keinen guten Kalk. Der Verputz des Hauses macht dasselbe freilich hübsch für das Auge, so dass der, welcher das Material nicht gesehen hat und beim Aufbau nicht zugegen war, sagen würde: Diese Häuser sind alle drei gleich gut, und es wird das eine so lange halten wie das andere. Wie würde sich aber ein solcher täuschen, und wie anders wäre sein Urteil, wenn er das Baumaterial mit eigenen Augen gesehen und dem Aufbau dieser Häuser beigewohnt hätte! Sein Urteil müsste sein: Das erste Haus macht dem Meister alle Ehre; es ist am meisten wert, dauert am längsten, und wer es bewohnt, wird Freude daran haben. Beim zweiten würde er das Urteil fällen müssen: Es wird ziemlich lange bestehen, es wird seinen Besitzer zufriedenstellen, und es wird sich lange gut darin wohnen lassen, doch steht es dem ersten bedeutend an Wert nach. Beim dritten Hause würde er aber sagen müssen: Aus schlechtem Material lässt sich kein gutes Haus bauen; wer in dieses Haus einzieht, wird sich getäuscht finden, und es wird früh zusammenbrechen. Solchen Unterschied macht es, welches Material man zum Bauen wählt und mit welcher Sorgfalt man den Bau ausführt. In ähnlicher Weise wie mit jenen drei Häusern verhält es sich auch mit dem menschlichen Körper, der ja gleichfalls aus unendlich vielen kleinen Teilen aufgebaut ist, die miteinander verbunden sind wie die Steine eines Hauses. Das Material, aus dem jene Teile gebildet sind und ihre Verbindung hergestellt wird, sind die _Speisen_ und _Getränke_. Unter diesen kann nun der Mensch, ähnlich wie der obengenannte Meister beim Material zum Bau seiner Häuser, eine gute oder schlechte Auswahl treffen.

(Aus dem Kapitel "Von der Nahrung" des erstmals 1886 erschienenen Werks)

ZUM GEBURTSTAG DES "WASSERDOKTORS"

Über den Autor (1821-1897)

Freitag, 16. Mai 2014

Jakob van Hoddis: Stachlige Opuntien

Selbstverständlich wird ein geistig höher organisierter Mensch nur aus Versehen aktiv. Man kann ja geistig minder hoch organisiert und doch ein wertvoller Mensch sein. Wir sind aber keine Vereinigung wertvoller Menschen, sondern eine freie wissenschaftliche Vereinigung. Die FWV muss also ihre Mitglieder erziehen. / Im allgemeinen wird man bei uns nur bis zur Eintragung in das Anmeldebuch beachtet. Auch die Vorträge und Diskussionsabende werden mehr zu Keilzwecken als zu Nutz und Frommen der FWVer veranstaltet. / II. / Durch seinen Eintritt in die FWV gibt man zu, dass man einen wissenschaftlichen Verkehr für nützlich hält. Der Nutzen dieses Verkehrs kann unmöglich in der Sammlung von allerlei Kenntnissen bestehen, denn wenn es auf Kenntnisse ankäme, wäre ein Konversationslexikon weiser als Sokrates. Die Förderung durch die geistige Tätigkeit kann nur in der Förderung der geistigen Tätigkeit bestehen. Darauf kommt es an. Nicht darauf, dass man seine Phrasen spazieren führt und sie eine Weltanschauung benamst. Jede Ansicht ist beschränkt, nur wer immer strebend sich bemüht, kann sich aus Beschränkung und Beschränktheit erlösen. / III. / Die Beschäftigung mit künstlerischen Problemen. Auch da kann die Debatte nur den fördern, der sich selber fördert. Ich habe noch nie einen Bundesbruder im Museum oder in einer Gemäldeausstellung getroffen. / IV. / "Ich erlaube jedem Erfahrungsmanne, der doch immer, wenn was Tüchtiges aus ihm wird, ein 'philosophe sans le savoir' [= Unwissender] ist und bleibt gegen die Philosophie, besonders wie sie in unsern Tagen erscheint, eine Art Apprehension [= Widerwillen], die aber nicht in Abneigung auflösen, sondern sich in eine stille vorsichtige Neigung auflösen muss. Geschieht das nicht, so ist, ehe man sichs versieht, der Weg zur Philisterei betreten, auf dem ein guter Kopf sich nur desto schlimmer befindet, als er, auf eine ungeschickte Weise, die bessere Gesellschaft vermeidet, die ihm allein bei seinem Streben behilflich sein konnte." (Goethe an Fr. H. Jakobi, am 23.11.1801) / Auch die vorsichtigste Neigung fordert und erlaubt eine gewisse Beschäftigung mit ihrem Gegenstande. / V. / Ja, aber ...! Sehr richtig! Da alles in der Welt seine Ursachen hat, so hat es auch seine Ursachen, wenn man Banause ist. Man ist es darum aber doch, und doch ein schlechter FWVer. / VI. / Wehe dem Nicht-FWVer, der sagt: "Die FWV bietet bloß allerlei Brocken aus allen möglichen Gebieten des Wissens und Nichtwissens. Populärwissenschaft für Studierende." Und doch wird der wissenschaftliche Teil vom Vorstand mit Absicht zu einer geistigen Brockensammlung gemacht. Man wird ja auch nicht wegen seiner Intelligenz Vorstandsmitglied. / Daher bringen unsere Abende keinen zusammenhängenden, fortlaufenden Ideenaustausch und bieten nur selten und zufällig Förderndes. / VII. / Platos Akademie war die erste FWV! Wer über diesen Satz lacht, erklärt sich oder seine Bundesbrüder für inferior [= minderwertig]. Wir wollen unsere Sache endlich einmal ernst nehmen!

(Untertitel des postum, nach 1942, erschienenen Prosastücks: Leider fühlen sich die meisten nicht getroffen)

ZUM GEBURTSTAG DES EXPRESSIONISTISCHEN DICHTERS

Über den Autor (1887-1942)

Donnerstag, 15. Mai 2014

Arthur Schnitzler: Sterben

Die Dämmerung nahte schon, und Marie erhob sich von der Bank, auf der sie eine halbe Stunde lang gesessen hatte, anfangs in ihrem Buche lesend, dann aber den Blick auf den Eingang der Allee gerichtet, durch die Felix zu kommen pflegte. Sonst ließ er nicht lange auf sich warten. Es war etwas kühler geworden, dabei aber hatte die Luft noch die Milde des entschwindenden Maitages. / Es waren nicht mehr viel Leute im Augarten, und der Zug der Spaziergänger ging dem Tore zu, das bald geschlossen werden musste. Marie war schon dem Ausgange nahe, als sie Felix erblickte. Trotzdem er sich verspätet hatte, ging er langsam, und erst, wie seine Augen den ihren begegneten, beeilte er sich ein wenig. Sie blieb stehen, erwartete ihn, und wie er ihr lächelnd die Hand drückte, die sie ihm lässig entgegengestreckt hatte, fragte sie ihn mit sanftem Unmut im Ton: "Hast du denn bis jetzt arbeiten müssen?" Er reichte ihr den Arm und erwiderte nichts. "Nun?" fragte sie. "Ja, Kind", sagte er dann, "und ich habe ganz vergessen, auf die Uhr zu sehen." Sie betrachtete ihn von der Seite. Er schien ihr blässer als sonst. "Glaubst du nicht", sagte sie zärtlich, "es wäre besser, du würdest dich jetzt ein bisschen mehr deiner Marie widmen? Lass doch auf einige Zeit deine Arbeiten. Wir wollen jetzt mehr spazieren gehen. Ja? Du wirst von nun ab immer schon mit mir vom Hause fort." / "So ..." / "Ja, Felix, ich werde dich überhaupt nicht mehr allein lassen." Er sah sie rasch, wie erschreckt an. "Was hast du denn?" fragte sie. / "Nichts!" / Sie waren am Ausgange angelangt, und das abendliche Straßenleben schwirrte heiter um sie. Es schien über der Stadt etwas von dem allgemeinen unbewussten Glücke zu liegen, das der Frühling über sie zu breiten pflegt. "Weißt du, was wir tun könnten", sagte er. "Nun?" "In den Prater gehen." / "Ach nein, neulich war es so kalt unten." / "Aber sieh'! Es ist beinahe schwül hier auf der Straße. Wir können ja gleich wieder zurück. Gehen wir nur!" Er sprach abgebrochen, zerstreut. / "Ja, sag', wie redest du denn, Felix?" / "Wie?" ...
"Woran denkst du denn? Du bist ja bei mir, bei deinem Mädel!" / Er sah sie an mit starrem, abwesendem Blicke. / "Du!" rief sie angstvoll und drückte seinen Arm fester.

(Anfang der 1892 erschienenen Novelle)

ZUM GEBURTSTAG DES DICHTERS

Über den Autor (1862-1931)

Mittwoch, 14. Mai 2014

Kurt Eisner: Reden als erster Ministerpräsident des Freistaates Bayern

Die revolutionäre Gesinnung in Deutschland ist nicht das feige Werk des Zusammenbruchs, sondern das Ergebnis einer im Stillen und Dunkeln unermüdlich vorwärts drängenden Arbeit, die gerade dann einsetzte, als Deutschland [im Weltkrieg 1914-18] militärisch scheinbar das Übergewicht hatte. Für unsere Revolution in Bayern verbürge ich mich dafür, daß es eine wirkliche Revolution war, eine die Massen im tiefsten erschütternde Revolution, geistig vorbereitet seit Jahr und Tag und dann zur Tat gebracht im rechten Augenblick. / Wir leben noch und wollen weiterleben, aber nicht als die Alten, sondern als die von Grund auf Neuen. Wir wollen nicht mehr paktieren mit den Leichnamen der Vergangenheit. Wenn unsere Revolution trotz ihres großen Erfolges so menschlich verlief, so geschah das aus der Erwägung heraus, dass wir die fluchwürdigen Methoden der alten Zeit nicht hineinschleppen wollen in unsere neue befreiende Zeit. Das Verbrechen, das die alten Machthaber begangen haben, war so über alles menschliche Maß groß, dass nicht einmal der Schrei der Vergeltung, der Rache sie erreicht. Das möchte ich auch Ihnen raten. Denken Sie, französische und englische Genossen, nicht an Rache, an Vergewaltigung, sondern lassen wir unsere eigenen Schuldigen irgendwo im Verborgenen weiterleben! Das ist eine viel schwerere Strafe für sie als irgendeine andere. Wir wollen uns gar nicht beflecken dadurch, dass wir diese Sünder richten. Wir sind zu stolz, selbst um ihre Richter zu sein. Selbst das muten wir uns nicht zu. Vielleicht ist gerade das [die] neue Denkart. Und nun helfen Sie uns! Wir sind heute das radikalste Reich der Welt. Wir sind eine Demokratie, die nicht nur formal besteht, sondern danach trachtet, das ganze Volk mit-tätig heranzuziehen: denn wir stehen an der Schwelle des sozialistischen Reiches. / Parteigenossen! Darin sind wir alle einig: Wir wollen unsere Schuld sühnen, indem wir auf dem Wege zum Sozialismus vorwärtsschreiten. Und nun reichen Sie uns die Hand! Verbünden wir uns gegen Ihre Feinde, die auch die unsern sind! / Parteigenossen, ich stehe nicht als reuiger Sünder vor Ihnen. Ich würde mich auch nach der Niederlage nicht beugen vor der Gewalt der andern. Wenn man uns Unwürdiges zumutet, dann sage ich: Lieber untergehen, als sich auf unabsehbare Zeit fremden Kapitalisten auszuliefern. Das ist mein Patriotismus, aber ich denke an das Wort [des 1914 erschossenen Jean] Jaurès, das er ausgesprochen hat: Wilhelm Liebknecht, der glückliche Vater des in der Revolution [am 15.1.1919] gemordeten Sohnes [Karl], sei so sehr ein Internationaler gewesen, daß er sich als Patriot aller Länder empfand. Das soll auch für uns Grundlage des neuen Völkerbundes sein: das Bestreben, Patrioten aller Länder zu sein

(Am 4.2.1919 auf der Arbeiter- und Sozialistenkonferenz in Bern, 17 Tage vor seiner Ermordung)

ZUM GEBURTSTAG DES NOVEMBERREVOLUTIONÄRS

Über den Autor (1867-1919)

Dienstag, 13. Mai 2014

Helene Lange: Frauenwahlrecht

Es ist der Gedanke Camille Sées [des französischen Bildungspolitikers]: "Von den Frauen hängt die Größe und der Verfall der Nationen ab", und in der Tat ist hier das erlösende Wort gesprochen. Denn der rein männliche Staat in seiner starren Einseitigkeit hat sich eben nicht bewährt. In dieser Überzeugung kann uns Frauen keine "Belehrung" erschüttern, und sei sie noch so sehr von oben herab, im deutschen Professorenton gehalten. Wir stehen an einem geschichtlichen Abschnitt. Dem Gemeinschaftsleben strömen neue, bisher anderweitig nötige, durch den gewaltigen Umschwung innerhalb unseres Jahrhunderts aber frei gewordene Kräfte zu: Die Frau will ihren Anteil an der Kulturarbeit leisten. Und der Weg muss ihr geebnet werden eben um des Wohls der Gesamtheit willen. / Nicht als ob die Frauen den Himmel auf Erden schaffen werden. Sie sind, als Gesamtheit genommen, nicht vollkommener als die Männer. Sie sind nur anders; sie ergänzen den Mann. Sie haben den Instinkt der Mutterschaft und die unmittelbarere Fühlung mit der Natur, und das ist es, was die Welt im Augenblick braucht. Und der Unterschied zwischen einem Gemeinschaftsleben, auf das nur Männer einwirken, und einem solchen, in dem Männer und Frauen – vielleicht in einer später zu vereinbarenden Welt der Arbeitsteilung – zusammenwirken, ist derselbe wie der zwischen einem Hause, in dem nur ein redlich wollender Vater, und einem, in dem neben ihm eine redlich wollende Mutter waltet. Denn das Wort, das einst Lady Henry Somerset als Motto über ihr Frauenstimmrechtsblatt setzte, ist wahr: "The women's movement is organised mother love." Diese Mutterliebe, deren die verarmte Welt so dringend bedarf, kann nur die Frau ihr geben, – es ist müßig, im einzelnen ausführen zu wollen, in welcher Weise – Gefängnisse und Waisenhäuser, Schulen und Hospitäler harren ihrer, und der Unrat, der unser Leben befleckt und den Menschen an der Wende des 20. Jahrhunderts oft unter das Tier stellt, wird nur ihrer Hand weichen. Denn unzweifelhaft finden die rein sinnlichen Instinkte in ihr die natürliche Gegnerin.

(Aus einem Artikel der Zeitschrift Cosmopolis, Paris 1896)

ZUM TODESTAG DER FRAUENRECHTLERIN

Über die Autorin (1848-1930)

Montag, 12. Mai 2014

Egmont Colerus: Von Pythagoras bis Hilbert

Ähnlich der Musik ist ja die Mathematik eine im besten Sinne des Wortes menschliche Angelegenheit. Rang, Würde, Alter, Geschlecht und Herkunft sind ihr einerlei, und sie ist zudem noch bestrebt, dem Willen Gottes, dem Willen zur lautersten und unerbittlichsten Wahrheit, soweit dies irdischen Wesen möglich ist, nahezukommen. Sie will aber auch ebensosehr den irdischen Hochmut, die intellektuelle Anmaßung und die apokalyptische Skepsis bekämpfen, da sie auf einer Seite den Himmelstürmern ein donnerndes Halt zuruft, auf der anderen Seite durch die Entwicklung von Jahrtausenden bewiesen hat, dass stets wieder neue Kulturen in neuer Form dieses oberste Reich des Geistes weiterbauen und einander zu einer sicherlich erst mit den letzten Menschen endenden Aufstiegskette die Hand reichen.

(Aus dem Vorwort des 1937 erschienenen Buchs)

ZUM GEBURTSTAG DES POPULÄRMATHEMATIKERS

Über den Autor (1888-1939)

Sonntag, 11. Mai 2014

Gottfried August Bürger: Wunderbare Reisen des Freiherrn von Münchhausen

Ein weitläufiger Verwandter von mir hatte sich die Grille in den Kopf gesetzt, es müßte notwendig ein Volk geben, das dem an Größe gleichkäme, welches Gulliver in dem Königreiche Brobdignag gefunden haben will. Dies aufzusuchen, ging er auf eine Entdeckungsreise aus und bat mich, ihn zu begleiten. Ich meines Orts hatte nun zwar jene Erzählung nie für etwas mehr gehalten als für ein gutes Märchen und glaubte so wenig an ein Brobdignag als an ein Eldorado; indes der Mann hatte mich zum Erben eingesetzt, und ich war ihm also wieder Gefälligkeiten schuldig. Wir kamen auch glücklich nach der Südsee, ohne dass uns irgend etwas aufstieß, das verdiente angeführt zu werden; außer einige fliegende Männer und Weiber, die in der Luft Menuett tanzten oder Springerkünste machten, und dergleichen Kleinigkeiten. / Den achtzehnten Tag, nachdem wir bei der Insel Otahiti vorbeigekommen waren, führte ein Orkan unser Schiff wenigstens tausend Meilen von der Oberfläche des Wassers weg und hielt es geraume Zeit in dieser Höhe. Endlich füllte ein frischer Wind unsere Segel, und nun gings mit unglaublicher Geschwindigkeit fort. Sechs Wochen waren wir über den Wolken gereiset, als wir ein großes Land entdeckten, rund und glänzend, gleichsam eine schimmernde Insel. Wir liefen in einen bequemen Hafen ein, gingen an das Ufer und fanden das Land bewohnt. Unter uns sahen wir eine andere Erde mit Städten, Bäumen, Bergen, Flüssen, Seen usw., das, wie wir vermuteten, die Welt war, die wir verlassen hatten. – Im Monde – denn das war die schimmernde Insel, an der wir gelandet hatten – sahen wir große Gestalten, die auf Geiern ritten, von denen jeder drei Köpfe hatte. Um Ihnen einen Begriff von der Größe dieser Vögel zu geben, muß ich Ihnen sagen, daß die Entfernung von einem Ende ihres Flügels bis zum andern sechsmal so lang war als das längste Segeltau an unserm Schiffe. – Anstatt wir nun in dieser Welt auf Pferden reiten, fliegen die Einwohner des Mondes auf diesen Vögeln umher. / Der König hatte gerade einen Krieg mit der Sonne. Er bot mir eine Offizierstelle an; allein ich verbat mir die Ehre, die Seine Majestät mir zudachte. / Alles ist in dieser Welt außerordentlich groß; eine gewöhnliche Fliege z. B. ist nicht viel kleiner als eines unserer Schafe. Die vorzüglichsten Waffen, deren sich die Einwohner des Mondes im Kriege bedienen, sind Rettiche, die wie Wurfspieße gebraucht werden, und den, der damit verwundet wird, augenblicklich töten. Ihre Schilde sind aus Pilzen gemacht, und wenn die Zeit der Rettiche vorbei ist, so vertreten Spargelstangen ihre Stelle. / Ich sah auch hier einige von den Eingebornen des Hundssterns, die der Handlungsgeist zu dergleichen Streifereien verleitet. Diese haben ein Gesicht wie große Bullenbeißer. Ihre Augen stehen zu beiden Seiten der Spitze oder vielmehr des untern Endes ihrer Nase. Sie haben keine Augenlider, sondern bedecken ihre Augen, wenn sie schlafen gehen, mit ihrer Zunge. Gewöhnlich sind sie zwanzig Fuß hoch; von den Einwohnern des Mondes aber ist keiner unter sechsunddreißig Fuß. Der Name, den die letztern führen, ist etwas sonderbar. Sie heißen nicht Menschen, sondern kochende Geschöpfe, weil sie ebenso wie wir ihre Speisen beim Feuer zurechtmachen. Übrigens nimmt ihnen das Essen sehr wenig Zeit weg; denn sie öffnen nur die linke Seite und schieben die ganze Portion auf einmal in den Magen hinein; darin schließen sie wieder zu, bis nach Verfluß eines Monats derselbe Tag wiederkommt. Sie haben mithin das ganze Jahr hindurch nicht mehr als zwölf Mahlzeiten – eine Einrichtung, die jeder, der kein Fresser oder Schlemmer ist, der unsern weit vorziehen muss. / Die Freuden der Liebe sind im Monde gänzlich unbekannt; denn sowohl unter den kochenden Geschöpfen als allen übrigen Tieren gibt es nur ein einziges Geschlecht. Alles wächst auf Bäumen, die aber nach ihren verschiedenen Früchten auch an der Größe und den Blättern sich sehr voneinander unterscheiden. Diejenigen, auf denen die kochenden Geschöpfe oder die Menschen wachsen, sind viel schöner als die andern, haben große, gerade Äste und fleischfarbene Blätter, und ihre Frucht besteht in Nüssen, die sehr harte Schalen haben und wenigstens sechs Fuß lang sind. Wenn diese reif sind, welches man an der Veränderung ihrer Farbe sehen kann, so werden sie mit großer Sorgfalt gepflückt und so lange, als man es für gut findet, aufgehoben. Will man nun den Samen dieser Nüsse lebendig haben, so wirft man sie in einen großen Kessel kochenden Wassers, und in wenigen Stunden öffnen sich die Schalen, und das Geschöpf springt heraus. / Ihr Geist ist immer schon, ehe sie in die Welt kommen, von der Natur zu einer besondern Bestimmung gebildet. Aus einer Schale kommt ein Soldat, aus einer andern ein Philosoph, aus einer dritten ein Gottesgelehrter, aus einer vierten ein Jurist, aus einer fünften ein Pächter, aus einer sechsten ein Bauer usf.; und jeder fängt sogleich an, sich in der Ausübung dessen, was er vorher bloß theoretisch wußte, vollkommen zu machen. – Der Schale mit Gewissheit anzusehen, was in ihr steckt, ist sehr schwer; doch machte ein lunarischer Theologe zu meiner Zeit mächtigen Lärmen, er sei im Besitze dieses Geheimnisses. Man achtete aber wenig auf ihn und hielt ihn durchgängig für krank. / Wenn die Leute im Monde alt werden, so sterben sie nicht, sondern lösen sich in Luft auf und verfliegen wie Rauch. / Trinken haben sie nicht nötig, denn es finden gar keine Ausleerungen bei ihnen statt, ausgenommen durch das Aushauchen. Sie haben nur einen Finger an jeder Hand, mit dem sie alles tun können, so gut oder noch besser als wir, die wir außer dem Daumen viere haben. / Ihren Kopf haben sie unter dem rechten Arm, und wenn sie auf eine Reise oder an eine Arbeit gehen, bei der sie sich heftig bewegen müssen, so lassen sie ihn gemeiniglich zu Hause; denn um Rat fragen können sie ihn, sie mögen von ihm entfernt sein, so weit sie wollen. Auch pflegen die Vornehmen unter den Mondbewohnern, wenn sie gerne wissen möchten, was unter dem gemeinen Volke vorgeht, nicht unter dasselbe sich zu begeben. Sie bleiben zu Hause, d.h. der Körper bleibt zu Hause und schickt nur den Kopf aus, der inkognito gegenwärtig sein kann und dann nach Gefallen seines Herrn mit der eingezogenen Kundschaft zurückkehrt. / Die Traubenkerne im Monde sind vollkommen unserm Hagel ähnlich, und ich bin fest überzeugt, daß, wenn ein Sturm im Monde die Trauben von ihren Stielen abschlägt, die Kerne darin auf unsere Erde herunterfallen und den Hagel bilden. Ich glaube auch, daß diese meine Bemerkung manchen Weinverkäufern schon lange bekannt sein muß; wenigstens habe ich öfter Wein bekommen, der aus Hagelkörnern gemacht zu sein schien und vollkommen so schmeckte wie der Mondwein. / Einen merkwürdigen Umstand hätte ich bald vergessen. – Der Bauch tut den Leuten im Monde ganz die Dienste, die uns ein Ranzen tut; sie stecken in ihn hinein, was sie nötig haben, und schließen ihn ebenso wie ihren Magen nach Belieben auf und zu; denn mit Gedärmen, Leber, Herz und andern Eingeweiden sind sie nicht beschwert, ebensowenig als mit Kleidern; sie haben aber auch kein Glied an ihrem ganzen Körper, das ihnen die, Schamhaftigkeit zu bedecken geböte. / Ihre Augen können sie nach Gefallen herausnehmen und einsetzen und ebensogut damit sehen, wenn sie in ihrem Kopfe als wenn sie in ihrer Hand sind. Verlieren oder beschädigen sie zufälligerweise eines, so können sie ein anderes borgen oder kaufen und dasselbe so gut gebrauchen als ihr eigenes. Man trifft daher allenthalben im Monde Leute an, die mit Augen handeln; und in dieser einzigen Sache haben alle Einwohner durchaus ihre Grillen; bald sind grüne, bald gelbe Augen Mode. / Ich gestehe, diese Dinge klingen seltsam; aber ich stelle es jedem, der den geringsten Zweifel hat, frei, selbst nach dem Monde zu gehen und sich zu überzeugen, dass ich der Wahrheit so getreu geblieben bin als vielleicht nur wenige andere Reisende.

(Zehntes Seeabenteuer aus dem 1786 erstmals erschienenen Erzählband)

ZUM GEBURTSTAG DES DICHTERS

Über den Autor (1747-1794)

Samstag, 10. Mai 2014

Johann Peter Hebel: Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes

Ein Mann reitet auf seinem Esel nach Haus und lässt seinen Buben zu Fuß nebenherlaufen. Kommt ein Wanderer und sagt: "Das ist nicht recht, Vater, dass Ihr reitet und lasst Euern Sohn laufen; Ihr habt stärkere Glieder." Da stieg der Vater vom Esel herab und ließ den Sohn reiten. Kommt wieder ein Wandersmann und sagt: "Das ist nicht recht, Bursche, dass du reitest und lässest deinen Vater zu Fuß gehen; du hast jüngere Beine." Da saßen beide auf und ritten eine Strecke. Kommt ein dritter Wandersmann und sagt: "Was ist das für ein Unverstand: Zwei Kerle auf einem schwachen Tiere; sollte man nicht einen Stock nehmen und euch beide hinabjagen?" Da stiegen beide ab und gingen selbdritt zu Fuß, rechts und links der Vater und Sohn, und in der Mitte der Esel. Kommt ein vierter Wandersmann und sagt: "Ihr seid drei kuriose Gesellen. Ist's nicht genug, wenn zwei zu Fuß gehen. Geht's nicht leichter, wenn einer von euch reitet?" Da band der Vater dem Esel die vordern Beine zusammen, und der Sohn band ihm die hintern Beine zusammen, zogen einen starken Baumpfahl durch, der an der Straße stand und trugen den Esel auf der Achsel heim. / So weit kann's kommen, wenn man es allen Leuten will recht machen.

(1808 erstmals erschienene Kalendergeschichte "Seltsamer Spazierritt")

ZUM GEBURTSTAG DES ALEMANNISCHEN DICHTERS

Über den Autor (1760-1826)

Freitag, 9. Mai 2014

Friedrich Schiller: Kallias oder über die Schönheit

»Ein Mensch ist unter Räuber gefallen, die ihn nackend ausgezogen und bei einer strengen Kälte auf die Straße geworfen haben.

Ein Reisender kommt an ihm vorbei, dem klagt er seinen Zustand und fleht ihn um Hilfe. ›Ich leide mit dir‹, ruft dieser gerührt aus, ›und gerne will ich dir geben, was ich habe. Nur fordere keine andern Dienste, denn dein Anblick greift mich an. Dort kommen Menschen, gib ihnen diese Geldbörse, und sie werden dir Hilfe schaffen.‹ – ›Gut gemeint‹, sagte der Verwundete, ›aber man muss auch das Leiden sehen können, wenn die Menschenpflicht es fordert. Der Griff in deinen Beutel ist nicht halb soviel wert als eine kleine Gewalt über deine weichlichen Sinne.‹«

Was war diese Handlung? Weder nützlich, noch moralisch, noch großmütig, noch schön. Sie war bloß passioniert, gutherzig aus Affekt.

»Ein zweiter Reisender erscheint, der Verwundete erneuert seine Bitte. Diesem zweiten ist sein Geld lieb, und doch möchte er gern seine Menschenpflicht erfüllen. ›Ich versäume den Gewinn eines Guldens‹, sagte er, ›wenn ich die Zeit mit dir verliere. Willst du mir soviel, als ich versäume, von deinem Gelde geben, so lade ich dich auf meine Schultern und bringe dich in einem Kloster unter, das nur eine Stunde von hier entfernt liegt.‹ – ›Eine kluge Auskunft‹, versetzt der andre. ›Aber man muss bekennen, dass deine Dienstfertigkeit dir nicht hoch zu stehen kommt. Ich sehe dort einen Reiter kommen, der mir die Hilfe umsonst leisten wird, die dir nur um einen Gulden feil ist.‹«

Was war nun diese Handlung: Weder gutherzig, noch pflichtmäßig, noch großmütig, noch schön. Sie war bloß nützlich.

»Der dritte Reisende steht bei dem Verwundeten still und lässt sich die Erzählung seines Unglücks wiederholen. Nachdenkend und mit sich selbst kämpfend steht er da, nachdem der andre ausgeredet hat. ›Es wird mir schwer werden‹, sagt er endlich, ›mich von dem Mantel zu trennen, der meinem kranken Körper der einzige Schutz ist, und dir mein Pferd zu überlassen, da meine Kräfte erschöpft sind. Aber die Pflicht gebietet mir, dir zu dienen. Besteige also mein Pferd und hülle dich in meinen Mantel, so will ich dich hinführen, wo dir geholfen werden kann.‹ – ›Dank dir, braver Mann, für deine redliche Meinung‹, erwidert jener, ›aber du sollst, da du selbst bedürftig bist, um meinetwillen kein Ungemach leiden. Dort sehe ich zwei starke Männer kommen, die mir den Dienst werden leisten können, der dir sauer wird.‹«

Diese Handlung war rein (aber auch nicht mehr als) moralisch, weil sie gegen das Interesse der Sinne, aus Achtung fürs Gesetz unternommen wurde.

»Jetzt nähern sich die zwei Männer dem Verwundeten und fangen an, ihn um sein Unglück zu befragen. Kaum eröffnet er den Mund, so rufen beide mit Erstaunen: ›Er ists! Es ist der nämliche, den wir suchen.‹ Jener erkennt sie und erschrickt. Es entdeckt sich, dass beide ihren abgesagten Feind und den Urheber ihres Unglücks in ihm erkennen und dem sie nachgereist sind, um eine blutige Rache an ihm zu nehmen. ›Befriedigt jetzt euren Hass und eure Rache‹, fängt jener an, ›der Tod und nicht Hilfe ist es, was ich von euch erwarten kann.‹ – ›Nein‹, erwidert einer von ihnen, ›damit du siehst, wer wir sind und wer du bist, so nimm diese Kleider und bedecke dich. Wir wollen dich zwischen uns in die Mitte nehmen und dich hinbringen, wo dir geholfen werden kann.‹ – ›Großmütiger Feind‹, ruft der Verwundete voll Rührung, ›du beschämst mich, du entwaffnest meinen Hass. Komm jetzt, umarme mich und mache deine Wohltat vollkommen durch eine herzliche Vergebung.‹ – ›Mäßige dich, Freund‹, erwidert der andere frostig. ›Nicht weil ich dir verzeihe, will ich dir helfen, sondern weil du elend bist.‹ – ›So nimm auch deine Kleidung zurück‹, ruft der Unglückliche, indem er sie von sich wirft. ›Werde aus mir, was da will. Eher will ich elendiglich umkommen, als einem stolzen Feind meine Rettung verdanken.‹

Indem er aufsteht und den Versuch macht, sich wegzubegeben, nähert sich ein fünfter Wanderer, der eine schwere Last auf dem Rücken trägt. ›Ich bin so oft getäuscht worden‹, denkt der Verwundete, ›und der sieht mir nicht aus wie einer, der mir helfen wollte. Ich will ihn vorübergehen lassen.‹- Sobald der Wandrer ihn ansichtig wird, legt er seine Bürde nieder. ›Ich sehe‹, fängt er aus eignem Antrieb an, ›dass du verwundet bist und deine Kräfte dich verlassen. Das nächste Dorf ist noch ferne, und du wirst dich verbluten, ehe du davor anlangst. Steige auf meinen Rücken, so will ich mich frisch aufmachen und dich hinbringen.‹ – ›Aber was wird aus deinem Bündel werden, das du hier auf freier Landstraße zurücklassen musst?‹ – ›Das weiß ich nicht, und das bekümmert mich nicht‹, sagt der Lastträger. ›Ich weiß aber, daß du Hülfe brauchst und dass ich schuldig bin, sie dir zu geben.‹«

Die Schönheit der fünften Handlung muss in demjenigen Zuge liegen, den sie mit keiner der vorhergehenden gemein hat. / Nun haben: 1. Alle fünf helfen wollen. 2. Die meisten haben ein zweckmäßiges Mittel dazu erwählt. 3. Mehrere wollten es sich etwas kosten lassen. 4. Einige haben eine große Selbstüberwindung dabei bewiesen. Einer darunter hat aus dem reinsten moralischen Antrieb gehandelt. Aber nur der fünfte hat unaufgefordert und ohne mit sich zu Rat zu gehen geholfen, obgleich es auf seine Kosten ging. Nur der fünfte hat sich selbst ganz dabei vergessen und »seine Pflicht mit einer Leichtigkeit erfüllt, als wenn bloß der Instinkt aus ihm gehandelt hätte«. – Also wäre eine moralische Handlung alsdann erst eine schöne Handlung, wenn sie aussieht wie eine sich von selbst ergebende Wirkung der Natur. Mit einem Worte: eine freie Handlung ist eine schöne Handlung, wenn die Autonomie des Gemüts und Autonomie in der Erscheinung koinzidieren.

Aus diesem Grunde ist das Maximum der Charaktervollkommenheit eines Menschen moralische Schönheit, denn sie tritt nur alsdann ein, wenn ihm die Pflicht zur Natur geworden ist.

(Aus dem Brief an Christian Gottfried Körner vom 18. Februar 1793)

ZUM TODESTAG DES DICHTERPHILOSOPHEN

Über den Autor (1759-1805)

Donnerstag, 8. Mai 2014

Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes

Gibt es eine Logik der Geschichte? Gibt es jenseits von allem Zufälligen und Unberechenbaren der Einzelereignisse eine sozusagen metaphysische Struktur der historischen Menschheit, die von den weithin sichtbaren, populären, geistig-politischen Gebilden der Oberfläche wesentlich unabhängig ist? Die diese Wirklichkeit geringeren Ranges vielmehr erst hervorruft? Erscheinen die großen Züge der Weltgeschichte dem verstehenden Auge vielleicht immer wieder in einer Gestalt, die Schlüsse zulässt? Und wenn – wo liegen die Grenzen derartiger Folgerungen? Ist es möglich, im Leben selbst – denn menschliche Geschichte ist der Inbegriff von ungeheuren Lebensläufen, als deren Ich und Person schon der Sprachgebrauch unwillkürlich Individuen höherer Ordnung wie »die Antike«, »die chinesische Kultur« oder »die moderne Zivilisation« denkend und handelnd einführt – die Stufen aufzufinden, die durchschritten werden müssen, und zwar in einer Ordnung, die keine Ausnahme zulässt? Haben die für alles Organische grundlegenden Begriffe, Geburt, Tod, Jugend, Alter, Lebensdauer, in diesem Kreise vielleicht einen strengen Sinn, den noch niemand erschlossen hat? Liegen, kurz gesagt, allem Historischen allgemeine biographische Urformen zugrunde? / Der Untergang des Abendlandes, zunächst ein örtlich und zeitlich beschränktes Phänomen wie das ihm entsprechende des Untergangs der Antike, ist, wie man sieht, ein philosophisches Thema, das in seiner ganzen Schwere begriffen alle großen Fragen des Seins in sich schließt. / Will man erfahren, in welcher Gestalt sich das Schicksal der abendländischen Kultur erfüllen wird, so muss man zuvor erkannt haben, was Kultur ist, in welchem Verhältnis sie zur sichtbaren Geschichte, zum Leben, zur Seele, zur Natur, zum Geiste steht, unter welchen Formen sie in Erscheinung tritt und inwiefern diese Formen – Völker, Sprachen und Epochen, Schlachten und Ideen, Staaten und Götter, Künste und Kunstwerke, Wissenschaften, Rechte, Wirtschaftsformen und Weltanschauungen, große Menschen und große Ereignisse – Symbole und als solche zu deuten sind.

(Aus der Einleitung des 1918 erstmals erschienenen Werks)

ZUM TODESTAG DES GESCHICHTSPHILOSOPHEN

Über den Autor (1880-1936)

Mittwoch, 7. Mai 2014

Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums

Nichts berührt uns in den Evangelien fremder als die Dämonengeschichten, die sich so häufig in ihnen finden und auf welche die Evangelisten ein so hohes Gewicht gelegt haben. Mancher unter uns lehnt jene Schriften schon deshalb ab, weil sie solche unverständige Dinge berichten. Hier ist es nun wichtig zu wissen, daß sich ganz ähnliche Erzählungen in vielen Schriften jener Zeit finden, in griechischen, römischen und jüdischen. Die Vorstellung der „Besessenheit“ war überall eine geläufige, ja sogar die damalige Wissenschaft fasste einen großen Kreis krankhafter Erscheinungen so auf. Eben deshalb aber, weil die Erscheinungen so gedeutet wurden, dass eine böse geistige Macht von dem Menschen Besitz ergriffen habe, nahmen die Gemütskrankheiten Formen an, wie wenn wirklich ein fremdes Wesen in die Seele eingedrungen sei. Das ist nicht paradox. Gesetzt den Fall, unsere heutige Wissenschaft würde erklären, dass ein großer Teil der Nervenkrankheiten aus Besessenheit stamme, und diese Erklärung verbreitete sich durch die Zeitungen im Volke, so würden wir bald wieder zahlreiche Fälle erleben, in denen Gemütskranke wie von einem bösen Geist ergriffen zu sein scheinen und glauben. Die Theorie und der Glaube würden suggestiv wirken und „Dämonische“ genau ebenso unter den Geisteskranken erzeugen, wie sie sie Jahrhunderte, ja Jahrtausende hindurch erzeugt haben. Es ist also ungeschichtlich und töricht, dem Evangelium und den Evangelien eine ihnen eigentümliche Vorstellung oder gar „Lehre“ von den Dämonen und dem Dämonischen zuzuschreiben. Sie nehmen nur an den allgemeinen Zeitvorstellungen teil. Heute begegnen wir diesen Formen der Geisteskrankheiten nur noch selten; ausgestorben sind sie jedoch noch nicht. Wo sie aber auftreten, ist heute noch wie damals das beste Mittel, ihnen zu begegnen, das Wort einer kräftigen Persönlichkeit. Sie vermag den „Teufel“ zu bedrohen, zu bezwingen und so den Kranken zu heilen. In Palästina müssen die „Dämonischen“ besonders zahlreich gewesen sein. Jesus erkannte in ihnen die Macht des Übels und des Bösen, und durch die wunderbare Gewalt über die Seelen derer, die ihm vertrauten, bannte er die Krankheit.

(Aus der Vierten Vorlesung im Wintersemester 1899/1900)

ZUM GEBURTSTAG DES THEOLOGEN

Über den Autor (1851-1930)

Dienstag, 6. Mai 2014

Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen

Vor allen Dingen vergesse man nie, dass die Leute unterhalten, amüsiert sein wollen; dass selbst der unterrichtendste Umgang ihnen in der Länge ermüdend vorkommt, wenn er nicht zuweilen durch Witz und gute Laune gewürzt wird; dass ferner nichts in der Welt ihnen so witzreich, so weise und so ergötzend scheint, als wenn man sie lobt, ihnen etwas Schmeichelhaftes sagt; dass es aber unter der Würde eines klugen Mannes ist, den Spaßmacher, und eines redlichen Mannes unwert, den niedrigen Schmeichler zu machen. Allein es gibt einen gewissen Mittelweg; diesen rate ich einzuschlagen, und da jeder Mensch doch wenigstens eine gute Seite hat, die man loben darf, und dies Lob, wenn es nicht übertrieben wird, aus dem Munde eines verständigen Mannes Sporn zu größerer Vervollkommnung werden kann, so ist das Wink genug für den, der mich verstehn will. / Zeige, so viel du kannst, eine immer gleiche, heitere Stirne! Nichts ist reizender und liebenswürdiger, als eine gewisse, frohe, muntre Gemütsart, die aus der Quelle eines schuldlosen, nicht von heftigen Leidenschaften in Tumult gesetzten Herzens hervorströmt. Wer immer nach Witz hascht, wem man es ansieht, dass er darauf studiert hat, die Gesellschaft zu unterhalten, der gefällt nur auf kurze Zeit und wird bei wenigen Interesse erwecken; er wird nicht aufgesucht werden von denen, deren Herz sich nach besserem Umgange und deren Kopf sich nach sokratischer Unterhaltung sehnt. / Wer immer Spaß machen will, der erschöpft sich nicht nur leicht und wird matt, sondern hat auch die Unannehmlichkeit, dass, wenn er einmal gerade nicht aufgelegt ist, seinen Vorrat von lustigen Kleinigkeiten zu öffnen, seine Gefährten das sehr ungnädig aufnehmen. Bei jeder Mahlzeit, zu welcher er gebeten wird, bei jeder Aufmerksamkeit, die man ihm erweist, scheint die Bedingung schwer auf ihm zu liegen, daß er diese Ehre durch seine Schwänke zu verdienen suchen solle; und will er es einmal wagen, den Ton zu erheben und etwas Ernsthaftes zu sagen, so lacht man ihm gerade in das Gesicht, ehe er mit seiner Rede halb zu Ende ist. Wahrer Humor und echter Witz lassen sich nicht erzwingen, nicht erkünsteln, aber sie wirken, wie das Umschweben eines höhern Genius, wonnevoll, erwärmend, Ehrfurcht erregend.

(Aus dem Ersten Teil des 1788 erschienenen Werks)

ZUM TODESTAG DES AUFKLÄRERS

Über den Autor (1752-1796)