Gibt es eine Logik der Geschichte? Gibt es
jenseits von allem Zufälligen und Unberechenbaren der Einzelereignisse
eine sozusagen metaphysische Struktur der historischen Menschheit, die
von den weithin sichtbaren, populären, geistig-politischen Gebilden der
Oberfläche wesentlich unabhängig ist? Die diese Wirklichkeit geringeren
Ranges vielmehr erst hervorruft? Erscheinen die großen Züge der
Weltgeschichte dem verstehenden Auge vielleicht immer wieder in einer
Gestalt, die Schlüsse zulässt? Und wenn – wo liegen die Grenzen
derartiger Folgerungen? Ist es möglich, im Leben selbst – denn
menschliche Geschichte ist der Inbegriff von ungeheuren Lebensläufen,
als deren Ich und Person schon der Sprachgebrauch unwillkürlich
Individuen höherer Ordnung wie »die Antike«, »die chinesische Kultur«
oder »die moderne Zivilisation« denkend und handelnd einführt – die
Stufen aufzufinden, die durchschritten werden müssen, und zwar in einer
Ordnung, die keine Ausnahme zulässt? Haben die für alles Organische
grundlegenden Begriffe, Geburt, Tod, Jugend, Alter, Lebensdauer, in
diesem Kreise vielleicht einen strengen Sinn, den noch niemand
erschlossen hat? Liegen, kurz gesagt, allem Historischen allgemeine
biographische Urformen zugrunde? / Der Untergang des Abendlandes, zunächst ein örtlich und zeitlich
beschränktes Phänomen wie das ihm entsprechende des Untergangs der
Antike, ist, wie man sieht, ein philosophisches Thema, das in seiner
ganzen Schwere begriffen alle großen Fragen des Seins in sich schließt. / Will man erfahren, in welcher Gestalt sich das
Schicksal der abendländischen Kultur erfüllen wird, so muss man zuvor
erkannt haben, was Kultur ist, in welchem Verhältnis sie zur
sichtbaren Geschichte, zum Leben, zur Seele, zur Natur, zum Geiste
steht, unter welchen Formen sie in Erscheinung tritt und inwiefern diese
Formen – Völker, Sprachen und Epochen, Schlachten und Ideen, Staaten
und Götter, Künste und Kunstwerke, Wissenschaften, Rechte,
Wirtschaftsformen und Weltanschauungen, große Menschen und große
Ereignisse – Symbole und als solche zu deuten sind.
(Aus der Einleitung des 1918 erstmals erschienenen Werks)
ZUM TODESTAG DES GESCHICHTSPHILOSOPHEN
Über den Autor (1880-1936)
ZUM TODESTAG DES GESCHICHTSPHILOSOPHEN
Über den Autor (1880-1936)
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