Mittwoch, 28. Mai 2014

Alfred Adler: Menschenkenntnis

Die Grundlagen der Menschenkenntnis sind derart, dass sie allzuviel Überhebung und Stolz nicht zulassen. Im Gegenteil, wahre Menschenkenntnis muss geeignet sein, eine gewisse Selbstbescheidung eintreten zu lassen, indem sie uns lehrt, dass hier eine ungeheure Aufgabe vorliegt, an der die Menschheit seit den Uranfängen ihrer Kultur arbeitet, ein Werk, dass sie bloß nicht zielbewusst und systematisch angegangen hat, so dass man immer nur einzelne große Menschen auftauchen sieht, die über mehr Menschenkenntnis verfügten als der Durchschnitt. Damit berühren wir einen wunden Punkt. Wenn man nämlich die Menschen unvoreingenommen auf ihre Menschenkenntnis hin prüft, so findet man, dass sie meistens versagen. Wir besitzen alle nicht viel Menschenkenntnis. Das hängt mit unserem isolierten Leben zusammen. Nie dürften die Menschen so isoliert gelebt haben wie heutzutage. Schon von Kindheit an haben wir wenig Zusammenhänge. Die Familie isoliert uns. Auch unsere ganze Art des Lebens gestattet uns keinen so intimen Kontakt mit unseren Mitmenschen, wie er zur Entfaltung einer Kunst, wie es Menschenkenntnis ist, unumgänglich notwendig ist. Denn wir können wieder den Kontakt mit anderen Menschen nicht finden, weil sie uns mangels eines besseren Verständnisses allzulange fremd anmuten. / Die schwerwiegendste Folge dieses Mangels ist die, dass wir in der Behandlung unserer Mitmenschen und im Zusammenleben mit ihnen meist versagen. Es ist eine oft hervorgehobene und empfindliche Tatsache, dass die Menschen aneinander vorübergehen und vorüberreden, den Zusammenschluss nicht finden können, weil sie sich fremd gegenüberstehen, nicht nur im weiteren Rahmen einer Gesellschaft, sondern sogar im engsten Kreis der Familie. Nichts tritt uns öfter entgegen als Klagen von Eltern, die ihre Kinder nicht verstehen, und von Kindern, dass sie von den Eltern nicht verstanden würden. Und doch liegt in den Grundbedingungen des menschlichen Zusammenlebens so viel Zwang, einander zu verstehen, weil unsere gesamte Haltung zum Nebenmenschen davon abhängt. Die Menschen würden viel besser zusammenleben, wenn die Menschenkenntnis größer wäre, weil gewisse störende Formen des Zusammenlebens wegfielen, die heute nur deshalb möglich sind, weil wir einander nicht kennen und so der Gefahr ausgesetzt sind, uns durch Äußerlichkeiten täuschen zu lassen und auf Verstellungen anderer hereinzufallen.

(Aus der Einleitung des erstmals 1927 erschienen Werks)

ZUM TODESTAG DES PSYCHOLOGEN

Über den Autor (1870-1937)

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