Sonntag, 18. Mai 2014

Fanny zu Reventlow: Viragines* oder Hetären

Vielleicht entsteht noch einmal eine Frauenbewegung in diesem Sinn, die das Weib als Geschlechtswesen befreit, es fordern lehrt, was es zu fordern berechtigt ist, volle geschlechtliche Freiheit, das ist, freie Verfügung über seinen Körper, die uns das Hetärentum wiederbringt. Bitte, keinen Entrüstungsschrei! Die Hetären des Altertums waren freie, hochgebildete und geachtete Frauen, denen niemand es übel nahm, wenn sie ihre Liebe und ihren Körper verschenkten, an wen sie wollten und so oft sie wollten und die gleichzeitig am geistigen Leben der Männer mit teilnahmen. Das Christentum hat stattdessen die Einehe und – die Prostitution geschaffen. Letztere ist ein Beweis dafür, dass die Ehe eine mangelhafte Einrichtung ist. In einem Teil der Frauen sucht man von Jugend auf durch die christlich moralische Erziehung das Geschlechtsempfinden abzutöten, oder man verweist sie auf die Ehe mit der Behauptung, dass die Frau überhaupt monogam veranlagt sei. Gleichzeitig richtet man die Prostitution ein, zwingt also den anderen Teil der Frauen, polygam zu sein, damit den Männern geholfen werde, für die wiederum die Ehe unausreichend ist. Der Geschlechtstrieb und seine Befriedigung überhaupt wird als notwendiges Übel hingestellt, dem so oder so abgeholfen oder der gesteuert werden muss. In der Ehe wird er zur Pflicht gestempelt, außerhalb derselben verpönt, oder seine Befriedigung in möglichst unästhetischen Formen, wie unsere heutige staatliche konzessionierte Prostitution, gebracht. So geht mir doch mit der Behauptung, die Frau sei monogam! – Weil ihr sie dazu bringt, ja! Weil ihr sie Pflicht und Entsagung lehrt, wo ihr sie Freude und Verlangen lehren solltet. Weil ihr kein Schönheitsgefühl im Leibe habt. Was ist denn ästhetischer und im wahren Sinne moralischer: wenn ihr euere blühenden Mädchen zu abgestorbenen Gespenstern macht und euere Söhne ins Bordell schickt, oder wenn ihr sie sich miteinander in der Schönheit ihres Lebens freuen lasst? / Gottseidank, unsere christliche Gesellschaftsmoral hat sich mehr wie gründlich überlebt, die letzten Jahrzehnte, die moderne Bewegung, hat die junge Generation etwas von der mutigen Frohheit des Heidentums gelehrt. Wir haben angefangen, die alten Gesetzestafeln zu zerbrechen. / Warum sollte das morderne Heidentum uns nicht auch ein modernes Hetärentum bringen? Ich meine, den Frauen den Mut zur freien Liebe vor aller Welt wiederzugeben. In Frankreich ist man uns in dieser Beziehung, in der erotischen Kultur jedenfalls, weit voraus. Wir Deutschen müssen uns erst das schwere Blut, das kalte nordische Schuldbewusstsein und Verantwortungsgefühl abgewöhnen.

(Aus  dem ursprünglich "Was Frauen ziemt" betitelten, 1899 erschienenen Aufsatz für die "Zürcher Diskussionen")

* Viragines = Mannweiber

ZUM GEBURTSTAG DER SCHWABINGER GRÄFIN

Über die Autorin (1871-1918)

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