Montag, 19. Mai 2014

Rahel Varnhagen von Ense, geb. Levin: Briefe

Diesen Mittag bei Tische nahm Markus [ältester Bruder, 21 Jahre alt] die Kinder [jüngere Geschwister] in großes Verhör, weil er wirklich eine große Unart gefunden hatte, nämlich den Namen Levin oben in meinem Flur auf die Wand geschmiert. Röschen [12] sagte frei und lachend: "Ich war es nicht"; Ludwig [15] ebenso: "Ich auch nicht"; nur Moritz [8] leugnete, der sagte nämlich: "Ich hab' ja gar kein Bleistift" und dabei blieb er; das antwortete er wohl sechzehn- bis siebzehnmal, auf jede Frage, die nun in die Kreuz und Quere wie ein wirkliches Verhör und mit Verstand ihn ängstigend von allen Seiten hin und her getan wurden; seine Farbe zeugte wider ihn, aber selbst das Rotwerden unterdrückte er und blieb recht hübsch dabei: "Ich hab' ja kein Bleistift". Er hatte es nun endlich so gut wie gestanden, und obgleich ein Flor von Spaß über der ganzen Geschichte war, so wollten sie ihn doch zum völligsten Geständnis ängstigen; so sagt' ich [22]: "Nun gestehen kann er's doch nun nicht, genug, dass er's geleugnet hat." Das gefiel mir sehr. Kaum hatt' ich die Worte gehört, so musst' ich selbst entsetzlich lachen. (Sagen Sie mir, wie kann ich selbst lachen? Ich dachte sie doch erst, eh' ich sie sagte! Nun ja! Der Klang! –) Es gingen noch sehr hübsche Dinge bei der Geschichte vor, zuletzt wie er es denn wirklich gestanden hatte, so sagte Mama: "Man leugnet nicht, man sagt lieber, ich war's und ich habe nicht gewusst, dass es unrecht ist, nun werd ich's nicht mehr tun"; darauf sagt er ganz bieder: "Ich habe erst sehen wollen, ob's so geht." Überhaupt hat er recht hübsch geleugnet; Sie hätten's sehen sollen. Ich habe dabei viel gelacht; auch mäßigte ich das Verhör so viel als möglich [...]. – Warum verbietet man den Kindern so ausdrücklich Leugnen und Ausreden, die man (zwar leider! aber) doch braucht? Man erzieht sie ja für den Tummel der Welt, und nicht für einen positiven Himmel, der ein rotes Herz und unbeflecktes Gewissen genau belohnt.

(Aus Berlin am 18.2.1794 an David Veit; zitiert bei Hannah Arendt: Rahel Varnhagen)

ZUM GEBURTSTAG DER SALONNIÈRE

Über die Autorin (1771-1833)

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