Samstag, 31. Mai 2014

Ludwig Tieck: Denkwürdige Geschichtschronik der Schildbürger

Man zählt die Poesie zwar zu den brotlosen Künsten, doch unterließ man es nicht, großes Interesse an ihr zu nehmen. Ohne Zweifel ist es auch nur den Barbaren vergönnt, die Künste zu verachten und sie nicht auszubilden; dies sahen auch die Schildbürger sehr wohl ein, und darum taten sie auch weislich das Gegenteil. Da aber dieses Studium viele Zeit erfordert und es auch einigermaßen beschwerlich ist, sich damit einzulassen, so hatte man auch hierin Leute angestellt, die den übrigen Bürgern sagten, was sie von diesem und jenem Buche zu halten hätten. Diese Einrichtung gefiel den Einwohnern ungemein und sie übten sich daher so lange darin, bis sie es dahin brachten, dass sie es gar nicht mehr nötig hatten, die Werke selbst zu lesen, sondern sie erholten sich nur bei denen Rats, die sie in ihrem Namen beurteilten. Daher kam auch die wunderliche Sitte, daß es jedem öffentlichen Beurteiler erlaubt war, sich gleich den Königen und Fürsten in seinen Briefen Wir zu schreiben, weil jeder fest überzeugt sein konnte, dass er immer im Namen von tausend andern spreche. So brachten manche Leute ihre ganze Zeit damit zu, über Bücher zu sprechen, ohne selbst nur ein einziges Buch zu lesen, und die Beurteiler wurden in ihrer Kunst so perfekt, dass sie es auch am Ende unterließen.

(Aus dem Kapitel "Von der Verfassung, der Religion, der Philosophie der Schildbürger; Zustand der Künste und Wissenschaften" des erstmals 1798 erschienenen Werks)

ZUM GEBURTSTAG DES ROMANTIKERS

Über den Autor (1773-1853

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