Man zählt die Poesie zwar zu den
brotlosen Künsten, doch unterließ man es nicht, großes Interesse an ihr
zu nehmen. Ohne Zweifel ist es auch nur den Barbaren vergönnt, die
Künste zu verachten und sie nicht auszubilden; dies sahen auch die
Schildbürger sehr wohl ein, und darum taten sie auch weislich das
Gegenteil. Da aber dieses Studium viele Zeit
erfordert und es auch einigermaßen beschwerlich ist, sich damit
einzulassen, so hatte man auch hierin Leute angestellt, die den übrigen
Bürgern sagten, was sie von diesem und jenem Buche zu halten hätten.
Diese Einrichtung gefiel den Einwohnern ungemein und sie übten sich
daher so lange darin, bis sie es dahin brachten, dass sie es gar nicht
mehr nötig hatten, die Werke selbst zu lesen, sondern sie erholten sich
nur bei denen Rats, die sie in ihrem Namen beurteilten. Daher kam
auch die wunderliche Sitte, daß es jedem öffentlichen Beurteiler
erlaubt war, sich gleich den Königen und Fürsten in seinen Briefen Wir
zu schreiben, weil jeder fest überzeugt sein konnte, dass er immer im
Namen von tausend andern spreche. So brachten manche Leute ihre ganze
Zeit damit zu, über Bücher zu sprechen, ohne selbst nur ein einziges
Buch zu lesen, und die Beurteiler wurden in ihrer Kunst so perfekt, dass
sie es auch am Ende unterließen.
(Aus dem Kapitel "Von der Verfassung, der Religion, der Philosophie der Schildbürger; Zustand der Künste und Wissenschaften" des erstmals 1798 erschienenen Werks)
ZUM GEBURTSTAG DES ROMANTIKERS
Über den Autor (1773-1853
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