Der Kurierzug war angekommen; Omnibusse standen bereit, die
Aussteigenden nach den Gasthöfen der kleinen Hafenstadt zu bringen; aber
es war erst Mitte Mai, der Zuzug nach dem nahegelegenen, vielbesuchten
Ostseebade hatte noch nicht begonnen und beinahe leer rasselten die
Wagen nach der Stadt zurück. / In einem derselben, der die Aufschrift "Zum goldenen Anker" trug,
saßen nur zwei Damen in Trauer. Die ältere, eine zarte Gestalt mit
feinem, blassem Gesicht, lehnte sichtlich erschöpft zwischen
Plaidbündeln und Reisetaschen, während die jüngere, ein schönes, blondes
Mädchen, bald rechts, bald links aus dem Fenster sah. Endlich wendete
sie sich zu ihrer Gefährtin und sagte: / "Mütterchen, sieh nur, wie hübsch es hier ist – wie still und
freundlich: so recht zum Gesundwerden. Ganz heimisch musst du dich hier
fühlen." / Die blasse Frau fuhr auf. / "Heimisch fühlen!" wiederholte sie, und in die mattblauen Augen kam ein Ausdruck der Angst; "was willst du damit sagen?" / "Mein armes Mütterchen, wie nervös du noch immer bist!"
antwortete das junge Mädchen, indem sie sich vorbeugte und die Hand der
Mutter liebkosend zwischen ihre beiden Hände nahm. "Ich meinte nur, die
breiten Straßen mit den kleinen, weißen Häusern, vor denen hin und
wieder Bäume stehen, müssten dich an unsere Wohnung in Hoboken erinnern." / "Ja, es ist möglich ... du kannst recht haben, liebe Käthe",
sagte die Mutter und warf einen zerstreuten Blick aus dem Wagenfenster;
dann zog sie den Schleier herunter und sank mit einem Seufzer in ihre
frühere Stellung zurück. / Die
Tochter sah sie bekümmert an; aber jetzt bog der Wagen um die
Straßenecke auf einen Platz, der, an drei Seiten von Häusern
umschlossen, an der vierten vom Hafen begrenzt war. Ein Gewirr von
Masten zeichnete sich auf dem Goldgrunde des Abendhimmels ab. / Käthe brach in einen Freudenruf aus: "Das Meer! dort drüben ist
das Meer!" sagte sie. "Wie lange haben wir es entbehren müssen! ...
Sieh, dort kommen Fischerboote nach Haus ... und das Schiff da drüben
macht sich bereit, in See zu stechen – hörst du, wie die Matrosen
singen? – Und hier steht ein ganzer Trupp Teerjacken beisammen.
Mütterchen, wie glücklich bin ich, dich hier zu haben und dem düstern
Berlin entronnen zu sein!" / Der Wagen hielt vor einem alten Hause, durch dessen Einfahrt ein
winkliger, nicht allzu saubrer Hof sichtbar wurde. Ein Kellner stürzte
herbei, den Damen beim Aussteigen zu helfen. / "Die für Mrs. Brown bestellten Zimmer", sagte das junge Mädchen,
bot der Mutter den Arm und führte sie sorgsam die schmale, knarrende
Holztreppe hinauf und über einen Gang, an dessen Ende der Kellner ein
Zimmer mit altmodisch dürftiger Einrichtung öffnete. Dumpfige Luft
schlug den Eintretenden entgegen. / "Liebe Mutter, hier kannst du nicht wohnen!" rief Käthe, und zu
dem Kellner gewendet, fügte sie vorwurfsvoll hinzu: "Ich habe gute
Zimmer bestellt!" / "Zu dienen, es sind unsere besten", gab er in gereiztem Tone zur
Antwort. "Gnädige Frau wollen sich gefälligst überzeugen: Mittelsalon,
Schlafzimmer rechts und links, ausgezeichnete Betten, Federmatratzen
..." / "Schon gut, lassen Sie das Gepäck heraufbringen", fiel die ältere
Dame ein, und während sich der Kellner mit unmutigem
Serviettenschwenken entfernte, sank sie in die Sofaecke, zog fröstelnd
ihr Tuch um die Schultern und sah mit starren Augen wie ratlos umher. / Die Tochter, die inzwischen beide Fenster geöffnet und den Platz,
auf den sie hinausgingen, mit raschem Blick überflogen hatte, trat an
ihre Seite. / "Du
fühlst dich hier unbehaglich, liebe Mutter", sagte sie; "es soll nicht
lange dauern; morgen quartieren wir uns um. Dort drüben steht ein neues,
stattliches Hotel ... wie bist du nur dazu gekommen, dies elende
Wirtshaus zu wählen? – 'Zum goldenen Anker' – es klingt gleich nach dem,
was es ist." / "Zu meiner Zeit war es das beste", gab die Mutter zerstreut zur Antwort. / "Zu deiner Zeit!" wiederholte das junge Mädchen. "Du bist schon hier gewesen? – warum hast du mir das nie gesagt?" / "Liebe Käthe, quäle mich nicht mit Fragen", fiel die Mutter
ungeduldig ein. "Lass Tee bringen und packe das Nötige aus, so dass ich
mich gleich zurückziehen kann." / Käthe gehorchte. Nach kurzer Zeit war der Teetisch serviert; die
Mutter rührte die Speisen kaum an. Bald saß sie in sich
zusammengesunken, wie in Gedanken verloren; bald sah sie mit unruhigen
Blicken umher, und die Hände griffen nach diesem und jenem. Plötzlich
stand sie auf. / "Ich möchte mich niederlegen", sagte sie; "aber was fange ich mit dir an? Hast du etwas zu lesen?" / "Sorge dich nicht um mich, ich werde schreiben", antwortete das
junge Mädchen. "Martins haben gebeten, ihnen gleich Nachricht zu geben,
wie du die Reise überstanden hast." / Die Mutter zog die Brauen zusammen. / "Liebe Käthe", sagte sie, "ich habe natürlich nichts dagegen, dass
du den Wunsch der guten Leute erfüllst, aber zu einer fortgesetzten
Korrespondenz zwischen euch möchte ich es nicht kommen sehen. Die Frau
eines Subalternbeamten, die möblierte Zimmer vermietet, ist kein Verkehr
für dich." / Käthe sah die Mutter mit großen, erstaunten Augen an. / "Ich bin der Frau so sehr, sehr viel Dank schuldig", sagte sie. "Was hätte ich in dem wildfremden Berlin ohne ihre Hilfe angefangen? Wie
manche Nacht hat sie an deinem Bette mit mir gewacht, wie unermüdlich
für uns beide gesorgt ..." / "Ja, ja,
das alles weiß ich", fiel die Mutter ein; "ich habe mich auch nach
Kräften dankbar bewiesen ... du magst hin und wieder schreiben, wenn es
dir Bedürfnis ist ... was ich wünsche, ist nur ... wir sind nun einmal
nicht mehr in Amerika, wo Schuster und Schneider zu den höchsten
Staatsämtern gelangen können. Die verschiedenen Rangklassen sind
hierzulande scharf abgegrenzt." / "Aber warum sollen wir uns danach richten?« rief Käthe, indem sie
mit einer ihr eigenen stolzen Bewegung den Kopf erhob. »Wir gehören ja
doch in keine dieser Rangklassen hinein." / Die Mutter wechselte die Farbe. / "Was willst du damit sagen?" fragte sie gereizt. "Wozu sind wir
denn herübergekommen? – Glaubst du etwa, daß wir deines Vaters Wunsch
und Absicht erfüllen, wenn wir uns damit begnügen, auf deutschem Boden
zu stehen? – Unsern Verwandten haben wir uns anzuschließen, haben
Rücksicht zu nehmen auf ihre Position ..."
"Mütterchen, Mütterchen, rege dich nicht so auf!" bat die
Tochter. "Du machst dich wieder krank. Ich habe dich nicht erzürnen
wollen und werde gewiss alles tun ..." / "Nun, so fange damit an, in deinen Freundschaften exklusiver zu
sein", fiel ihr die Mutter ins Wort, indem sie dem Schlafzimmer zuging. "Gute Nacht!" fügte sie, über die Schwelle tretend, in milderem Tone
hinzu, wies Käthe, die ihr folgen wollte, mit einer Handbewegung zurück,
schloss die Tür und schob den Riegel vor. / Bestürzt blieb Käthe einen Augenblick stehen. Nie war die Mutter
so heftig und ungerecht gewesen. Auf Verwandte sollte Käthe Rücksicht
nehmen, von deren Dasein und Lebensstellung sie nie gehört hatte, und
exklusiver in ihren Freundschaften sollte sie sein! Wusste denn die
Mutter nicht, dass sie von Kindheit an nur einen Freund und Vertrauten
gehabt hatte, den Vater, der vor acht Monaten gestorben war? / Sie setzte sich an das offene Fenster und sah in den
verglimmenden Abendschein hinaus. Die Herzenseinsamkeit, in der sie des
Vaters Tod zurückgelassen hatte, kam
ihr zum Bewusstsein, wie lange nicht, denn in der Sorge um die kranke
Mutter hatte sie seit Wochen und Monaten sich selbst vergessen. Nun
drangen Sehnsucht und Erinnerung um so mächtiger auf sie ein. Sie sah
des Vaters edle Züge wieder, das gütige, vertrauenerweckende Lächeln,
die geistsprühenden Augen. Sie rief sich zurück, wie er sie, solange sie
denken konnte, geistig und körperlich behütet hatte, wie er sie mehr
und mehr an seinem inneren Leben teilnehmen ließ und sie endlich seinen "guten Kameraden" zu nennen pflegte.
(Anfang der 1882 im Sammelband "Vom Webstuhl der Zeit" erschienenen Novelle)
ZUM TODESTAG DER "1848ERIN"
Über die Autorin (1825-1906)
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