Dienstag, 13. Mai 2014

Helene Lange: Frauenwahlrecht

Es ist der Gedanke Camille Sées [des französischen Bildungspolitikers]: "Von den Frauen hängt die Größe und der Verfall der Nationen ab", und in der Tat ist hier das erlösende Wort gesprochen. Denn der rein männliche Staat in seiner starren Einseitigkeit hat sich eben nicht bewährt. In dieser Überzeugung kann uns Frauen keine "Belehrung" erschüttern, und sei sie noch so sehr von oben herab, im deutschen Professorenton gehalten. Wir stehen an einem geschichtlichen Abschnitt. Dem Gemeinschaftsleben strömen neue, bisher anderweitig nötige, durch den gewaltigen Umschwung innerhalb unseres Jahrhunderts aber frei gewordene Kräfte zu: Die Frau will ihren Anteil an der Kulturarbeit leisten. Und der Weg muss ihr geebnet werden eben um des Wohls der Gesamtheit willen. / Nicht als ob die Frauen den Himmel auf Erden schaffen werden. Sie sind, als Gesamtheit genommen, nicht vollkommener als die Männer. Sie sind nur anders; sie ergänzen den Mann. Sie haben den Instinkt der Mutterschaft und die unmittelbarere Fühlung mit der Natur, und das ist es, was die Welt im Augenblick braucht. Und der Unterschied zwischen einem Gemeinschaftsleben, auf das nur Männer einwirken, und einem solchen, in dem Männer und Frauen – vielleicht in einer später zu vereinbarenden Welt der Arbeitsteilung – zusammenwirken, ist derselbe wie der zwischen einem Hause, in dem nur ein redlich wollender Vater, und einem, in dem neben ihm eine redlich wollende Mutter waltet. Denn das Wort, das einst Lady Henry Somerset als Motto über ihr Frauenstimmrechtsblatt setzte, ist wahr: "The women's movement is organised mother love." Diese Mutterliebe, deren die verarmte Welt so dringend bedarf, kann nur die Frau ihr geben, – es ist müßig, im einzelnen ausführen zu wollen, in welcher Weise – Gefängnisse und Waisenhäuser, Schulen und Hospitäler harren ihrer, und der Unrat, der unser Leben befleckt und den Menschen an der Wende des 20. Jahrhunderts oft unter das Tier stellt, wird nur ihrer Hand weichen. Denn unzweifelhaft finden die rein sinnlichen Instinkte in ihr die natürliche Gegnerin.

(Aus einem Artikel der Zeitschrift Cosmopolis, Paris 1896)

ZUM TODESTAG DER FRAUENRECHTLERIN

Über die Autorin (1848-1930)

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