Donnerstag, 15. Mai 2014

Arthur Schnitzler: Sterben

Die Dämmerung nahte schon, und Marie erhob sich von der Bank, auf der sie eine halbe Stunde lang gesessen hatte, anfangs in ihrem Buche lesend, dann aber den Blick auf den Eingang der Allee gerichtet, durch die Felix zu kommen pflegte. Sonst ließ er nicht lange auf sich warten. Es war etwas kühler geworden, dabei aber hatte die Luft noch die Milde des entschwindenden Maitages. / Es waren nicht mehr viel Leute im Augarten, und der Zug der Spaziergänger ging dem Tore zu, das bald geschlossen werden musste. Marie war schon dem Ausgange nahe, als sie Felix erblickte. Trotzdem er sich verspätet hatte, ging er langsam, und erst, wie seine Augen den ihren begegneten, beeilte er sich ein wenig. Sie blieb stehen, erwartete ihn, und wie er ihr lächelnd die Hand drückte, die sie ihm lässig entgegengestreckt hatte, fragte sie ihn mit sanftem Unmut im Ton: "Hast du denn bis jetzt arbeiten müssen?" Er reichte ihr den Arm und erwiderte nichts. "Nun?" fragte sie. "Ja, Kind", sagte er dann, "und ich habe ganz vergessen, auf die Uhr zu sehen." Sie betrachtete ihn von der Seite. Er schien ihr blässer als sonst. "Glaubst du nicht", sagte sie zärtlich, "es wäre besser, du würdest dich jetzt ein bisschen mehr deiner Marie widmen? Lass doch auf einige Zeit deine Arbeiten. Wir wollen jetzt mehr spazieren gehen. Ja? Du wirst von nun ab immer schon mit mir vom Hause fort." / "So ..." / "Ja, Felix, ich werde dich überhaupt nicht mehr allein lassen." Er sah sie rasch, wie erschreckt an. "Was hast du denn?" fragte sie. / "Nichts!" / Sie waren am Ausgange angelangt, und das abendliche Straßenleben schwirrte heiter um sie. Es schien über der Stadt etwas von dem allgemeinen unbewussten Glücke zu liegen, das der Frühling über sie zu breiten pflegt. "Weißt du, was wir tun könnten", sagte er. "Nun?" "In den Prater gehen." / "Ach nein, neulich war es so kalt unten." / "Aber sieh'! Es ist beinahe schwül hier auf der Straße. Wir können ja gleich wieder zurück. Gehen wir nur!" Er sprach abgebrochen, zerstreut. / "Ja, sag', wie redest du denn, Felix?" / "Wie?" ...
"Woran denkst du denn? Du bist ja bei mir, bei deinem Mädel!" / Er sah sie an mit starrem, abwesendem Blicke. / "Du!" rief sie angstvoll und drückte seinen Arm fester.

(Anfang der 1892 erschienenen Novelle)

ZUM GEBURTSTAG DES DICHTERS

Über den Autor (1862-1931)

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