Ich bin das Lieschen, das am Brunnentrog
Einst des Gespräches mit dem Gretchen pflog.
Erinnert euch, wie sie aus meinem Munde
Vom Bärbelchen vernahm die schlimme Kunde.
Weil ich nun damals so moralisch sprach,
Ließ mir der Herr in seiner großen Gnade
Des Fegefeuers heiße Qualen nach
Und läutert mich auf minder hartem Pfade.
Er wählte mich nach meines Lebens Endung
Zu sonderlich bedeutungsvoller Sendung,
Ernannte mich zu hochgewicht'ger Stelle:
Im Himmelsvorraum, an der heil'gen Schwelle
Darf ich als Fausti Seelenfreundin leben,
Bis wir gereift, ins Heiligtum zu schweben.
Das arme Gretchen, das zu hart gebüßt:
Ihr ist jedwede Läuterung erlassen,
Als sel'ger Geist ward sie schon längst begrüßt
Im sel'gen Kreis, den keine Worte fassen,
Sie wohnt in der Verklärten Sitz
Zu hoch für eines Dichters Witz.
Vernehmet nun, was ich getreu berichte
Von Doktor Fausts seitheriger Geschichte.
Als er zum Himmelseingang ward erhoben,
Erklang ein Ruf posaunenhaft von oben:
»Es hat nicht ohne Recht
Der Kritiker Geschlecht,
Voran der Geist, der stets verneint
Und stets als ihr Regent erscheint,
Den scharfen Einwand vorgebracht,
Der viele Leser stutzig macht,
Der Geisterwelt präsentes edles Glied,
Nicht ganz so strebend hab' es sich bemüht,
Als nötig, es zu retten
Aus Satans Ketten;
Darum ward resolvieret,
Wird hiemit dekretieret:
Faust soll vorerst dahüben
Noch eine Zeit sich üben,
Soll zur Erinnrung an sein Amt auf Erden
Im mystischen Vorraum vor dem höchsten Himmel
Bei sel'ger Knaben munterem Gewimmel
Präzeptor werden!
Dies soll mit gewissen Entbehrungen,
Mit prüfenden Erschwerungen,
Mit Lockungen, die wir nach unserem Plan
Dem Satan selbst bewilligt han,
Verbunden sein!
Und obendrein
Erfolgen dann weitere Übungen,
Versuchende heilsame Trübungen,
Zum Schluß ein läuternder Prozeß,
Was noch verhüllt bleibt unterdes.
Dies soll ergehn über unsern Knecht!
Conclusum! Vidit! Es ist recht.« –
Erlaubt, daß ich hier nebenbei bemerke,
Ein Wink in Goethes eignem Dichterwerke
Sei als Motiv, worauf der Spruch sich stützt,
Vom höchsten Consistorium benützt:
Da Fausti Seele – freilich fast zu prompt –
Mit Engelpost zur Himmelspforte kommt,
Im Puppenstande zwar zunächst,
Dann aber reißend schnelle wächst,
So singen dort die sel'gen Knaben –
Ihr werdet's ja gelesen haben
Und kennt den pädagogisch schönen Text:
»Er überwächst uns schon
An mächtigen Gliedern,
Wird treuer Pflege Lohn
Reichlich erwidern.
Wir wurden früh entfernt
Von Lebechören,
Doch dieser hat gelernt,
Er wird uns lehren.«
Was nun das himmlische Dekret
Unter den Prüfungen versteht,
Die an den neuen Stand sich knüpfen
Nebst andern, die dann weiter folgen sollen:
Laßt nur das Drama weiter hüpfen,
So wird sich alles euch entrollen.
Ich melde jetzt – ihr werdet es verlangen –
Genauer, was mit mir ist vorgegangen.
Nicht fern von diesem himmelnahen Ort
Steht ein Gebäude, edler Bildung Port,
Ein Institut, Feld für Erziehungssaat,
Vorhimmlisches Töchterpensionat,
Wo man das Herz sowohl als auch den Geist
Im Guten, Wahren, Schönen unterweist.
Da wird der Sinn geseiet und gesichtet,
Im deutschen Stil, in Logik und Musik,
Literatur, Kritik sowie Physik,
Vor allem in der Unschuld unterrichtet.
»Religion für Töchter« war die Blume
Des Unterrichts. Des Herrn Direktors Muhme
Trug sie uns vor; wie tief und klar,
Ich vergeß es nie!
Ihr schöner Standpunkt war
Gemäßigt freisinnige Theologie. –
Manch Gröbliches, was mir vom alten Stande
Noch anhing, tat mir ab die Gouvernante.
Wahr ist es leider, daß ich gerne klatschte,
Wenn ich mit andern zu dem Brunnen patschte;
Weit hinter mir mit Gelte und mit Krug
Liegt jetzo dieser lasterhafte Zug.
Ich reifte, machte mein Examen,
Und als den Faust hieher die Engel nahmen,
Ward ich als Hausverwalterin,
Als weise Unterhalterin,
Als Warnerin, als Mahnerin,
Vollkommenheitsanbahnerin
Dem Waller nach dem Himmelszelt
In Gnaden beigesellt.
Doch ob der Anstalt zu Herrn Doktors Essen
Hätt' ich noch einen Hauptpunkt fast vergessen.
Der gute Valentin! Da muß ich nun
Vom Bärbelchen zugleich Erwähnung tun:
Der Valentin, kein andrer, war ihr Schatz,
Ein Leichtfuß schien er mir, ein Flatterspatz;
Ich sprach: »Er ist ein flinker Jung,
Hat anderwärts noch Luft genung.«
Wie unrecht! Er war treu! Allein er fiel,
Und Treu und Leben fand ein frühes Ziel.
Und als zu ihr die Trauerkunde kam,
Sie trug es nicht, die Arme starb vor Gram.
Doch ihm und ihr war für so schweres Leid
Entschädigung von seltner Art bereit:
Er durfte hier am Rand der Himmelshallen
Für müde Pilger, die zum Gipfel wallen,
Ein Wirtshaus, eine Brauerei errichten,
Wohin zur Labung kurze Zeit sie flüchten.
Die Bärbel kocht, er schenkt, und alle Gäste
Befinden sich, so hört man, auf das beste.
Jedoch für meinen guten Faust,
Der hier so friedlich mit mir haust,
Ist dieser Umstand keine Kleinigkeit.
Warum? Die Antwort ist bereit,
Der nächste Auftritt bringt sie schon
Mit mächtiger Sensation.
Hiemit sind dann die Proben eingeläutet,
Die jener Ausspruch dunkel angedeutet.
Ach Gott, mir ist es angst und bang
Vor dem geahnten Sturm und Drang!
Doch schimmert Licht des Trostes in die Nacht,
Ein Himmelsbote hat es überbracht:
Es ist ein milder Zusatzparagraph
Zum strengen Machtwort, das den Teuren traf:
Der Valentin, der handfest tücht'ge Klopfer,
Auf Erden einst des Fausti blut'ges Opfer,
Jetzt christlich ihm versöhnt nach Möglichkeit,
Soll ihm zur Hülfe, wenn die schwersten Proben
Ihn etwan aus dem Gleichgewicht geschoben,
Mit seiner Muskel Boxkraft sein bereit.
Seht hier die Klingel: kommt's zu schwer,
So darf ich ziehn und er eilt her.
Genug, es ist des Mittagessens Hora,
Euch grüßt des Schauspiels Chorus oder Chora.
(Beginn des 1862 erschienenen satirischen Theaterstücks)
ZUM GEBURTSTAG DES LITERATURWISSENSCHAFTLERS
Über den Autor (1807-1887)
Montag, 30. Juni 2014
Sonntag, 29. Juni 2014
Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie
Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, Beiträge zu einer Kritik der Sprache zu geben, halte ich nach wie vor für die wichtigste Aufgabe der Erkenntnistheorie. Ich weiß, dass dieses Pensum über die Kraft eines Menschen geht, eigentlich über die Kraft
des Menschen. Ich muss zufrieden sein, entscheidende Anregungen für
diese neue Disziplin geboten zu haben. Ich kann in diesem Wörterbuch
nicht noch einmal abdrucken, was ich in meiner »Kritik der Sprache« auf mehr als 2000 Seiten vorgetragen habe: über die Psychologie der Sprache, über die
Sprachwissenschaft, über das Verhältnis der Sprache zur Grammatik und
Logik; ich kann nicht noch einmal drucken lassen, was ich in dem kleinen
Buche »Die Sprache« über das Verhältnis der Sprache zur sog.
Völkerpsychologie ausgeführt habe. Auch was ich in den letzten zehn
Jahren (seit dem Erscheinen meiner Sprachkritik) hinzugelernt habe, das
darzustellen, würde noch weit über die Ausdehnung eines der Stücke
dieses Buches hinausgehen. Einzelne mir wichtig erscheinende Ergänzungen
findet man überall, besonders in den Artikeln: adjektivische, substantivische und verbale Welt. Das Verhältnis zwischen Denken und Sprechen ist gründlicher dargestellt in der dritten Auflage des I. Bandes meiner »Kritik der Sprache« (S. 230 ff.). / Recht
viel hätte ich allerdings zu sagen, und zur Sache, wenn ich darüber
berichten wollte, wie sich die Gelehrten-Republik – die wie andere große
Republiken die Interessen der Führer für Interessen des Ganzen
erklärt und zu schützen sucht – zu meinen sprachkritischen Gedanken
(einzelne Forscher abgerechnet) gestellt hat. Ich wäre aber nicht
ehrlich, wenn ich über diese Erfahrung
im Tone grimmiger Bitterkeit reden wollte. Ich freute mich ja des
Erfolges: dass mir liebe Schriftsteller und Dichter einige Ideen meiner
Sprachkritik zu den ihren gemacht haben; dass einige Sprachforscher und
Philosophen, also die Leute, die es angeht, nachweisbar manche Anschauungen
nach meiner Sprachkritik korrigiert haben. Dass diese gelehrten Herren
meinen Namen gern verschweigen, mag unerfreulich sein für sie selbst,
ist mir aber nur nützlich. Was meine kleine Eitelkeit dabei verliert, das gewinnt zwiefach mein großer Stolz. / Es kommt auch vor, dass ein besonders korrekter Gelehrter zwar die Sprachkritik als eine neue Disziplin anerkennt, meine
Sprachkritik aber der öffentlichen Verachtung preisgibt. Zum Ergötzen
meiner Leser will ich einen solchen Fall höher hängen. Herr O. Dittrich
sagt in seinen »Grundzügen der Sprachpsychologie« (I, S. 63), die
eigentliche Domäne der Sprachphilosophie bleibe immer die Sprachlogik, -ethik(?) und -ästhetik, sowie die Sprachkritik, fügt aber in einer Anmerkung hinzu: »Mit der rein negativen Kritik, wie sie F. Mauthner in seinen dreibändigen Beiträgen zu einer Kritik
der Sprache auf Grund ebenso unvollkommener sprachwissenschaftlicher
wie psychologischer und philosophischer Kenntnis geliefert hat, dürfen die oben gemeinten Bestrebungen
natürlich nicht verwechselt werden.« Natürlich nicht! Man muss doch
zwischen meiner falschen Sprachkritik und der richtigen unterscheiden! / Nun hat es aber vor meinen »Beiträgen« irgend ein
Buch, das auch nur entfernt so etwas wie eine Disziplin der Sprachkritik
gelehrt hätte, nicht gegeben; ja sogar die Wortfolge »Kritik
der Sprache« war nur sehr selten gebraucht worden, die Stellen waren
völlig unbeachtet geblieben, bis ich in den historischen Exkursen meines
Buches auf sie hingewiesen hatte. Ich kann den Herren (in ihrem
Interesse) nur den Rat geben, für die neue Disziplin einen andern Namen
als »Kritik
der Sprache« zu erfinden, wenn sie meine Arbeit gar nicht mehr genannt
wissen wollen. Es war ja auch ein deutscher Buchhändler, der auf den
hübschen Einfall kam, das neu entdeckte Amerika nach dem fleißigen Schreiber Amerigo
Vespucci zu nennen, anstatt nach dem unzünftigen Kolumbus. Herr O.
Dittrich, dessen Lebensaufgabe es bisher war, seinen Meister Wundt recht
oft »epochemachend« zu nennen, wäre der rechte Mann für eine solche
Namensfindung. Man entschuldige den Scherz: ungerechtes Urteil macht
hochmütig.
(Artikel "Sprachkritik" in dem 1923 erweitert erschienenen Nachschlagewerk)
ZUM TODESTAG DES PHILOSOPHEN
Samstag, 28. Juni 2014
Otto Julius Bierbaum: Eine empfindsame Reise im Automobil
Wenn jemand eine Reise tut, / So kann er was erzählen / sagt
Herr Urian, und ich füge hinzu: er kann’s nicht bloß, er will’s meist
auch. Das Erzählen in langen und breiten Briefen aber, wie und es hier
verübt habe, ist im allgemeinen aus der Mode gekommen. Erstens wohl,
weil das Reisen nichts weiter besonderes mehr ist, dann, weil man heute
überhaupt nicht mehr gerne lange Briefe schreibt, und schließlich, weil
es überall Ansichtspostkarten gibt. Wenn ich trotzdem diese Briefe
geschrieben und mich sozusagen in einen gewissen Gegensatz zu meinen
Zeitgenossen gebracht habe, so ist dies nicht lediglich aus der bösen
Lust am Andersmachen zu erklären, sondern, vielleicht, zu entschuldigen
durch folgende drei Umstände. Erstens: Meine Reise war etwas Besonderes.
Zweitens: Ich schreibe gerne lange Briefe. Drittens: Auf den
Ansichtspostkarten ist so schrecklich wenig Platz, dass sie meinem
Mitteilungsbedürfnis nicht genügen. / Der Hauptgrund ist natürlich
der erste. Es wird zwar, wie ich glaube, nicht mehr lange dauern, und
das Reisen im Automobil ist etwas Gewöhnliches; vor der Hand aber
gehören längere Reisen dieser Art noch zu den Seltenheiten. Die
vorliegende Schilderung eines solchen Unternehmens ist, soviel ich weiß,
die erste, die in Deutschland als Buch veröffentlicht wird. Nur in
Sportszeitungen bin ich kürzeren Beschreibungen längerer Touren
begegnet, und bei ihnen handelte es sich fast ausschließlich um
Äußerungen rein sportlichen Interesses. Meine Reise aber hat mit dem
Automobilsport als solchem nicht viel zu tun, – sonst hätte ich sie
nicht als eine empfindsame Reise bezeichnen können, denn was ein
richtiger „Automobilist“ ist, der kennt die Empfindsamkeit nicht. Ich
meine das Wort natürlich in seiner alten Bedeutung und nicht in dem
Sinne von Sentimentalität, den es jetzt angenommen hat. Empfindsamkeit
heißt mit der Zustand und die Gabe stets bereiter Empfänglichkeit für
alles, was auf die Empfindung wirkt, die Fähigkeit und Bereitschaft,
neue Eindrücke frisch und stark aufzunehmen. Mit offenen, wachen, allen
Erscheinungen des Lebens, der Natur zugewandten Sinnen reisen nenne ich
empfindsam reisen, und dieses Reisen allein erscheint mir als das
wirkliche Reisen, wert und dazu angetan, zur Kunst erhoben zu werden.
Doch darüber wird man in diesen Briefen meine Meinung öfter vernehmen,
und ich hoffe, dass dieses Buch meine Leser davon überzeugen wird, dass
wir jetzt im Automobil das Mittel an der Hand haben, die Kunst des
Reisens aufs neue zu pflegen und noch weiter zu führen, als es ihr in
der Zeit der Reisekutschen beschieden gewesen ist, denen unsre Vorfahren
Genüssen zu verdanken gehabt haben, wie sie der Eisenbahnreisende nicht
einmal ahnt. Der gewöhnliche „Automobilist“ allerdings auch nicht; der
ist dazu zu sehr Sportsman. Erst, wenn der Automobilismus aufhört,
ausschließlich ein Sport zu sein, wird er für die Kunst des Reisens das
bedeuten, was seine eigentliche Bestimmung ist. / Ich möchte nicht
missverstanden werden: Ich unterschätze die Bedeutung des Automobilsports
für die Entwickelung der Sache keineswegs, schlage sie vielmehr hoch an
und lasse mich darin auch durch die Auswüchse des Rennwagenwesens nicht
irre machen. Dieses wird für die Motorwagenindustrie immer die
Bedeutung haben, die der Rennpferdesport für die Pferdezucht hat. Aber
das Eigentliche dieser großen neuen Erscheinung, die den Rang eines
starken Kulturfaktors hat, liegt nicht im Sport. Der hat nur
Experimentalwert. In der Ausnutzung seiner Resultate für das allgemeine,
in seiner Übersetzung ins praktische Leben liegt die Zukunft des
Automobilismus. / Meine Reise war der Versuch einer praktischen
Probe auf das Exempel des Sports, und ich bringe ihre Schilderung vor
die Öffentlichkeit, weil sie gelungen ist, und zwar gelungen nicht mit
einem der Millionärsvehikel, die nur Portemonnaiegranden erschwinglich
sind, sondern mit einem leichten, billigen Wagen. – Für mich wäre er
freilich immer noch zu teuer gewesen, und so will ich, um mich keiner
Vorspiegelung falscher Tatsachen schuldig zu machen, und um gleichzeitig
gebührenden Dank auszusprechen, zum Schlusse nicht verhehlen, dass ich
die Möglichkeit, diesen angenehmen Versuch zu machen, nicht meinen
Einkünften als deutscher Dichter, sondern der Freundlichkeit des Verlags
August Scherl G. m. b. H. verdanke, der mir den Wagen für die Dauer der
Reise zur Verfügung gestellt hat.
(Vorwort zum 1903 erschienenen Brieftagebuch)
ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1865-1910)
(Vorwort zum 1903 erschienenen Brieftagebuch)
ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1865-1910)
Freitag, 27. Juni 2014
Johann Valentin Andreae: Chymische Hochzeit
An einem Abend vor dem Ostertag saß ich an einem Tisch, und wie ich mich meiner Gewohnheit nach mit meinem Schöpfer in meinem demütigen Gebet genugsam besprochen und vielen großen Geheimnissen (deren mich der Vater des Lichts seine Majestät nicht wenig sehen ließ) nachgedacht, auch nun mir mit meinem lieben Osterlämmlein ein ungesäuert unbeflecktes Küchlein in meinem Herzen zubereiten wollte, kam auf einmal ein solch grausamer Wind daher, dass ich nicht anders meinte, als dass der Berg, darin mein Häuslein gegraben, vor großer Gewalt zerspringen müsste. Weil mir aber solches und dergleichen der Teufel (der mir manch Leids getan) nicht antat, fasste ich Mut und blieb in meiner Meditation, bis mir wider meine Gewohnheit jemand auf den Rücken klopfte, wovon ich dermaßen erschrak, dass ich mich kaum umzusehen wagte, noch stellte ich mich so freudig, wie menschliche Schwachheit zu dergleichen Sachen sein kann. Und wie mich solch Ding zu etlichen Malen beim Rock zupfte, drehte ich mich um: da war es ein schöne herrliche Frau, deren Kleid ganz blau und mit goldenen Sternen wie der Himmel zierlich versetzt war. In der rechten Hand trug sie eine Posaune aus purem Gold, darauf ein Name gestochen war, den ich wohl lesen konnte, mir aber nochmals zu offenbaren verboten worden ist: In der linken Hand hatte sie ein großes Bündel Briefe von allerlei Sprachen, die sie (wie ich hernach erfahren) in alle Länder tragen musste: Sie hatte aber auch Flügel, groß und schön, voller Augen durch und durch, mit denen sie sich aufschwingen und schneller als jeder Adler fliegen konnte. Ich hätte vielleicht noch mehr an ihr bemerken können, aber weil sie so kurz bei mir blieb und noch aller Schreck und Verwunderung in mir steckte, muss ich's so sein lassen. Dann sah ich sie in ihren Briefen blättern und endlich ein kleines Brieflein herausziehen, welches sie mit großer Reverenz auf den Tisch legte; und ohne ein Wort entwich sie mir. Im Aufschwingen aber stieß sie so kräftig in ihre schöne Posaune, dass der ganze Berg davon erhallte und ich fast eine Viertelstunde lang mein eigenes Wort kaum mehr hörte. In solch unversehenem Abenteuer wusste ich mir Armen selbst weder zu raten noch zu helfen, fiel deswegen auf meine Knie und bat meinen Schöpfer, er wolle mir nichts wider mein ewiges Heil zugehen lassen; ging darauf mit Furcht und Zittern zu dem Brieflein, das nun so schwer war, das, wenn es lauter Gold gewesen wäre, kaum so schwer hätte sein können.
(Anfang des 1616 erschienenen alchemistischen Romans)
ZUM TODESTAG DES THEOLOGEN
Über den Autor (1586-1654)
(Anfang des 1616 erschienenen alchemistischen Romans)
ZUM TODESTAG DES THEOLOGEN
Über den Autor (1586-1654)
Donnerstag, 26. Juni 2014
Karl Philipp Moritz: Anton Reiser
Dieser psychologische Roman könnte auch allenfalls eine Biographie genannt werden, weil die Beobachtungen größtenteils aus dem wirklichen Leben genommen sind. – Wer den Lauf der menschlichen Dinge kennt und weiß, wie dasjenige oft im Fortgange des Lebens sehr wichtig werden kann, was anfänglich klein und unbedeutend schien, der wird sich an die anscheinende Geringfügigkeit mancher Umstände, die hier erzählt werden, nicht stoßen. Auch wird man in einem Buche, welches vorzüglich die innere Geschichte des Menschen schildern soll, keine große Mannigfaltigkeit der Charaktere erwarten; denn es soll die vorstellende Kraft nicht verteilen, sondern sie zusammendrängen und den Blick der Seele in sich selber schärfen. – Freilich ist dies nun keine so leichte Sache, dass gerade jeder Versuch darin glücken muss – aber wenigstens wird doch vorzüglich in pädagogischer Rücksicht das Bestreben nie ganz unnütz sein, die Aufmerksamkeit des Menschen mehr auf den Menschen selbst zu heften und ihm sein individuelles Dasein wichtiger zu machen.
(Vorrede zu dem 1785 erschienenen Werk)
ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1756-1793
(Vorrede zu dem 1785 erschienenen Werk)
ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1756-1793
Mittwoch, 25. Juni 2014
Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum
Trachten Wir nicht nach der Gemeinschaft, sondern nach der Einseitigkeit. Suchen Wir nicht die umfassendste Gemeinde, die "menschliche Gesellschaft", sondern suchen Wir in den Andern nur Mittel und Organe, die Wir als unser Eigentum gebrauchen! Wie Wir im Baume, im Tiere nicht Unsersgleichen erblicken, so entspringt die Voraussetzung, dass die Andern Unsersgleichen seien, einer Heuchelei. Es ist Keiner Meinesgleichen, sondern gleich allen andern Wesen betrachte Ich ihn als mein Eigentum. Dagegen sagt man Mir, Ich soll Mensch unter "Mitmenschen" sein; Ich soll in ihnen den Mitmenschen "respektieren". Es ist Keiner für mich eine Respektsperson, auch der Mitmensch nicht, sondern lediglich wie andere Wesen ein Gegenstand, für den Ich Teilnahme habe oder auch nicht, ein interessanter oder uninteressanter Gegenstand, ein brauchbares oder unbrauchbares Subjekt. / Und wenn ich Ihn gebrauchen kann, so verständige Ich wohl und einige Mich mit ihm, um durch die Übereinkunft meine Macht zu verstärken und durch gemeinsame Gewalt mehr zu leisten als die einzelne bewirken könnte. In dieser Gemeinsamkeit sehe Ich durchaus nichts anderes als eine Multiplikation meiner Kraft, und nur solange sie meine vervielfachte Kraft ist, behalte Ich sie bei.
(Aus dem 1844 erschienenen Werk)
ZUM TODESTAG DES ETHISCHEN EGOISTEN
Über den Autor (1806-1856)
(Aus dem 1844 erschienenen Werk)
ZUM TODESTAG DES ETHISCHEN EGOISTEN
Über den Autor (1806-1856)
Dienstag, 24. Juni 2014
Walther Rathenau vor einem geladenen Kreis aller Parteien
Gestatten Sie es einem rein praktischen Politiker, gestatten Sie es
demjenigen, dem die Aufgabe obliegt, gerade in diesem Augenblick das
Werk der Verträge, das Werk der Beziehungen zu pflegen, gestatten Sie in
diesem Augenblick das Wort auszusprechen: Nicht Verhandlungen machen
uns gesund und nicht Verträge, sondern die Gesundheit eines Volkes kommt
nur aus seinem inneren Leben, aus dem Leben seiner Seele und seines
Geistes. Dieses Leben ist gefährdet, aber es ist nicht zu Tode
getroffen. Es gibt vieles, was unser seelisch-geistiges Leben schädigt –
ich brauche nur an das zu erinnern, was wir in unseren großen Städten
und an anderen Stellen im Lande sehen –, aber unser seelisch-geistiges
Leben ist in seinen Tiefen gesund. Noch immer lebt dieser Wille zur
Arbeit, zur Disziplin, zur Organisation, zur Forschung, noch immer lebt
der Wille zur Hingebung und zum Opfer, zur Betrachtung der Erscheinung
im großen Bogen der Synthese und Zusammenfassung; noch immer sind die
großen Kräfte des Geistes und Herzens ungebrochen und unberührt.
Unserer Jugend haben wir diese Kräfte zu übergeben, sie ist die Trägerin
und Pflegerin dieser Kräfte, und wir wollen hoffen, dass sie diese
größte und schwerste Verantwortung der Gegenwart erfüllt. Manches wird
sie in diesem Fall abzustreifen haben, denn nicht aus dem Kampfe des
Tages erwachsen diese Kräfte; diese Kräfte erwachsen aus der Versenkung
und Vertiefung. Deswegen lassen wir unsere Jugend nicht untergehen in
den Kämpfen des Tages, weisen wir sie hin auf die großen Ideale der
Vergangenheit und führen wir sie zu den Idealen der Zukunft.
(Aus der am 9. Juni 1922, zwei Wochen vor seiner Ermordung gehaltenen Stuttgarter Rede)
ZUM TODESTAG DES POLITIKERS
Über den Autor (1867-1922)
(Aus der am 9. Juni 1922, zwei Wochen vor seiner Ermordung gehaltenen Stuttgarter Rede)
ZUM TODESTAG DES POLITIKERS
Über den Autor (1867-1922)
Montag, 23. Juni 2014
Charlotte Birch-Pfeiffer: Johannes Gutenberg
GUTENBERG der plötzlich begreift, kummervoll. Ach nun – ja so, so ist das! Pause. Er
winkt Lorenz, der hinausgeht, geht dann ein paarmal hin und her, tritt
endlich vor Käthchen bin, die noch immer mit bedecktem Gesichte dasteht.
Armes, armes Käthchen! Ach, es wird mir schwer, die Lippen zu öffnen
und in einer Wunde zu wühlen, die noch immer blutet! – Käthchen, ich
habe ein Weib. –
KÄTHE lässt die Hände vom Gesicht fallen, starrt ihn sprachlos an, fasst endlich nach der Lehne des Stuhls und stammelt. O Du mein lieber Gott! –
GUTENBERG umfasst sie und lässt sie sanft in den Stuhl gleiten. Seid stark, Käthchen, gutes treues Kind, mein Herz ist zum Zerspringen voll, raubt mir nicht die Kraft, die mir nötig, um zu sagen, was ich muss!
KÄTHE kaum hörbar. Und wo – wo ist – Euer Weib?
GUTENBERG. Bei ihren Eltern, im Elsaß, sie hat mich verlassen!
KÄTHE starrt ihn an. Verlassen – Euch – o nimmermehr!
GUTENBERG mit einem schweren Seufzer. Sie tat's! –
KÄTHE schüttelt den Kopf. Dann liebte sie Euch nicht!
GUTENBERG. Doch, Käthchen, sie liebte mich innig! Aber Irrwahn und Aberglaube waren stärker als ihre Liebe, und sie verließ mich! geängstigt durch heillose Pfaffen, ging sie in's Elend, ihre Seele zu retten. Ich habe seitdem ihren Namen nicht mehr ausgesprochen. Niemand weiß, wie elend ich bin, wer achtet auch des armen finstern Mannes, der ohne Klage still seines Weges geht? Ich bin der bedauerungswerteste Mensch, seitdem ich sie verlor, denn ich – kann sie nie vergessen! Er legt die Hand über die Augen.
KÄTHE zuckt zusammen und fährt mit dem Ausdruck des tiefsten Schmerzes nach dem Herzen. Nach einer kleinen Pause steht sie auf, tritt vor ihn hin, fasst seine beiden Hände, und sagt, mit Tränen kämpfend, aber doch fest. Gott tröste Euch, lieber Herr, Ihr seid sehr unglücklich! – Doch Eure Wunden werden heilen, Gottes Vaterhand heilt ja alle zerrissene Herzen, Mit geheimer Beziehung. wenn auch nicht hier!
(Aus der Zweiten Abteilung des 1835 uraufgeführten Dramas)
ZUM GEBURTSTAG DER SCHREIBENDEN SCHAUSPIELERIN
Über die Autorin (1800-1868)
KÄTHE lässt die Hände vom Gesicht fallen, starrt ihn sprachlos an, fasst endlich nach der Lehne des Stuhls und stammelt. O Du mein lieber Gott! –
GUTENBERG umfasst sie und lässt sie sanft in den Stuhl gleiten. Seid stark, Käthchen, gutes treues Kind, mein Herz ist zum Zerspringen voll, raubt mir nicht die Kraft, die mir nötig, um zu sagen, was ich muss!
KÄTHE kaum hörbar. Und wo – wo ist – Euer Weib?
GUTENBERG. Bei ihren Eltern, im Elsaß, sie hat mich verlassen!
KÄTHE starrt ihn an. Verlassen – Euch – o nimmermehr!
GUTENBERG mit einem schweren Seufzer. Sie tat's! –
KÄTHE schüttelt den Kopf. Dann liebte sie Euch nicht!
GUTENBERG. Doch, Käthchen, sie liebte mich innig! Aber Irrwahn und Aberglaube waren stärker als ihre Liebe, und sie verließ mich! geängstigt durch heillose Pfaffen, ging sie in's Elend, ihre Seele zu retten. Ich habe seitdem ihren Namen nicht mehr ausgesprochen. Niemand weiß, wie elend ich bin, wer achtet auch des armen finstern Mannes, der ohne Klage still seines Weges geht? Ich bin der bedauerungswerteste Mensch, seitdem ich sie verlor, denn ich – kann sie nie vergessen! Er legt die Hand über die Augen.
KÄTHE zuckt zusammen und fährt mit dem Ausdruck des tiefsten Schmerzes nach dem Herzen. Nach einer kleinen Pause steht sie auf, tritt vor ihn hin, fasst seine beiden Hände, und sagt, mit Tränen kämpfend, aber doch fest. Gott tröste Euch, lieber Herr, Ihr seid sehr unglücklich! – Doch Eure Wunden werden heilen, Gottes Vaterhand heilt ja alle zerrissene Herzen, Mit geheimer Beziehung. wenn auch nicht hier!
(Aus der Zweiten Abteilung des 1835 uraufgeführten Dramas)
ZUM GEBURTSTAG DER SCHREIBENDEN SCHAUSPIELERIN
Über die Autorin (1800-1868)
Sonntag, 22. Juni 2014
Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues
Wenn man bedenkt, wie auf die jedesmalige Generation in einem Volk alles
das bindend einwirkt, was die Sprache desselben alle vorigen
Jahrhunderte hindurch erfahren hat, und wie damit nur die Kraft der
einzelnen Generation in Berührung tritt und diese nicht einmal rein, da
das aufwachsende und abtretende Geschlecht untermischt nebeneinander
leben, so wird klar, wie gering eigentlich die Kraft des Einzelnen gegen
die Macht der Sprache ist. Nur durch die ungemeine Bildsamkeit der
letzteren, durch die Möglichkeit,
ihre Formen, dem allgemeinen Verständnis unbeschadet, auf sehr
verschiedene Weise aufzunehmen, und durch die Gewalt, welche alles
lebendig Geistige über das tot Überlieferte ausübt, wird das
Gleichgewicht wieder einigermaßen hergestellt. Doch ist es immer die
Sprache, in welcher jeder Einzelne am lebendigsten fühlt, dass er nichts
als ein Ausfluss des ganzen Menschengeschlechts ist. Nur weil doch
jeder einzeln und unaufhörlich auf sie zurückwirkt, bringt dem ungeachtet
jede Generation eine Veränderung in ihr hervor, die sich nur oft der
Beobachtung entzieht. Denn die Veränderung liegt nicht immer in den
Wörtern und Formen selbst, sondern bisweilen nur in dem anders
modifizierten Gebrauche derselben, und dies letztere ist, wo Schrift und
Literatur mangeln, schwieriger wahrzunehmen.
(Aus dem Zweiten Abschnitt der 1836 postum als Sonderdruck erschienenen Einleitung zu dem dreibändigen Werk "Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java")
ZUM GEBURTSTAG DES GELEHRTEN
Über den Autor (1767-1835)
(Aus dem Zweiten Abschnitt der 1836 postum als Sonderdruck erschienenen Einleitung zu dem dreibändigen Werk "Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java")
ZUM GEBURTSTAG DES GELEHRTEN
Über den Autor (1767-1835)
Samstag, 21. Juni 2014
Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten
Wir wollen annehmen, dass wir einem Unbekannten ein Kartenspiel anböten. Wenn dieser uns antwortete: Ich spiele nicht, so würden wir dies entweder auslegen müssen, dass er das Spiel nicht
verstünde, oder eine Abneigung dagegen hätte, die in ökonomischen,
sittlichen oder andern Gründen liegen mag. Gesetzt aber, ein ehrlicher
Mann, von dem man wüsste, dass er alle mögliche Stärke im Spiel besäße
und in den Regeln so wohl als verbotenen Künsten desselben bewandert
wäre, der ein Spiel aber niemals anders als auf den Fuß eines
unschuldigen Zeitvertreibes lieben und treiben könnte, würde in einer
Gesellschaft von feinen Betrügern, die für gute Spieler gelten und
denen er von beiden Seiten gewachsen wäre, zu einer Partie mit ihnen
aufgefordert. Wenn dieser sagte: Ich spiele nicht, so würden wir mit ihm den Leuten ins Gesicht sehen müssen, mit denen er redet, und seine Worte also ergänzen können: » Ich spiele nicht,
nämlich mit solchen, als ihr seid, welche die Gesetze des Spiels
brechen und das Glück desselben stehlen. Wenn ihr ein Spiel anbietet,
so ist unser gegenseitiger Vergleich, den Eigensinn des Zufalls für
unsern Meister zu erkennen, und ihr nennt die Wissenschaft eurer
geschwinden Finger Zufall, und ich muss ihn dafür annehmen, wenn
ich will, oder die Gefahr wagen, euch zu beleidigen, oder die Schande
wählen, euch nachzuahmen. Hättet ihr mir den Antrag getan, miteinander
zu versuchen, wer der beste Taschenspieler von uns in Karten wäre, so
hätte ich anders antworten und vielleicht mitspielen wollen, um euch zu
zeigen, dass ihr so schlecht gelernt habt Karten machen, als ihr
versteht, die euch gegeben werden, nach der Kunst zu werfen.« In diese
rauhen Töne lässt sich die Meinung des Sokrates auflösen, wenn er den
Sophisten, den Gelehrten seiner Zeit, sagte: Ich weiß nichts. Daher kam
es, dass dies Wort ein Dorn in ihren Augen und eine Geißel auf ihren
Rücken war. Alle Einfälle des Sokrates, die nichts als Auswürfe und Absonderungen seiner Unwissenheit waren, schienen ihnen so fürchterlich als die Haare an dem Haupte Medusens, dem Nabel der Ägide.
(Aus dem Zweiten Abschnitt der 1759 erschienenen Schrift)
ZUM TODESTAG DES PHILOSOPHEN
Über den Autor (1730-1788)
(Aus dem Zweiten Abschnitt der 1759 erschienenen Schrift)
ZUM TODESTAG DES PHILOSOPHEN
Über den Autor (1730-1788)
Freitag, 20. Juni 2014
Clara Zetkin: Briefe
Verehrter, teurer Genosse Lenin! / Dass ich nach Ihnen über die russische Revolution
sprechen soll, ist ein großes Wagnis, ja ein Stück
Unverschämtheit. Ich würde es nicht tun, wenn ich mich
nicht als guter Kommunist der Parteidisziplin fügte und die
Meinung als richtig anerkennen muss, dass es für den
Westen nützlich ist, wenn auch jemand von dort spricht. Radek
sagte mir, dass er Ihnen die Druckbogen meines Anti-Levi
gegeben habe, um Ihnen meine Einstellung zu der russischen Revolution
und ihren wichtigsten Problemen zu zeigen. Ich will noch einen
Gedankengang einfügen, den ich schon seinerzeit bei der
Diskussion über den Revisionismus Bernsteins und Davids
vertreten habe. Diese Herren meinten, das Proletariat könne vor
der Eroberung der politischen Macht durch Arbeiterschutz etc. den
Kapitalismus aushöhlen. Meiner Meinung nach kommt jedoch alles,
was man als „Sozialreform“ zusammenfasst, nicht in
Betracht, um den Kapitalismus auszuhöhlen. Solange die
Bourgeoisie die Macht hat, braucht sie die Sozialreform als ein
Mittel, den kapitalistischen Profit und die kapitalistische
Klassenherrschaft zu sichern. Nach der Eroberung der politischen
Macht, in der starken Faust des Proletariats gewinnt die Sozialreform
eine andere Bedeutung. Sie ist ein Mittel, die Wirtschaft und
Gesellschaft in der Richtung zum Kommunismus umzuwälzen. In
diesem Zusammenhange spielen Gewerkschaften, Genossenschaften und
andere proletarische Organisationen eine große Rolle, weil
hinter ihnen die Staatsmacht als Sowjetordnung steht. Ein Vergleich
zwischen den Dingen in Deutschland und Sowjetrussland gibt eine
Probe auf das Exempel. In Sowjetrussland Sozialisierung der
großen Industrie etc., in Deutschland Stinnesierung; in
Sowjetrussland strengste Durchführung der
Arbeitergesetzgebung, in Deutschland Zerbröckelung und Abbau
etc. etc. / Hell wollte ich auch beleuchten die Notwendigkeit der Diktatur des
Proletariats für die Durchführung der „neuen Politik“
für die Aufrechterhaltung der Sowjetmacht als deren
Voraussetzung. Die „neue Politik“ ist nicht nur unter den
in Rußland gegebenen Umständen unvermeidlich, sondern sie
ist notwendig, um die Umwälzung zum Kommunismus durchzuführen.
Mutatis mutandis wird das Proletariat auch in anderen Ländern
nach der Eroberung der politischen Macht den sauren Weg der „neuen
Politik“ gehen müssen, natürlich unter erheblich
günstigeren Verhältnissen wie bei Euch. Die wichtigste
Voraussetzung für die Durchführung der Diktatur und einer
zielbewussten „neuen Politik“ bleibt das Verhältnis
von Partei und Proletariat. Die Partei muss der Ausdruck bleiben
des geschichtlichen Prozesses in seiner höchsten Potenz der
Selbstverständigung, Selbstbewegung und Selbständigkeit des
Proletariats. Das ist nur möglich bei geschlossener Ideologie,
Organisation und strammer Disziplin. Eine besondere Bedeutung gewinnt
in diesem Zusammenhange die klare, feste Herausarbeitung der
kommunistischen Ideologie und ihre Übertragung auf die
breitesten Massen, die Kräftigung und Ausgestaltung des
Volksbildungswesens, das unabweisbare Korrelat der „neuen
Politik“ sowohl für die wirtschaftstechnische Schulung der
Massen wie [für] ihre Erziehung für den Kommunismus. / Summa summarum, meiner Meinung nach ist die russische Revolution,
d.h. ihre Politik, der erste große weltgeschichtliche Versuch,
den Marxismus von der Theorie zur Praxis zu erheben und
dementsprechend „Geschichte“ zu machen. Trotz „Fehler“
und „Dummheiten“ – die Sie ja im einzelnen so
verprügelt haben – sehe ich in Ihrer Linie kein zufälliges
Zickzack, sondern eine konsequent festgehaltene gerade Linie. (Siehe
Ihr Programm vom April 1917.) Ihr musstet über das dort
gesteckte Ziel hinausgehen, um zu verhindern, dass die russische
Revolution hinter ihren Ausgangspunkt zurückgeworfen wurde.
Meiner Ansicht nach gibt es keine Revolution, die wie die Eure schon
im ersten Anlauf soweit über das Anfangsstadium des
Realisierbaren hinausgekommen wäre. / Lieber Freund Lenin, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie
mir vielleicht mit einem Wort mitteilen wollten, welche Seiten und
Probleme Sie besonders behandeln wollen. Ich möchte nicht gern
schlechter wiederholen, was Sie schon besser gesagt haben. / Mit herzlichsten Grüßen für Sie, Genossin
Krupskaja und Ihre Schwestern / Ihre Clara Zetkin
(Brief aus Moskau vom 12. September 1922)
ZUM TODESTAG DER SOZIALISTIN
Über die Autorin (1857-1933)
Donnerstag, 19. Juni 2014
Gustav Schwab: Sagen des klassischen Altertums
Tantalos, ein Sohn des
Zeus, herrschte zu Sipylos in Phrygien und war außerordentlich reich
und berühmt. Wenn je einen sterblichen Mann die olympischen Götter
geehrt haben, so war es dieser. Seiner hohen Abstammung wegen wurde er
zu ihrer vertrauten Freundschaft erhoben; zuletzt durfte er an der Tafel
des Zeus speisen und alles mit anhören, was die Unsterblichen unter
sich besprachen. Aber sein eitler Menschengeist vermochte das
überirdische Glück nicht zu tragen, und er fing an, mannigfaltig gegen
die Götter zu freveln. Er verriet den Sterblichen die Geheimnisse der
Himmlischen; er entwandte von ihrer Tafel Nektar und Ambrosia und
verteilte den Raub unter seine irdischen Genossen; er barg den
köstlichen goldenen Hund, den ein anderer aus dem Tempel des Zeus zu
Kreta gestohlen hatte; und als dieser ihn zurückforderte, leugnete er
mit einem Eide ab, ihn erhalten zu haben. Endlich lud er im Übermute die
Götter wieder zu Gaste, und um ihre Allwissenheit auf die Probe zu
setzen, ließ er ihnen seinen eigenen Sohn Pelops schlachten und
zurichten. Nur Demeter verzehrte von dem gräßlichen Gericht ein
Schulterblatt, die übrigen Götter aber merkten den Greuel, warfen die
zerstückelten Glieder des Knaben in einen Kessel, und die Parze Klotho
zog ihn mit erneuter Schönheit hervor. Anstatt der verzehrten Schulter
wurde eine elfenbeinerne eingesetzt. / Jetzt hatte Tantalos das Maß seiner Frevel erfüllt und wurde von den Göttern in die Hölle
gestoßen. Hier wurde er von quälenden Leiden gepeinigt. Er stand mitten
in einem Teiche, und die Wasser spielten ihm um das Kinn, dennoch litt
er den brennendsten Durst und konnte den Trank, der ihm so nahe war,
niemals erreichen. Sooft er sich bückte und den Mund gierig ans Wasser
bringen wollte, entschwand vor ihm die Flut versiegend; der dunkle Boden
erschien zu seinen Füßen; ein Dämon schien den See ausgetrocknet zu
haben. So litt er zugleich den peinigendsten Hunger. Hinter ihm strebten
am Ufer des Teiches herrliche Fruchtbäume empor und wölbten ihre Äste
über seinem Haupte. Wenn er sich emporrichtete, so lachten ihm saftige
Birnen, rotwangige Äpfel, glühende Granaten, liebliche Feigen und grüne
Olivenbeeren ins Auge; aber sobald er hinauflangte, sie mit seiner Hand
zu fassen, so riß ein Sturmwind, der plötzlich angeflogen kam, die
Zweige hoch hinauf zu den Wolken. Zu dieser Höllenpein gesellte sich
beständige Todesangst; denn ein großes Felsenstück hing über seinem
Haupte in der Luft und drohte unaufhörlich, auf ihn herabzustürzen. / So ward dem Verächter der Götter, dem ruchlosen Tantalos, dreifache Qual, niemals endend, in der Unterwelt beschieden.
(Die Tantalos-Sage in der 1838-40 erschienenen Sammlung)
ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1792-1850)
(Die Tantalos-Sage in der 1838-40 erschienenen Sammlung)
ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1792-1850)
Mittwoch, 18. Juni 2014
Martin Greif: Werdender Sonnentag
Wolkenduft verbirgt die Höhen
Und doch wird's ein Sonnentag,
Wenn er sich auch im Erstehen
Langsam nur enthüllen mag.
Fluren selbst in rauher Lage
Fühlen seine Segensruh',
Und die Rose gar am Hage
Lächelt ahnungsvoll ihm zu.
(Aus dem 1868 erschienenen Lyrikband)
ZUM GEBURTSTAG DES DICHTERS
Über den Autor (1839-1911)
Und doch wird's ein Sonnentag,
Wenn er sich auch im Erstehen
Langsam nur enthüllen mag.
Fluren selbst in rauher Lage
Fühlen seine Segensruh',
Und die Rose gar am Hage
Lächelt ahnungsvoll ihm zu.
(Aus dem 1868 erschienenen Lyrikband)
ZUM GEBURTSTAG DES DICHTERS
Über den Autor (1839-1911)
Dienstag, 17. Juni 2014
Otto Lehmann: Physikalische Technik oder Anleitung zu Experimentalvorträgen
Manche Lehrbücher beginnen mit Auseinandersetzungen über die Aufgabe der Physik. Ich halte dies nicht für zweckmäßig. Die Aufgabe der Physik vermag der Schüler erst richtig zu erfassen, wenn er den wesentlichen Inhalt derselben bereits beherrscht, nicht vorher. Außerdem dürfte bei den meisten Schülern gar kein Bedürfnis nach einer derartigen Aufklärung mehr oder minder philosophischer Natur vorhanden sein. Weit eher dürfte es sie interessieren, zu erfahren, wie denn diese Wissenschaft entstanden ist und welche Männer sie im Laufe der Zeit zu ihrer gegenwärtigen Vollkommenheit ausgebildet haben. Damit ist natürlich nicht etwa gemeint, dass der Unterricht mit einer kurzen Darlegung der Geschichte der Physik beginnen soll, die dem Schüler aus gleichen Gründen nicht minder unverständlich bleiben würde wie die erwähnten Erörterungen erkenntnistheoretischer Natur. Es soll vielmehr während der Behandlung des Lehrstoffes immerfort auf die historische Entwicklung der Kenntnisse hingewiesen, auch soll dann und wann Wissenswertes aus den Lebensschicksalen der berühmten Forscher berührt werden. / Ich pflege deshalb zu beginnen mit einem Hinweis darauf, dass jeder Mensch naturgemäß das Bedürfnis hat, die Vorgänge, die er wahrnimmt, zu begreifen, und dass dies schon in den ältesten Zeiten, von welchen wir Kunde haben, sich so verhielt.
(Aus dem ersten Band des 1905 erschienenen Lehrbuchs)
ZUM TODESTAG DES PHYSIKERS
Über den Autor (1855-1922)
(Aus dem ersten Band des 1905 erschienenen Lehrbuchs)
ZUM TODESTAG DES PHYSIKERS
Über den Autor (1855-1922)
Montag, 16. Juni 2014
Otto Jahn: W. A. Mozart
Keine Parallele scheint mehr gerechtfertigt als die zwischen Mozart und Rafael. Die edle Schönheit, welche alle anderen Bedingungen künstlerischer Darstellung gleichsam aufzuzehren und in reine Harmonie aufzulösen
scheint, tritt so siegreich in den Gebilden beider Meister in gleicher
Weise hervor, dass es so mancher übereinstimmender Momente in ihrem
Bildungs- und Lebensgange, in ihrer künstlerischen und sittlichen Natur
gar nicht bedürfte, um sie als Zwillingsbrüder erkennen zu lassen.
Indessen würde diese Vergleichung erst wahren Gewinn bringen, wenn sie
durch eingehende Betrachtung erkennen ließe, wie und unter welchen
Bedingungen auf verschiedenen Gebieten der Kunst die in ihrer
Totalwirkung gleichartige Schönheit geschaffen wird.
(Aus dem Schlusskapitel der 1856-59 erschienenen Biographie)
ZUM GEBURTSTAG DES KULTURWISSENSCHAFTLERS
Über den Autor (1813-1869
(Aus dem Schlusskapitel der 1856-59 erschienenen Biographie)
ZUM GEBURTSTAG DES KULTURWISSENSCHAFTLERS
Über den Autor (1813-1869
Sonntag, 15. Juni 2014
Ernst Ludwig Kirchner: Davoser Tagebuch
Parallel mit der Gestaltung der Form geht die der Farbe. Es gibt weder Licht noch Schatten. Einzig die Farben in ihrem Zusammenhang geben das Erlebnis. Alles ist Fläche. Rein spricht in dieser Fläche der tiefe Wert der Farbe. [...] Farbe und Form greifen organisch ineinander. Einfachheit, Ordnung und Klarheit bei allem Reichtum erzeugen eine neue Schönheit, die fähig ist, alle Gestalten und Empfindungen des heutigen Lebens zu tragen.
(Tagebucheintrag um 1927)
ZUM TODESTAG DES EXPRESSIONISTEN
Über den Autor (1880-1938)
(Tagebucheintrag um 1927)
ZUM TODESTAG DES EXPRESSIONISTEN
Über den Autor (1880-1938)
Samstag, 14. Juni 2014
Max Weber: Politik als Beruf
Einen ganz trivialen, allzu menschlichen Feind hat der Politiker täglich und stündlich zu überwinden: die ganz gemeine Eitelkeit, die Todfeindin aller sachlichen Hingabe und aller Distanz, in diesem Fall: der Distanz sich selbst gegenüber. / Eitelkeit ist eine sehr verbreitete Eigenschaft, und vielleicht ist niemand ganz frei davon. Und in akademischen und Gelehrtenkreisen ist sie eine Art von Berufskrankheit. Aber gerade beim Gelehrten ist sie, so antipathisch sie sich äußern mag, relativ harmlos in dem Sinn, dass sie in aller Regel den wissenschaftlichen Betrieb nicht stört. Ganz anders beim Politiker. Er arbeitet mit dem Streben nach Macht als unvermeidlichem Mittel. "Machtinstinkt" – wie man sich auszudrücken pflegt – gehört daher in der Tat zu seinen normalen Qualitäten. – Die Sünde gegen den heiligen Geist seines Berufs aber beginnt da, wo dieses Machtstreben unsachlich und ein Gegenstand rein persönlicher Selbstberauschung wird, anstatt ausschließlich in den Dienst der "Sache" zu treten. Denn es gibt letztlich nur zwei Arten von Todsünden auf dem Gebiet der Politik: Unsachlichkeit und – oft, aber nicht immer, damit identisch – Verantwortungslosigkeit. Die Eitelkeit: das Bedürfnis, selbst möglichst sichtbar in den Vordergrund zu treten, führt den Politiker am stärksten in Versuchung, eine von beiden oder beide zu begehen. Um so mehr, als der "Demagoge" auf Wirkung zu rechnen gezwungen ist, – er ist eben deshalb stets in Gefahr, sowohl zum Schauspieler zu werden wie die Verantwortung für die Folgen seines Tuns leicht zu nehmen und nur nach dem "Eindruck" zu fragen, den er macht. Seine Unsachlichkeit legt ihm nahe, den glänzenden Schein der Macht statt der wirklichen Macht zu erstreben, seine Verantwortungslosigkeit aber: die Macht lediglich um ihrer selbst willen, ohne inhaltlichen Zweck, zu genießen. Denn obwohl, oder vielmehr: gerade weil Macht das unvermeidliche Mittel, und Machtstreben daher eine der treibenden Kräfte der Politik ist, gibt es keine verderblichere Verzerrung der politischen Kraft, als das parvenumäßige Bramarbasieren mit Macht und die eitle Selbstbespiegelung in dem Gefühl der Macht, überhaupt jede Anbetung der Macht rein als solcher.
(Aus dem 1919 gehaltenen Vortrag)
ZUM TODESTAG DES SOZIOLOGEN
Über den Autor (1864-1920)
(Aus dem 1919 gehaltenen Vortrag)
ZUM TODESTAG DES SOZIOLOGEN
Über den Autor (1864-1920)
Freitag, 13. Juni 2014
Johann Gottfried Seume: Kurzes Pflichten- und Sittenbuch für Landleute
Alle Völker stimmen darin überein, das gute, freundschaftliche Herz und
die wohltätigen Bemühungen eines edlen Menschenfreundes höher zu achten
als alle zufälligen Güter des äußerlichen Glücks. Niemand hält es je
für ein Lob, wenn man sagt: der Reiche, der Mächtige, der Vornehme; aber alle ehren und lieben sogleich den Mann, den die Geschichte seiner Zeit
den Guten, den Edlen, den Milden, den Wohltätigen nennt. Die Reichen
und Mächtigen haben bloß dieses vor den Andern voraus, dass sie das
Letzte leichter sein können als die Übrigen. Desto schlimmer für sie,
wenn sie es nicht sind. Sie tun das Gute nicht, das sie tun könnten
und sollten, und entbehren vieles Glück, das sie dadurch genießen
könnten.
(Aus dem Kapitel "Von der Güte" der 1811 [postum] erschienenen Schrift)
ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1763-1810)
(Aus dem Kapitel "Von der Güte" der 1811 [postum] erschienenen Schrift)
ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1763-1810)
Donnerstag, 12. Juni 2014
Karl Kraus: Aphorismen
Ich beherrsche die Sprache nicht; aber die Sprache beherrscht mich
vollkommen. Sie ist mir nicht die Dienerin meiner Gedanken. Ich lebe in
einer Verbindung mit ihr, aus der ich Gedanken empfange, und sie kann
mit mir machen, was sie will. Ich pariere ihr aufs Wort. Denn aus dem
Wort springt mir der junge Gedanke entgegen und formt rückwirkend die
Sprache, die ihn schuf. Solche Gnade der Gedankenträchtigkeit zwingt auf
die Knie und macht allen Aufwand zitternder Sorgfalt zur Pflicht. Die
Sprache ist eine Herrin der Gedanken, und wer das Verhältnis umzukehren
vermag, dem macht sie sich im Hause nützlich, aber sie sperrt ihm den
Schoß.
(Aus den 1915 erschienenen Aphorismen)
ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1874-1936)
(Aus den 1915 erschienenen Aphorismen)
ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1874-1936)
Mittwoch, 11. Juni 2014
Georg Groddeck: Das Buch vom Es
Als Symbol der Ehe gilt der Ring; nur sind sich die wenigsten klar darüber, wieso dieser Reif den Begriff der ehelichen Gemeinschaft ausdrückt. Die Sprüche, dass der Ring eine Fessel ist oder die ewige Liebe ohne Anfang und Ende bedeutet, lassen wohl Schlussfolgerungen auf Stimmung und Erfahrung dessen zu, der solch eine Redewendung braucht, sie klären aber das Phänomen nicht auf, warum von unbekannten Gewalten gerade ein Ring gewählt wurde, um das Verheiratetsein kenntlich zu machen. Geht man jedoch davon aus, dass der Sinn der Ehe die Geschlechtstreue ist, so ergibt sich die Deutung leicht. Der Ring vertritt das weibliche Geschlechtsorgan, während der Finger das Organ des Mannes ist. Der Ring soll über keinen anderen Finger gestreift werden als über den des angetrauten Mannes, er ist also das Gelöbnis, nie ein anderes Geschlechtsorgan im Ring des Weibes zu empfangen wie das des Ehegatten. / Dieses Gleichsetzen von Ring und weiblichem Organ, Finger und männlichem ist nicht willkürlich erdacht, sondern vom Es des Menschen erzwungen, und jeder kann den Beweis dafür an sich und anderen täglich führen, wenn er das Spielen mit dem Ring am Finger bei den Menschen beobachtet. Unter dem Einflusse bestimmter, leicht zu erratender Gefühlsregungen, die meist nicht voll ins Bewusstsein treten, beginnt dieses Spiel, dieses Auf- und Abbewegen des Ringes, dieses Drehen und Winden. Bei verschiedenen Wendungen der Unterhaltung, bei dem Hören und Aussprechen von einzelnen Worten, beim Erblicken von Bildern, Menschen, Gegenständen, bei allen möglichen Sinneswahrnehmungen werden Handlungen vorgenommen, die uns gleichzeitig versteckte Seelenvorgänge aufdecken und bis zum Überdruss beweisen, dass der Mensch nicht weiß, was er tut, dass ein Unbewusstes ihn zwingt, sich symbolisch zu offenbaren, dass dieses Symbolisieren nicht dem absichtlichen Denken entspringt, sondern dem unbekannten Wirken des Es. Denn welcher Mensch würde absichtlich unter den Augen anderer Bewegungen ausführen, die seine sexuelle Erregung verraten, die den heimlichen, stets versteckten Akt der Selbstbefriedigung öffentlich zur Schau stellen? Und doch spielen selbst die, die das Symbol zu deuten verstehen, weiter am Ringe, sie müssen spielen. Symbole werden nicht erfunden, sie sind da, gehören zum unveräußerlichen Gut des Menschen; ja, man darf sagen, dass alles bewusste Denken und Handeln eine unentrinnbare Folge unbewussten Symbolisierens ist, dass der Mensch vom Symbol gelebt wird.
(Aus dem sechsten der 33 Briefe der 1923 erschienenen Schrift)
ZUM TODESTAG DES PSYCHOSOMATIKERS
Über den Autor (1866-1934)
(Aus dem sechsten der 33 Briefe der 1923 erschienenen Schrift)
ZUM TODESTAG DES PSYCHOSOMATIKERS
Über den Autor (1866-1934)
Dienstag, 10. Juni 2014
Auguste Schmidt: Reden
Nach einer 40-jährigen ununterbrochenen Tätigkeit als Lehrerin bin ich bereit, Zeugnis abzulegen für das tiefe Genügen, das unser Geschlecht im Lehrberuf zu finden vermag.
(Worte, gesprochen zu Pfingsten 1890 bei der Gründung des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins) [Keine Quelle für ein längeres Zitat gefunden]
ZUM TODESTAG DER FRAUENRECHTLERIN
Über die Autorin (1833-1902)
(Worte, gesprochen zu Pfingsten 1890 bei der Gründung des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins) [Keine Quelle für ein längeres Zitat gefunden]
ZUM TODESTAG DER FRAUENRECHTLERIN
Über die Autorin (1833-1902)
Montag, 9. Juni 2014
Bertha von Suttner: Langeweile
»Ein gescheiter Mensch langweilt sich nie!« Das ist auch so eine
Fabel. Natürlich will man dann nicht eingestehen, daß man das
dummheitsbeweisende Gefühl kennt, und langweilt sich nur im geheimen. So
gewissermaßen lasterhaft. Wenn einem je ein einsichtsvoller Freund
teilnehmend sagt: »Aber hörst du, Lieber, in deiner Einsamkeit muß dir
doch manchmal die Zeit lang werden,« so nimmt der so Angeredete ein
erstauntes Gesicht an, als höre er zum erstenmal im Leben, daß ein
solcher Fall möglich sei, und antwortet: »Mir? – O nein – Wenn man sich
zu beschäftigen weiß ...« Der andere schämt sich sodann, daß er auf der
Fähigkeit, sich zu langweilen, etwa ertappt worden, und beeilt sich zu
erwidern: »Ja, du hast recht, wenn man sich beschäftigt ... Lektüre,
Studium, Arbeit ... mir werden die Tage auch immer zu kurz.« / Reine Heuchelei! Der Mensch weiß so gut wie ich und jeder andere,
wie im Leben die Stunden dahinschleichen können, matt und grau und
bleiern – ja, ich glaube, es heißt »bleiern«. Unter Blei stellt man sich
gewöhnlich doch etwas so Drückendes, Schwerfälliges und Glanzloses vor,
wie langweilige Stunden und Tage dies eben sind ... Dazu kommt noch
eine Ideenverbindung mit den Bleidächern von Venedig, welche das
Jämmerliche an dem Bilde verstärkt. Wer hat es nicht einmal empfunden,
was
es ist, die
Stirn an die Fensterscheiben drücken und in einen Landregen
hinausschauen, dann sich auf das Sofa hinwerfen und die Beine gegen die
Decke heben, was auch keine Erleichterung verschafft; dann auf die Uhr
schauen und sehen, daß es um eine gute Stunde früher ist als gestern um
diese Zeit; zu gähnen, als wäre man der König der Wüste in einem
vergitterten Käfig; ein wenig nachdenken wollen und im Gehirn nichts
anderes hervorbringen als eine nachklingende Drehorgelmelodie – endlich
die Augen schließen und sich darein ergeben, daß man auf der Welt ist –
einer Welt, so öde wie ein ausgedörrtes Schneckenhaus. Zu guter Letzt
fällt einem noch das berühmte, eingangs erwähnte Axiom ein, kraft dessen
man aus der Gemeinde der gescheiten Leute ausgestoßen erscheint, und
beginnt sich zu verachten, sagt sich die ärgsten Grobheiten und hat
nicht den Mut, sich dagegen zu verteidigen: »Ja, dumm bin ich – und ein
Tagedieb und energielos und ein verfehltes Geschöpf ... Ah, ah ...«
Wieder strecken sich die Glieder und verrenken sich die Kinnladen. / In dieser Stimmung habe ich mich zum Schreibtisch geschleppt, um
meine Langeweile zu schildern. Das ist so eine Art, den Feind bei den
Hörnern zu nehmen.
(Anfang der 1905 erschienenen Novelle)
ZUM GEBURTSTAG DER PAZIFISTIN
Über die Autorin (1843-1914)
(Anfang der 1905 erschienenen Novelle)
ZUM GEBURTSTAG DER PAZIFISTIN
Über die Autorin (1843-1914)
Sonntag, 8. Juni 2014
Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke
In Griechenland, wo man sich der Lust und Freude von Jugend auf weihte, wo ein gewisser heutiger bürgerlicher Wohlstand der Freiheit der Sitten niemals Eintrag getan, zeigte sich die schöne Natur unverhüllt zum großen Unterricht der Künstler. / Die Schule der Künstler war in den Gymnasien, wo die jungen Leute, welche die öffentliche Schamhaftigkeit bedeckte, ganz nackt ihre Leibesübungen trieben. Der Weise und der Künstler gingen dahin: Sokrates den Charmides, den Autolykos, den Lysis zu lehren; ein Phidias, aus diesen schönen Geschöpfen seine Kunst zu bereichern. Man lernte dort Bewegungen der Muskeln, Wendungen des Körpers: man studierte die Umrisse der Körper, oder die Konturen an dem Abdrucke, den die jungen Ringer im Sand gemacht hatten. / Die schönste Nacktheit der Körper zeigte sich hier in so mannigfaltigen, wahrhaften und edlen Stellungen, in die ein gedungenes Modell, welches in unseren Akademien aufgestellt wird, nicht zu setzen ist. / Die innere Empfindung bildet den Charakter der Wahrheit, und der Zeichner, welcher seinen Akademien denselben geben will, wird nicht einen Schatten des Wahren erhalten ohne eigene Ersetzung desjenigen, was eine ungerührte und gleichgültige Seele des Seele des Modells nicht empfindet, noch eine Aktion, die einer gewissen Empfindung oder Leidenschaft eigen ist, ausdrücken kann. / Der Eingang zu vielen Gesprächen des Plato, die er in den Gymnasien zu Athen ihren Anfang nehmen lassen, macht uns ein Bild von den edlen Seelen der Jugend und lässt uns auch hieraus auf gleichförmige Handlungen und Stellungen an diesen Orten und in ihren Leibesübungen schließen. / Die schönsten jungen Leute tanzten unbekleidet auf dem Theater, und Sophokles, der große Sophokles, war der erste, der in seiner Jugend dieses Schauspiel seinen Bürgern machte. Phryne badete sich in den Eleusinischen Spielen vor den Augen aller Griechen und wurde beim Heraussteigen aus dem Wasser den Künstlern das Urbild einer Venus Anadyomene; und man weiß, dass die jungen Mädchen in Sparta an einem gewissen Fest ganz nackt vor den Augen der jungen Leute tanzten. Was hier fremd scheinen könnte, wird erträglicher werden, wenn man bedenkt, dass auch die Christen der ersten Kirche ohne die geringste Verhüllung, sowohl Männer als Frauen, zu gleicher Zeit und im selben Taufstein getauft oder untergetaucht worden sind. / So war auch jedes Fest bei den Griechen eine Gelegenheit für Künstler, sich mit der schönen Natur aufs Genaueste bekanntzumachen.
(Aus der 1755/56 erschienenen Schrift)
ZUM TODESTAG DES KUNSTHISTORIKERS
Über den Autor (1717-1768)
(Aus der 1755/56 erschienenen Schrift)
ZUM TODESTAG DES KUNSTHISTORIKERS
Über den Autor (1717-1768)
Samstag, 7. Juni 2014
Friedrich Hölderlin: Dichtermut
Sind denn dir nicht verwandt alle Lebendigen,
Nährt die Parze denn nicht selber im Dienste dich?
Drum, so wandle nur wehrlos
Fort durchs Leben, und fürchte nichts!
Nährt die Parze denn nicht selber im Dienste dich?
Drum, so wandle nur wehrlos
Fort durchs Leben, und fürchte nichts!
Was geschiehet, es sei alles gesegnet dir,
Sei zur Freude gewandt! oder was könnte denn
Dich beleidigen, Herz! was
Da begegnen, wohin du sollst?
Denn, seitdem der Gesang sterblichen Lippen sich
Friedenatmend entwand, frommend in Leid und Glück
Unsre Weise der Menschen
Herz erfreute, so waren auch
Friedenatmend entwand, frommend in Leid und Glück
Unsre Weise der Menschen
Herz erfreute, so waren auch
Wir, die Sänger des Volks, gerne bei Lebenden
Wo sich vieles gesellt, freudig und jedem hold,
Jedem offen; so ist ja
Unser Ahne, der Sonnengott,
Wo sich vieles gesellt, freudig und jedem hold,
Jedem offen; so ist ja
Unser Ahne, der Sonnengott,
Der den fröhlichen Tag Armen und Reichen gönnt,
Der in flüchtiger Zeit uns, die Vergänglichen,
Aufgerichtet an goldnen
Gängelbanden, wie Kinder, hält.
Der in flüchtiger Zeit uns, die Vergänglichen,
Aufgerichtet an goldnen
Gängelbanden, wie Kinder, hält.
Ihn erwartet, auch ihn nimmt, wo die Stunde kömmt,
Seine purpurne Flut; sieh! und das edle Licht
Gehet, kundig des Wandels,
Gleichgesinnet hinab den Pfad.
Seine purpurne Flut; sieh! und das edle Licht
Gehet, kundig des Wandels,
Gleichgesinnet hinab den Pfad.
So vergehe denn auch, wenn es die Zeit einst ist
Und dem Geiste sein Recht nirgend gebracht, so sterb'
Einst im Ernste des Lebens
Unsre Freude, doch schönen Tod!
Und dem Geiste sein Recht nirgend gebracht, so sterb'
Einst im Ernste des Lebens
Unsre Freude, doch schönen Tod!
ZUM TODESTAG DES DICHTERS
Freitag, 6. Juni 2014
Alix von Hessen-Darmstadt: Briefe an die Jugendfreundin Toni
Unser Aufenthalt in Florenz war idealisch und das Wetter immer so günstig. Wir haben sehr viel gesehen, aber man kommt nie damit zu Ende. Des Schönen gibt es fast zu viel. – Und nun erst hier [in Venedig], wo wir gestern Nachmittag ankamen, es ist ein Traum, so ganz anders wie irgend etwas das man je gesehen. Man kann es sich eigentlich gar nicht vorstellen, bis man es sieht. Wir fuhren gestern Abend im Mondschein auf dem Canal Grande, und Nachmittag in den kleinen kleinen Gässchen und hörten dem Singen zu. Es macht einen zu eigenartigen Eindruck. – Heute Früh waren wir im San Marco und im Dogenpalast – zu schön, es nützt nichts, ich kann es Dir nicht beschreiben.
(Aus dem Brief vom 28.4.1893 – Quelle: Lotte Hoffmann-Kuhnt: Briefe der Zarin Alexandra von Russland an ihre Jugendfreundin Toni Becker Bracht; Books on Demand 2009)
ZUM GEBURTSTAG DER LETZTEN KAISERIN VON RUSSLAND
Über die Autorin (1872-1918)
(Aus dem Brief vom 28.4.1893 – Quelle: Lotte Hoffmann-Kuhnt: Briefe der Zarin Alexandra von Russland an ihre Jugendfreundin Toni Becker Bracht; Books on Demand 2009)
ZUM GEBURTSTAG DER LETZTEN KAISERIN VON RUSSLAND
Über die Autorin (1872-1918)
Donnerstag, 5. Juni 2014
Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewussten
Das Wollen hat seiner Natur nach einen Überschuss von Unlust zur Folge.
Das Wollen, welches das »Dass« der Welt setzt, verdammt also die Welt,
gleichviel wie sie beschaffen sein möge, zur Qual. Zur Erlösung von
dieser Unseligkeit des Wollens, welche die Allweisheit oder das Logische
der unbewussten Vorstellung direkt nicht herbeiführen kann, weil es
selbst unfrei gegen den Willen ist, schafft es die Emanzipation der
Vorstellung durch das Bewusstsein, indem es in der Individuation den
Willen so zersplittert, dass seine gesonderten
Richtungen sich gegeneinander wenden. Das Logische leitet den
Weltprozess auf das Weiseste zu dem Ziele der möglichsten
Bewusstseinsentwicklung, wo anlangend das Bewusstsein genügt, um das
gesamte aktuelle Wollen in das Nichts zurückzuschleudern, womit der Prozess und die Welt aufhört,
und zwar ohne irgendwelchen Rest aufhört, an welchem sich ein Prozess
weiterspinnen könnte. Das Logische macht also, dass die Welt eine
bestmögliche wird, nämlich eine solche, die zur Erlösung kommt, nicht
eine solche, deren Qual in unendlicher Dauer perpetuiert wird.
(Aus dem Zweiten Teil des 1869 erstmals erschienenen Werks)
ZUM TODESTAG DES NACHIDEALISTISCHEN DENKERS
Über den Autor (1842-1906)
(Aus dem Zweiten Teil des 1869 erstmals erschienenen Werks)
ZUM TODESTAG DES NACHIDEALISTISCHEN DENKERS
Über den Autor (1842-1906)
Mittwoch, 4. Juni 2014
Jakob Michael Reinhold Lenz: Anmerkungen übers Theater
Ich habe eine große Hochachtung für den Aristoteles, obwohl nicht für seinen Bart [...]. Aber da er hier von zwo
Quellen redet, aus denen die landüberschwemmende Poesie ihren Ursprung
genommen und gleichwohl nur auf die eine mit seinem kleinen krummen
Finger deutet, die andere aber unterm Bart behält (obwohl ich Ihnen auch
nicht dafür stehe, da ich, aufrichtig zu reden, ihn noch nicht ganz
durchgelesen) so ist mir ein Gedanke entstanden, der um Erlaubnis
bittet, ans Tageslicht zu kommen, denn einen Gedanken bei sich zu
behalten und eine glühende Kohle in der Hand [ist einerlei]. / [...] Unsere Seele ist ein Ding, dessen Wirkungen wie die des Körpers
sukzessiv sind, eine nach der andern. Woher das komme, das ist [die Frage] – soviel
ist gewiß, daß unsere Seele von ganzem Herzen wünscht, weder sukzessiv
zu erkennen noch zu wollen. Wir möchten mit einem Blick durch die
innerste Natur aller Wesen dringen, mit einer Empfindung alle Wonne, die
in der Natur ist, aufnehmen und mit uns vereinigen. Fragen Sie sich, meine Herren, wenn Sie mir nicht glauben wollen: woher die Unruhe, wenn Sie hie
und da eine Seite der Erkenntnis beklapst haben, das zitternde
Verlangen, das Ganze mit Ihrem Verstande zu umfassen, die lähmende
Furcht, wenn Sie zur andern Seite übergehn, werden Sie die erste wieder
aus dem Gedächtnis verlieren? Ebenso bei jedem Genuß, woher dieser
Sturm, das All zu erfassen, der Überdruß, wenn Ihrer keuchenden
Sehnsucht kein neuer Gegenstand übrigzubleiben scheint? Die Welt wird
für Sie arm, und Sie schwärmen nach Brücken. Den zitterlichsten Strahl
möcht Ihr Heißhunger bis in die Milchstraße verfolgen, und blendete das
erzürnte Schicksal Sie, wie Milton [der Autor des Verlorenen Paradieses] würden Sie sich in Chaos- und Nachtwelten wähnen, deren Zugang im Reich der Wirklichkeiten Ihnen versperrt ist. / Schließen Sie die Brust zu, wo mehr als eine Adamsrippe
rebellisch wird und kommen wieder hinüber mit mir in die lichten
Regionen des Verstandes. Wir suchen alle gern unsere zusammengesetzten
Begriffe in einfache zu reduzieren. Und warum das? Weil [der Verstand] sie dann
schneller und mehr zugleich umfassen kann. Aber trostlos wären wir,
wenn wir darüber das Anschauen und die Gegenwart dieser Erkenntnisse
verlieren sollten. Und das immerwährende Bestreben, all unsere
gesammelten Begriffe wieder auseinanderzuwickeln und durchzuschauen, sie
anschaulich und gegenwärtig zu machen, nehm ich als die zweite Quelle
der Poesie an.
(Aus der 1771 "in einer Gesellschaft guter Freunde" vorgetragenen Rede)
ZUM TODESTAG DES STURM-UND-DRANG-DICHTERS
Über den Autor (1751-1792)
(Aus der 1771 "in einer Gesellschaft guter Freunde" vorgetragenen Rede)
ZUM TODESTAG DES STURM-UND-DRANG-DICHTERS
Über den Autor (1751-1792)
Dienstag, 3. Juni 2014
Franz Kafka: Oktavhefte
Ich liebte ein Mädchen, das mich auch liebte, ich musste es aber verlassen.
Warum?
Ich weiß nicht. Es war so, als wäre sie von einem Kreis von Bewaffneten umgeben, welche die Lanzen nach auswärts hielten. Wann ich mich auch näherte, geriet ich in die Spitzen, wurde verwundet und musste zurück. Ich habe viel gelitten.
Das Mädchen hatte daran keine Schuld?
Ich glaube nicht, oder vielmehr, ich weiß es. Der vorige Vergleich war nicht vollständig, auch ich war von Bewaffneten umgeben, welche ihre Lanzen nach innen, also gegen mich hielten. Wenn ich zu dem Mädchen drängte, verfing ich mich zuerst in den Lanzen meiner Bewaffneten und kam schon hier nicht vorwärts. Vielleicht bin ich zu den Bewaffneten des Mädchens niemals gekommen und wenn ich hingekommen sein sollte, dann schon blutend von meinen Lanzen und ohne Besinnung.
Ist das Mädchen allein geblieben?
Nein, ein anderer ist zu ihr vorgedrungen, leicht und ungehindert. Ich habe, erschöpft von meinen Anstrengungen, so gleichgültig zugesehen, als wäre ich die Luft, durch die sich ihre Gesichter im ersten Kuss aneinanderlegten.
(Ein Text aus den im Winter 1916/17 gefüllten acht Heften)
ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1882-1924)
Warum?
Ich weiß nicht. Es war so, als wäre sie von einem Kreis von Bewaffneten umgeben, welche die Lanzen nach auswärts hielten. Wann ich mich auch näherte, geriet ich in die Spitzen, wurde verwundet und musste zurück. Ich habe viel gelitten.
Das Mädchen hatte daran keine Schuld?
Ich glaube nicht, oder vielmehr, ich weiß es. Der vorige Vergleich war nicht vollständig, auch ich war von Bewaffneten umgeben, welche ihre Lanzen nach innen, also gegen mich hielten. Wenn ich zu dem Mädchen drängte, verfing ich mich zuerst in den Lanzen meiner Bewaffneten und kam schon hier nicht vorwärts. Vielleicht bin ich zu den Bewaffneten des Mädchens niemals gekommen und wenn ich hingekommen sein sollte, dann schon blutend von meinen Lanzen und ohne Besinnung.
Ist das Mädchen allein geblieben?
Nein, ein anderer ist zu ihr vorgedrungen, leicht und ungehindert. Ich habe, erschöpft von meinen Anstrengungen, so gleichgültig zugesehen, als wäre ich die Luft, durch die sich ihre Gesichter im ersten Kuss aneinanderlegten.
(Ein Text aus den im Winter 1916/17 gefüllten acht Heften)
ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1882-1924)
Montag, 2. Juni 2014
Bess Brenck-Kalischer: Dichtung
In den Armen der Mühle hängen die bleichen Verwunschenen
Drehen langsam den Stein des Brotes,
Unendlich geduldig.
Rings im Lande jagen die Prasser,
Aber die bleichen Verwunschenen
Mahlen unendlich geduldig das Korn.
Fängt ein Sturm ihre langen Ärmel
Sinken sie stumm in die heilige Erde.
Schicken von neuem bleiche Gesellen
Den Armen der Mühle
Geduldig, unendlich,
Verwunschen.
Unendlich geduldig.
Rings im Lande jagen die Prasser,
Aber die bleichen Verwunschenen
Mahlen unendlich geduldig das Korn.
Fängt ein Sturm ihre langen Ärmel
Sinken sie stumm in die heilige Erde.
Schicken von neuem bleiche Gesellen
Den Armen der Mühle
Geduldig, unendlich,
Verwunschen.
(Gedicht "Verwunschene" aus dem 1917 erstmals erschienenen Sammelband)
ZUM TODESTAG DER DICHTERIN
Sonntag, 1. Juni 2014
Ödön von Horvath: Der Gedanke. Ein Märchen
Gestern begegnete ich einem Gedanken. / Ich war gerade spazieren und wollte wieder zurück, weil ich
anfing, hungrig zu werden, und außerdem dachte ich, jetzt wirds bald
regnen, denn der Himmel hatte sich bezogen. / Da traf ich, wie gesagt, einen Gedanken. Ich weiß noch genau
die Stelle, wo es war. Dort, wo der Wald aufhört, beginnt aufzuhören. / Ich bemerkte den Gedanken nicht sogleich, erst als er an mir
vorbeiging und mich ansah – da hielt ich unwillkürlich, ich hatte so
etwas schönes noch nie gesehen! / Ich konnt mich zuerst gar nicht rühren vor Überraschung. Und
dann war der Gedanke an mir vorbei. Ich lief ihm nach und fand ihn
nirgends – er war weg. / Zu dumm! / Ich ärgerte mich, wie kann man nur so blöd sein und so einen schönen Gedanken vergessen! / Und ich strengte mich an, dass er mir einfallen möge wieder,
aber er blieb aus. Er kam nicht wieder. Ich lief ihm nach an vielen
platten Gedanken vorbei, hübschen und nicht hübschen, hässlichen, es
kamen mir inzwischen auch neue Gedanken, ich traf auch neue, fremde
wurden mir vorgestellt. Aber der Gedanke, den ich suchte, blieb mir
fern. Und ich wusste, ich brauche ihn, auf diesen Gedanken habe ich immer
schon gewartet. / Aber es sollte nicht sein! / Ich gab die Hoffnung schon auf und unterhielt mich mit anderen
Gedanken. Gedanken, die aus dem Schnaps kommen, aus Wein und Bier, aus
einem guten Braten, aus einer hohen Kirche, vom Markt – kurz allerhand
Kraut und Rüben. / Aber ganz heimlich in mir blieb die Sehnsucht wach nach dem einen großen Gedanken – / Ob ich ihn jemals wiedersehen werde? / Manchmal
dachte ich schon, ich hätte ihn wieder, aber das war alles Täuschung.
Vielleicht war eine gewisse Ähnlichkeit vorhanden, aber er war es nicht. / Und ich wurde immer trauriger über den schönen Gedanken. Ich
wusste, wenn ich ihn wiederhabe, dann darf mich die ganze Welt gern
haben. / Dann pfeif ich auf alles. / Und dann kam ein Gedanke, es war ein sehr gescheiter belesener
Gedanke, der sagte: Hör mal, ich glaub, das war gar kein Gedanke, mir
scheint, das war eher ein Gefühl – / Ein Gefühl? Dass ich nicht lache! / Lacht nicht! Man kann das oft nicht so genau unterscheiden – es
gibt Grenzen, man meint, man hat ein Gefühl, und derweil denkt man nur,
und einen Gedanken, und derweil ist das alles nur Gefühl! / Ich verbitte mir das! Ich werde wohl noch einen Gedanken von einem Gefühl unterscheiden können! / Abwarten! Was bin zum Beispiel ich?
Es gibt keinen ganz reinen Gedanken, immer ist auch irgendwo
versteckt ein paar Prozent Gefühl und umgekehrt! Aber den Gedanken, den
ich traf und vergessen habe, das war der reinste Gedanke! Und drum sehn
ich mich auch so mit ganzem Herzen nach ihm. // Er starb. Und als der Engel des Todes kam, sagte er: Ach, du bist ja mein Gedanke – / Ja, sagte er, ich bin mal an dir vorbei und hab mir gedacht,
soll dich jetzt der Schlag treffen oder nicht? Dann hab ichs mir
überlegt. Ich bin weder ein Gedanke, noch ein Gefühl, ich bin der
Friede! Friede auf Erden den Menschen, die unter der Erde liegen! Komm,
ich bin das Nichts. Drum hast du mich auch vergessen. Denn ein Nichts
kann man nicht behalten.
(Postum erschienener Prosatext)
ZUM TODESTAG DES ÖSTERREICH-UNGARISCHEN SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1901-1938)
(Postum erschienener Prosatext)
ZUM TODESTAG DES ÖSTERREICH-UNGARISCHEN SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1901-1938)
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