Montag, 30. Juni 2014

Friedrich Theodor Fischer: Faust. Der Tragödie dritter Teil

Ich bin das Lieschen, das am Brunnentrog
Einst des Gespräches mit dem Gretchen pflog.
Erinnert euch, wie sie aus meinem Munde
Vom Bärbelchen vernahm die schlimme Kunde.
Weil ich nun damals so moralisch sprach,
Ließ mir der Herr in seiner großen Gnade
Des Fegefeuers heiße Qualen nach
Und läutert mich auf minder hartem Pfade.
Er wählte mich nach meines Lebens Endung
Zu sonderlich bedeutungsvoller Sendung,
Ernannte mich zu hochgewicht'ger Stelle:
Im Himmelsvorraum, an der heil'gen Schwelle
Darf ich als Fausti Seelenfreundin leben,
Bis wir gereift, ins Heiligtum zu schweben.
Das arme Gretchen, das zu hart gebüßt:
Ihr ist jedwede Läuterung erlassen,
Als sel'ger Geist ward sie schon längst begrüßt
Im sel'gen Kreis, den keine Worte fassen,
Sie wohnt in der Verklärten Sitz
Zu hoch für eines Dichters Witz.
Vernehmet nun, was ich getreu berichte
Von Doktor Fausts seitheriger Geschichte.
Als er zum Himmelseingang ward erhoben,
Erklang ein Ruf posaunenhaft von oben:
»Es hat nicht ohne Recht
Der Kritiker Geschlecht,
Voran der Geist, der stets verneint
Und stets als ihr Regent erscheint,
Den scharfen Einwand vorgebracht,
Der viele Leser stutzig macht,
Der Geisterwelt präsentes edles Glied,
Nicht ganz so strebend hab' es sich bemüht,
Als nötig, es zu retten
Aus Satans Ketten;
Darum ward resolvieret,
Wird hiemit dekretieret:
Faust soll vorerst dahüben
Noch eine Zeit sich üben,
Soll zur Erinnrung an sein Amt auf Erden
Im mystischen Vorraum vor dem höchsten Himmel
Bei sel'ger Knaben munterem Gewimmel
Präzeptor werden!
Dies soll mit gewissen Entbehrungen,
Mit prüfenden Erschwerungen,
Mit Lockungen, die wir nach unserem Plan
Dem Satan selbst bewilligt han,
Verbunden sein!
Und obendrein
Erfolgen dann weitere Übungen,
Versuchende heilsame Trübungen,
Zum Schluß ein läuternder Prozeß,
Was noch verhüllt bleibt unterdes.
Dies soll ergehn über unsern Knecht!
Conclusum! Vidit! Es ist recht.« –
Erlaubt, daß ich hier nebenbei bemerke,
Ein Wink in Goethes eignem Dichterwerke
Sei als Motiv, worauf der Spruch sich stützt,
Vom höchsten Consistorium benützt:
Da Fausti Seele – freilich fast zu prompt –
Mit Engelpost zur Himmelspforte kommt,
Im Puppenstande zwar zunächst,
Dann aber reißend schnelle wächst,
So singen dort die sel'gen Knaben –
Ihr werdet's ja gelesen haben
Und kennt den pädagogisch schönen Text:
        »Er überwächst uns schon
        An mächtigen Gliedern,
        Wird treuer Pflege Lohn
        Reichlich erwidern.
        Wir wurden früh entfernt
        Von Lebechören,
        Doch dieser hat gelernt,
        Er wird uns lehren.«
Was nun das himmlische Dekret
Unter den Prüfungen versteht,
Die an den neuen Stand sich knüpfen
Nebst andern, die dann weiter folgen sollen:
Laßt nur das Drama weiter hüpfen,
So wird sich alles euch entrollen.
Ich melde jetzt – ihr werdet es verlangen –
Genauer, was mit mir ist vorgegangen.
Nicht fern von diesem himmelnahen Ort
Steht ein Gebäude, edler Bildung Port,
Ein Institut, Feld für Erziehungssaat,
Vorhimmlisches Töchterpensionat,
Wo man das Herz sowohl als auch den Geist
Im Guten, Wahren, Schönen unterweist.
Da wird der Sinn geseiet und gesichtet,
Im deutschen Stil, in Logik und Musik,
Literatur, Kritik sowie Physik,
Vor allem in der Unschuld unterrichtet.
»Religion für Töchter« war die Blume
Des Unterrichts. Des Herrn Direktors Muhme
Trug sie uns vor; wie tief und klar,
Ich vergeß es nie!
Ihr schöner Standpunkt war
Gemäßigt freisinnige Theologie. –
Manch Gröbliches, was mir vom alten Stande
Noch anhing, tat mir ab die Gouvernante.
Wahr ist es leider, daß ich gerne klatschte,
Wenn ich mit andern zu dem Brunnen patschte;
Weit hinter mir mit Gelte und mit Krug
Liegt jetzo dieser lasterhafte Zug.
Ich reifte, machte mein Examen,
Und als den Faust hieher die Engel nahmen,
Ward ich als Hausverwalterin,
Als weise Unterhalterin,
Als Warnerin, als Mahnerin,
Vollkommenheitsanbahnerin
Dem Waller nach dem Himmelszelt
In Gnaden beigesellt.
Doch ob der Anstalt zu Herrn Doktors Essen
Hätt' ich noch einen Hauptpunkt fast vergessen.
Der gute Valentin! Da muß ich nun
Vom Bärbelchen zugleich Erwähnung tun:
Der Valentin, kein andrer, war ihr Schatz,
Ein Leichtfuß schien er mir, ein Flatterspatz;
Ich sprach: »Er ist ein flinker Jung,
Hat anderwärts noch Luft genung.«
Wie unrecht! Er war treu! Allein er fiel,
Und Treu und Leben fand ein frühes Ziel.
Und als zu ihr die Trauerkunde kam,
Sie trug es nicht, die Arme starb vor Gram.
Doch ihm und ihr war für so schweres Leid
Entschädigung von seltner Art bereit:
Er durfte hier am Rand der Himmelshallen
Für müde Pilger, die zum Gipfel wallen,
Ein Wirtshaus, eine Brauerei errichten,
Wohin zur Labung kurze Zeit sie flüchten.
Die Bärbel kocht, er schenkt, und alle Gäste
Befinden sich, so hört man, auf das beste.
Jedoch für meinen guten Faust,
Der hier so friedlich mit mir haust,
Ist dieser Umstand keine Kleinigkeit.
Warum? Die Antwort ist bereit,
Der nächste Auftritt bringt sie schon
Mit mächtiger Sensation.
Hiemit sind dann die Proben eingeläutet,
Die jener Ausspruch dunkel angedeutet.
Ach Gott, mir ist es angst und bang
Vor dem geahnten Sturm und Drang!
Doch schimmert Licht des Trostes in die Nacht,
Ein Himmelsbote hat es überbracht:
Es ist ein milder Zusatzparagraph
Zum strengen Machtwort, das den Teuren traf:
Der Valentin, der handfest tücht'ge Klopfer,
Auf Erden einst des Fausti blut'ges Opfer,
Jetzt christlich ihm versöhnt nach Möglichkeit,
Soll ihm zur Hülfe, wenn die schwersten Proben
Ihn etwan aus dem Gleichgewicht geschoben,
Mit seiner Muskel Boxkraft sein bereit.
Seht hier die Klingel: kommt's zu schwer,
So darf ich ziehn und er eilt her.
Genug, es ist des Mittagessens Hora,
Euch grüßt des Schauspiels Chorus oder Chora. 

(Beginn des 1862 erschienenen satirischen Theaterstücks)

ZUM GEBURTSTAG DES LITERATURWISSENSCHAFTLERS

Über den Autor (1807-1887)

Sonntag, 29. Juni 2014

Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie

Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, Beiträge zu einer Kritik der Sprache zu geben, halte ich nach wie vor für die wichtigste Aufgabe der Erkenntnistheorie. Ich weiß, dass dieses Pensum über die Kraft eines Menschen geht, eigentlich über die Kraft des Menschen. Ich muss zufrieden sein, entscheidende Anregungen für diese neue Disziplin geboten zu haben. Ich kann in diesem Wörterbuch nicht noch einmal abdrucken, was ich in meiner »Kritik der Sprache« auf mehr als 2000 Seiten vorgetragen habe: über die Psychologie der Sprache, über die Sprachwissenschaft, über das Verhältnis der Sprache zur Grammatik und Logik; ich kann nicht noch einmal drucken lassen, was ich in dem kleinen Buche »Die Sprache« über das Verhältnis der Sprache zur sog. Völkerpsychologie ausgeführt habe. Auch was ich in den letzten zehn Jahren (seit dem Erscheinen meiner Sprachkritik) hinzugelernt habe, das darzustellen, würde noch weit über die Ausdehnung eines der Stücke dieses Buches hinausgehen. Einzelne mir wichtig erscheinende Ergänzungen findet man überall, besonders in den Artikeln: adjektivische, substantivische und verbale Welt. Das Verhältnis zwischen Denken und Sprechen ist gründlicher dargestellt in der dritten Auflage des I. Bandes meiner »Kritik der Sprache« (S. 230 ff.). / Recht viel hätte ich allerdings zu sagen, und zur Sache, wenn ich darüber berichten wollte, wie sich die Gelehrten-Republik – die wie andere große Republiken die Interessen der Führer für Interessen des Ganzen erklärt und zu schützen sucht – zu meinen sprachkritischen Gedanken (einzelne Forscher abgerechnet) gestellt hat. Ich wäre aber nicht ehrlich, wenn ich über diese Erfahrung im Tone grimmiger Bitterkeit reden wollte. Ich freute mich ja des Erfolges: dass mir liebe Schriftsteller und Dichter einige Ideen meiner Sprachkritik zu den ihren gemacht haben; dass einige Sprachforscher und Philosophen, also die Leute, die es angeht, nachweisbar manche Anschauungen nach meiner Sprachkritik korrigiert haben. Dass diese gelehrten Herren meinen Namen gern verschweigen, mag unerfreulich sein für sie selbst, ist mir aber nur nützlich. Was meine kleine Eitelkeit dabei verliert, das gewinnt zwiefach mein großer Stolz. / Es kommt auch vor, dass ein besonders korrekter Gelehrter zwar die Sprachkritik als eine neue Disziplin anerkennt, meine Sprachkritik aber der öffentlichen Verachtung preisgibt. Zum Ergötzen meiner Leser will ich einen solchen Fall höher hängen. Herr O. Dittrich sagt in seinen »Grundzügen der Sprachpsychologie« (I, S. 63), die eigentliche Domäne der Sprachphilosophie bleibe immer die Sprachlogik, -ethik(?) und -ästhetik, sowie die Sprachkritik, fügt aber in einer Anmerkung hinzu: »Mit der rein negativen Kritik, wie sie F. Mauthner in seinen dreibändigen Beiträgen zu einer Kritik der Sprache auf Grund ebenso unvollkommener sprachwissenschaftlicher wie psychologischer und philosophischer Kenntnis geliefert hat, dürfen die oben gemeinten Bestrebungen natürlich nicht verwechselt werden.« Natürlich nicht! Man muss doch zwischen meiner falschen Sprachkritik und der richtigen unterscheiden! / Nun hat es aber vor meinen »Beiträgen« irgend ein Buch, das auch nur entfernt so etwas wie eine Disziplin der Sprachkritik gelehrt hätte, nicht gegeben; ja sogar die Wortfolge »Kritik der Sprache« war nur sehr selten gebraucht worden, die Stellen waren völlig unbeachtet geblieben, bis ich in den historischen Exkursen meines Buches auf sie hingewiesen hatte. Ich kann den Herren (in ihrem Interesse) nur den Rat geben, für die neue Disziplin einen andern Namen als »Kritik der Sprache« zu erfinden, wenn sie meine Arbeit gar nicht mehr genannt wissen wollen. Es war ja auch ein deutscher Buchhändler, der auf den hübschen Einfall kam, das neu entdeckte Amerika nach dem fleißigen Schreiber Amerigo Vespucci zu nennen, anstatt nach dem unzünftigen Kolumbus. Herr O. Dittrich, dessen Lebensaufgabe es bisher war, seinen Meister Wundt recht oft »epochemachend« zu nennen, wäre der rechte Mann für eine solche Namensfindung. Man entschuldige den Scherz: ungerechtes Urteil macht hochmütig.

(Artikel "Sprachkritik" in dem 1923 erweitert erschienenen Nachschlagewerk)

ZUM TODESTAG DES PHILOSOPHEN

Samstag, 28. Juni 2014

Otto Julius Bierbaum: Eine empfindsame Reise im Automobil

Wenn jemand eine Reise tut, / So kann er was erzählen / sagt Herr Urian, und ich füge hinzu: er kann’s nicht bloß, er will’s meist auch. Das Erzählen in langen und breiten Briefen aber, wie und es hier verübt habe, ist im allgemeinen aus der Mode gekommen. Erstens wohl, weil das Reisen nichts weiter besonderes mehr ist, dann, weil man heute überhaupt nicht mehr gerne lange Briefe schreibt, und schließlich, weil es überall Ansichtspostkarten gibt. Wenn ich trotzdem diese Briefe geschrieben und mich sozusagen in einen gewissen Gegensatz zu meinen Zeitgenossen gebracht habe, so ist dies nicht lediglich aus der bösen Lust am Andersmachen zu erklären, sondern, vielleicht, zu entschuldigen durch folgende drei Umstände. Erstens: Meine Reise war etwas Besonderes. Zweitens: Ich schreibe gerne lange Briefe. Drittens: Auf den Ansichtspostkarten ist so schrecklich wenig Platz, dass sie meinem Mitteilungsbedürfnis nicht genügen. / Der Hauptgrund ist natürlich der erste. Es wird zwar, wie ich glaube, nicht mehr lange dauern, und das Reisen im Automobil ist etwas Gewöhnliches; vor der Hand aber gehören längere Reisen dieser Art noch zu den Seltenheiten. Die vorliegende Schilderung eines solchen Unternehmens ist, soviel ich weiß, die erste, die in Deutschland als Buch veröffentlicht wird. Nur in Sportszeitungen bin ich kürzeren Beschreibungen längerer Touren begegnet, und bei ihnen handelte es sich fast ausschließlich um Äußerungen rein sportlichen Interesses. Meine Reise aber hat mit dem Automobilsport als solchem nicht viel zu tun, – sonst hätte ich sie nicht als eine empfindsame Reise bezeichnen können, denn was ein richtiger „Automobilist“ ist, der kennt die Empfindsamkeit nicht. Ich meine das Wort natürlich in seiner alten Bedeutung und nicht in dem Sinne von Sentimentalität, den es jetzt angenommen hat. Empfindsamkeit heißt mit der Zustand und die Gabe stets bereiter Empfänglichkeit für alles, was auf die Empfindung wirkt, die Fähigkeit und Bereitschaft, neue Eindrücke frisch und stark aufzunehmen. Mit offenen, wachen, allen Erscheinungen des Lebens, der Natur zugewandten Sinnen reisen nenne ich empfindsam reisen, und dieses Reisen allein erscheint mir als das wirkliche Reisen, wert und dazu angetan, zur Kunst erhoben zu werden. Doch darüber wird man in diesen Briefen meine Meinung öfter vernehmen, und ich hoffe, dass dieses Buch meine Leser davon überzeugen wird, dass wir jetzt im Automobil das Mittel an der Hand haben, die Kunst des Reisens aufs neue zu pflegen und noch weiter zu führen, als es ihr in der Zeit der Reisekutschen beschieden gewesen ist, denen unsre Vorfahren Genüssen zu verdanken gehabt haben, wie sie der Eisenbahnreisende nicht einmal ahnt. Der gewöhnliche „Automobilist“ allerdings auch nicht; der ist dazu zu sehr Sportsman. Erst, wenn der Automobilismus aufhört, ausschließlich ein Sport zu sein, wird er für die Kunst des Reisens das bedeuten, was seine eigentliche Bestimmung ist. / Ich möchte nicht missverstanden werden: Ich unterschätze die Bedeutung des Automobilsports für die Entwickelung der Sache keineswegs, schlage sie vielmehr hoch an und lasse mich darin auch durch die Auswüchse des Rennwagenwesens nicht irre machen. Dieses wird für die Motorwagenindustrie immer die Bedeutung haben, die der Rennpferdesport für die Pferdezucht hat. Aber das Eigentliche dieser großen neuen Erscheinung, die den Rang eines starken Kulturfaktors hat, liegt nicht im Sport. Der hat nur Experimentalwert. In der Ausnutzung seiner Resultate für das allgemeine, in seiner Übersetzung ins praktische Leben liegt die Zukunft des Automobilismus. / Meine Reise war der Versuch einer praktischen Probe auf das Exempel des Sports, und ich bringe ihre Schilderung vor die Öffentlichkeit, weil sie gelungen ist, und zwar gelungen nicht mit einem der Millionärsvehikel, die nur Portemonnaiegranden erschwinglich sind, sondern mit einem leichten, billigen Wagen. – Für mich wäre er freilich immer noch zu teuer gewesen, und so will ich, um mich keiner Vorspiegelung falscher Tatsachen schuldig zu machen, und um gleichzeitig gebührenden Dank auszusprechen, zum Schlusse nicht verhehlen, dass ich die Möglichkeit, diesen angenehmen Versuch zu machen, nicht meinen Einkünften als deutscher Dichter, sondern der Freundlichkeit des Verlags August Scherl G. m. b. H. verdanke, der mir den Wagen für die Dauer der Reise zur Verfügung gestellt hat.

(Vorwort zum 1903 erschienenen Brieftagebuch)

ZUM  GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1865-1910)

Freitag, 27. Juni 2014

Johann Valentin Andreae: Chymische Hochzeit

An einem Abend vor dem Ostertag saß ich an einem Tisch, und wie ich mich meiner Gewohnheit nach mit meinem Schöpfer in meinem demütigen Gebet genugsam besprochen und vielen großen Geheimnissen (deren mich der Vater des Lichts seine Majestät nicht wenig sehen ließ) nachgedacht, auch nun mir mit meinem lieben Osterlämmlein ein ungesäuert unbeflecktes Küchlein in meinem Herzen zubereiten wollte, kam auf einmal ein solch grausamer Wind daher, dass ich nicht anders meinte, als dass der Berg, darin mein Häuslein gegraben, vor großer Gewalt zerspringen müsste. Weil mir aber solches und dergleichen der Teufel (der mir manch Leids getan) nicht antat, fasste ich Mut und blieb in meiner Meditation, bis mir wider meine Gewohnheit jemand auf den Rücken klopfte, wovon ich dermaßen erschrak, dass ich mich kaum umzusehen wagte, noch stellte ich mich so freudig, wie menschliche Schwachheit zu dergleichen Sachen sein kann. Und wie mich solch Ding zu etlichen Malen beim Rock zupfte, drehte ich mich um: da war es ein schöne herrliche Frau, deren Kleid ganz blau und mit goldenen Sternen wie der Himmel zierlich versetzt war. In der rechten Hand trug sie eine Posaune aus purem Gold, darauf ein Name gestochen war, den ich wohl lesen konnte, mir aber nochmals zu offenbaren verboten worden ist: In der linken Hand hatte sie ein großes Bündel Briefe von allerlei Sprachen, die sie (wie ich hernach erfahren) in alle Länder tragen musste: Sie hatte aber auch Flügel, groß und schön, voller Augen durch und durch, mit denen sie sich aufschwingen und schneller als jeder Adler fliegen konnte. Ich hätte vielleicht noch mehr an ihr bemerken können, aber weil sie so kurz bei mir blieb und noch aller Schreck und Verwunderung in mir steckte, muss ich's so sein lassen. Dann sah ich sie in ihren Briefen blättern und endlich ein kleines Brieflein herausziehen, welches sie mit großer Reverenz auf den Tisch legte; und ohne ein Wort entwich sie mir. Im Aufschwingen aber stieß sie so kräftig in ihre schöne Posaune, dass der ganze Berg davon erhallte und ich fast eine Viertelstunde lang mein eigenes Wort kaum mehr hörte. In solch unversehenem Abenteuer wusste ich mir Armen selbst weder zu raten noch zu helfen, fiel deswegen auf meine Knie und bat meinen Schöpfer, er wolle mir nichts wider mein ewiges Heil zugehen lassen; ging darauf mit Furcht und Zittern zu dem Brieflein, das nun so schwer war, das, wenn es lauter Gold gewesen wäre, kaum so schwer hätte sein können.

(Anfang des 1616 erschienenen alchemistischen Romans)

ZUM TODESTAG DES THEOLOGEN

Über den Autor (1586-1654)

Donnerstag, 26. Juni 2014

Karl Philipp Moritz: Anton Reiser

Dieser psychologische Roman könnte auch allenfalls eine Biographie genannt werden, weil die Beobachtungen größtenteils aus dem wirklichen Leben genommen sind. – Wer den Lauf der menschlichen Dinge kennt und weiß, wie dasjenige oft im Fortgange des Lebens sehr wichtig werden kann, was anfänglich klein und unbedeutend schien, der wird sich an die anscheinende Geringfügigkeit mancher Umstände, die hier erzählt werden, nicht stoßen. Auch wird man in einem Buche, welches vorzüglich die innere Geschichte des Menschen schildern soll, keine große Mannigfaltigkeit der Charaktere erwarten; denn es soll die vorstellende Kraft nicht verteilen, sondern sie zusammendrängen und den Blick der Seele in sich selber schärfen. – Freilich ist dies nun keine so leichte Sache, dass gerade jeder Versuch darin glücken muss – aber wenigstens wird doch vorzüglich in pädagogischer Rücksicht das Bestreben nie ganz unnütz sein, die Aufmerksamkeit des Menschen mehr auf den Menschen selbst zu heften und ihm sein individuelles Dasein wichtiger zu machen.

(Vorrede zu dem 1785 erschienenen Werk)

ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1756-1793

Mittwoch, 25. Juni 2014

Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum

Trachten Wir nicht nach der Gemeinschaft, sondern nach der Einseitigkeit. Suchen Wir nicht die umfassendste Gemeinde, die "menschliche Gesellschaft", sondern suchen Wir in den Andern nur Mittel und Organe, die Wir als unser Eigentum gebrauchen! Wie Wir im Baume, im Tiere nicht Unsersgleichen erblicken, so entspringt die Voraussetzung, dass die Andern Unsersgleichen seien, einer Heuchelei. Es ist Keiner Meinesgleichen, sondern gleich allen andern Wesen betrachte Ich ihn als mein Eigentum. Dagegen sagt man Mir, Ich soll Mensch unter "Mitmenschen" sein; Ich soll in ihnen den Mitmenschen "respektieren". Es ist Keiner für mich eine Respektsperson, auch der Mitmensch nicht, sondern lediglich wie andere Wesen ein Gegenstand, für den Ich Teilnahme habe oder auch nicht, ein interessanter oder uninteressanter Gegenstand, ein brauchbares oder unbrauchbares Subjekt. / Und wenn ich Ihn gebrauchen kann, so verständige Ich wohl und einige Mich mit ihm, um durch die Übereinkunft meine Macht zu verstärken und durch gemeinsame Gewalt mehr zu leisten als die einzelne bewirken könnte. In dieser Gemeinsamkeit sehe Ich durchaus nichts anderes als eine Multiplikation meiner Kraft, und nur solange sie meine vervielfachte Kraft ist, behalte Ich sie bei.

(Aus dem 1844 erschienenen Werk)

ZUM TODESTAG DES ETHISCHEN EGOISTEN

Über den Autor (1806-1856)

Dienstag, 24. Juni 2014

Walther Rathenau vor einem geladenen Kreis aller Parteien

Gestatten Sie es einem rein praktischen Politiker, gestatten Sie es demjenigen, dem die Aufgabe obliegt, gerade in diesem Augenblick das Werk der Verträge, das Werk der Beziehungen zu pflegen, gestatten Sie in diesem Augenblick das Wort auszusprechen: Nicht Verhandlungen machen uns gesund und nicht Verträge, sondern die Gesundheit eines Volkes kommt nur aus seinem inneren Leben, aus dem Leben seiner Seele und seines Geistes. Dieses Leben ist gefährdet, aber es ist nicht zu Tode getroffen. Es gibt vieles, was unser seelisch-geistiges Leben schädigt – ich brauche nur an das zu erinnern, was wir in unseren großen Städten und an anderen Stellen im Lande sehen –, aber unser seelisch-geistiges Leben ist in seinen Tiefen gesund. Noch immer lebt dieser Wille zur Arbeit, zur Disziplin, zur Organisation, zur Forschung, noch immer lebt der Wille zur Hingebung und zum Opfer, zur Betrachtung der Erscheinung im großen Bogen der Synthese und Zusammenfassung; noch immer sind die großen Kräfte des Geistes und Herzens ungebrochen und unberührt. Unserer Jugend haben wir diese Kräfte zu übergeben, sie ist die Trägerin und Pflegerin dieser Kräfte, und wir wollen hoffen, dass sie diese größte und schwerste Verantwortung der Gegenwart erfüllt. Manches wird sie in diesem Fall abzustreifen haben, denn nicht aus dem Kampfe des Tages erwachsen diese Kräfte; diese Kräfte erwachsen aus der Versenkung und Vertiefung. Deswegen lassen wir unsere Jugend nicht untergehen in den Kämpfen des Tages, weisen wir sie hin auf die großen Ideale der Vergangenheit und führen wir sie zu den Idealen der Zukunft.

(Aus der am 9. Juni 1922, zwei Wochen vor seiner Ermordung gehaltenen Stuttgarter Rede)

ZUM TODESTAG DES POLITIKERS

Über den Autor (1867-1922)

Montag, 23. Juni 2014

Charlotte Birch-Pfeiffer: Johannes Gutenberg

GUTENBERG der plötzlich begreift, kummervoll. Ach nun – ja so, so ist das! Pause. Er winkt Lorenz, der hinausgeht, geht dann ein paarmal hin und her, tritt endlich vor Käthchen bin, die noch immer mit bedecktem Gesichte dasteht. Armes, armes Käthchen! Ach, es wird mir schwer, die Lippen zu öffnen und in einer Wunde zu wühlen, die noch immer blutet! – Käthchen, ich habe ein Weib.
KÄTHE lässt die Hände vom Gesicht fallen, starrt ihn sprachlos an, fasst endlich nach der Lehne des Stuhls und stammelt. O Du mein lieber Gott! –
GUTENBERG umfasst sie und lässt sie sanft in den Stuhl gleiten. Seid stark, Käthchen, gutes treues Kind, mein Herz ist zum Zerspringen voll, raubt mir nicht die Kraft, die mir nötig, um zu sagen, was ich muss!
KÄTHE kaum hörbar. Und wo – wo ist – Euer Weib?
GUTENBERG. Bei ihren Eltern, im Elsaß, sie hat mich verlassen!
KÄTHE starrt ihn an. Verlassen – Euch – o nimmermehr!
GUTENBERG mit einem schweren Seufzer. Sie tat's! –
KÄTHE schüttelt den Kopf. Dann liebte sie Euch nicht!
GUTENBERG. Doch, Käthchen, sie liebte mich innig! Aber Irrwahn und Aberglaube waren stärker als ihre Liebe, und sie verließ mich! geängstigt durch heillose Pfaffen, ging sie in's Elend, ihre Seele zu retten. Ich habe seitdem ihren Namen nicht mehr ausgesprochen. Niemand weiß, wie elend ich bin, wer achtet auch des armen finstern Mannes, der ohne Klage still seines Weges geht? Ich bin der bedauerungswerteste Mensch, seitdem ich sie verlor, denn ich – kann sie nie vergessen! Er legt die Hand über die Augen.
KÄTHE zuckt zusammen und fährt mit dem Ausdruck des tiefsten Schmerzes nach dem Herzen. Nach einer kleinen Pause steht sie auf, tritt vor ihn hin, fasst seine beiden Hände, und sagt, mit Tränen kämpfend, aber doch fest. Gott tröste Euch, lieber Herr, Ihr seid sehr unglücklich! – Doch Eure Wunden werden heilen, Gottes Vaterhand heilt ja alle zerrissene Herzen, Mit geheimer Beziehung. wenn auch nicht hier!

(Aus der Zweiten Abteilung des 1835 uraufgeführten Dramas)

ZUM GEBURTSTAG DER SCHREIBENDEN SCHAUSPIELERIN

Über die Autorin (1800-1868)

Sonntag, 22. Juni 2014

Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues

Wenn man bedenkt, wie auf die jedesmalige Generation in einem Volk alles das bindend einwirkt, was die Sprache desselben alle vorigen Jahrhunderte hindurch erfahren hat, und wie damit nur die Kraft der einzelnen Generation in Berührung tritt und diese nicht einmal rein, da das aufwachsende und abtretende Geschlecht untermischt nebeneinander leben, so wird klar, wie gering eigentlich die Kraft des Einzelnen gegen die Macht der Sprache ist. Nur durch die ungemeine Bildsamkeit der letzteren, durch die Möglichkeit, ihre Formen, dem allgemeinen Verständnis unbeschadet, auf sehr verschiedene Weise aufzunehmen, und durch die Gewalt, welche alles lebendig Geistige über das tot Überlieferte ausübt, wird das Gleichgewicht wieder einigermaßen hergestellt. Doch ist es immer die Sprache, in welcher jeder Einzelne am lebendigsten fühlt, dass er nichts als ein Ausfluss des ganzen Menschengeschlechts ist. Nur weil doch jeder einzeln und unaufhörlich auf sie zurückwirkt, bringt dem ungeachtet jede Generation eine Veränderung in ihr hervor, die sich nur oft der Beobachtung entzieht. Denn die Veränderung liegt nicht immer in den Wörtern und Formen selbst, sondern bisweilen nur in dem anders modifizierten Gebrauche derselben, und dies letztere ist, wo Schrift und Literatur mangeln, schwieriger wahrzunehmen.

(Aus dem Zweiten Abschnitt der 1836 postum als Sonderdruck erschienenen Einleitung zu dem dreibändigen Werk "Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java")

ZUM GEBURTSTAG DES GELEHRTEN

Über den Autor (1767-1835)

Samstag, 21. Juni 2014

Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten

Wir wollen annehmen, dass wir einem Unbekannten ein Kartenspiel anböten. Wenn dieser uns antwortete: Ich spiele nicht, so würden wir dies entweder auslegen müssen, dass er das Spiel nicht verstünde, oder eine Abneigung dagegen hätte, die in ökonomischen, sittlichen oder andern Gründen liegen mag. Gesetzt aber, ein ehrlicher Mann, von dem man wüsste, dass er alle mögliche Stärke im Spiel besäße und in den Regeln so wohl als verbotenen Künsten desselben bewandert wäre, der ein Spiel aber niemals anders als auf den Fuß eines unschuldigen Zeitvertreibes lieben und treiben könnte, würde in einer Gesellschaft von feinen Betrügern, die für gute Spieler gelten und denen er von beiden Seiten gewachsen wäre, zu einer Partie mit ihnen aufgefordert. Wenn dieser sagte: Ich spiele nicht, so würden wir mit ihm den Leuten ins Gesicht sehen müssen, mit denen er redet, und seine Worte also ergänzen können: » Ich spiele nicht, nämlich mit solchen, als ihr seid, welche die Gesetze des Spiels brechen und das Glück desselben stehlen. Wenn ihr ein Spiel anbietet, so ist unser gegenseitiger Vergleich, den Eigensinn des Zufalls für unsern Meister zu erkennen, und ihr nennt die Wissenschaft eurer geschwinden Finger Zufall, und ich muss ihn dafür annehmen, wenn ich will, oder die Gefahr wagen, euch zu beleidigen, oder die Schande wählen, euch nachzuahmen. Hättet ihr mir den Antrag getan, miteinander zu versuchen, wer der beste Taschenspieler von uns in Karten wäre, so hätte ich anders antworten und vielleicht mitspielen wollen, um euch zu zeigen, dass ihr so schlecht gelernt habt Karten machen, als ihr versteht, die euch gegeben werden, nach der Kunst zu werfen.« In diese rauhen Töne lässt sich die Meinung des Sokrates auflösen, wenn er den Sophisten, den Gelehrten seiner Zeit, sagte: Ich weiß nichts. Daher kam es, dass dies Wort ein Dorn in ihren Augen und eine Geißel auf ihren Rücken war. Alle Einfälle des Sokrates, die nichts als Auswürfe und Absonderungen seiner Unwissenheit waren, schienen ihnen so fürchterlich als die Haare an dem Haupte Medusens, dem Nabel der Ägide.

(Aus dem Zweiten Abschnitt der 1759 erschienenen Schrift)

ZUM TODESTAG DES PHILOSOPHEN

Über den Autor (1730-1788)

Freitag, 20. Juni 2014

Clara Zetkin: Briefe

Verehrter, teurer Genosse Lenin! / Dass ich nach Ihnen über die russische Revolution sprechen soll, ist ein großes Wagnis, ja ein Stück Unverschämtheit. Ich würde es nicht tun, wenn ich mich nicht als guter Kommunist der Parteidisziplin fügte und die Meinung als richtig anerkennen muss, dass es für den Westen nützlich ist, wenn auch jemand von dort spricht. Radek sagte mir, dass er Ihnen die Druckbogen meines Anti-Levi gegeben habe, um Ihnen meine Einstellung zu der russischen Revolution und ihren wichtigsten Problemen zu zeigen. Ich will noch einen Gedankengang einfügen, den ich schon seinerzeit bei der Diskussion über den Revisionismus Bernsteins und Davids vertreten habe. Diese Herren meinten, das Proletariat könne vor der Eroberung der politischen Macht durch Arbeiterschutz etc. den Kapitalismus aushöhlen. Meiner Meinung nach kommt jedoch alles, was man als „Sozialreform“ zusammenfasst, nicht in Betracht, um den Kapitalismus auszuhöhlen. Solange die Bourgeoisie die Macht hat, braucht sie die Sozialreform als ein Mittel, den kapitalistischen Profit und die kapitalistische Klassenherrschaft zu sichern. Nach der Eroberung der politischen Macht, in der starken Faust des Proletariats gewinnt die Sozialreform eine andere Bedeutung. Sie ist ein Mittel, die Wirtschaft und Gesellschaft in der Richtung zum Kommunismus umzuwälzen. In diesem Zusammenhange spielen Gewerkschaften, Genossenschaften und andere proletarische Organisationen eine große Rolle, weil hinter ihnen die Staatsmacht als Sowjetordnung steht. Ein Vergleich zwischen den Dingen in Deutschland und Sowjetrussland gibt eine Probe auf das Exempel. In Sowjetrussland Sozialisierung der großen Industrie etc., in Deutschland Stinnesierung; in Sowjetrussland strengste Durchführung der Arbeitergesetzgebung, in Deutschland Zerbröckelung und Abbau etc. etc. / Hell wollte ich auch beleuchten die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats für die Durchführung der „neuen Politik“ für die Aufrechterhaltung der Sowjetmacht als deren Voraussetzung. Die „neue Politik“ ist nicht nur unter den in Rußland gegebenen Umständen unvermeidlich, sondern sie ist notwendig, um die Umwälzung zum Kommunismus durchzuführen. Mutatis mutandis wird das Proletariat auch in anderen Ländern nach der Eroberung der politischen Macht den sauren Weg der „neuen Politik“ gehen müssen, natürlich unter erheblich günstigeren Verhältnissen wie bei Euch. Die wichtigste Voraussetzung für die Durchführung der Diktatur und einer zielbewussten „neuen Politik“ bleibt das Verhältnis von Partei und Proletariat. Die Partei muss der Ausdruck bleiben des geschichtlichen Prozesses in seiner höchsten Potenz der Selbstverständigung, Selbstbewegung und Selbständigkeit des Proletariats. Das ist nur möglich bei geschlossener Ideologie, Organisation und strammer Disziplin. Eine besondere Bedeutung gewinnt in diesem Zusammenhange die klare, feste Herausarbeitung der kommunistischen Ideologie und ihre Übertragung auf die breitesten Massen, die Kräftigung und Ausgestaltung des Volksbildungswesens, das unabweisbare Korrelat der „neuen Politik“ sowohl für die wirtschaftstechnische Schulung der Massen wie [für] ihre Erziehung für den Kommunismus. / Summa summarum, meiner Meinung nach ist die russische Revolution, d.h. ihre Politik, der erste große weltgeschichtliche Versuch, den Marxismus von der Theorie zur Praxis zu erheben und dementsprechend „Geschichte“ zu machen. Trotz „Fehler“ und „Dummheiten“ – die Sie ja im einzelnen so verprügelt haben – sehe ich in Ihrer Linie kein zufälliges Zickzack, sondern eine konsequent festgehaltene gerade Linie. (Siehe Ihr Programm vom April 1917.) Ihr musstet über das dort gesteckte Ziel hinausgehen, um zu verhindern, dass die russische Revolution hinter ihren Ausgangspunkt zurückgeworfen wurde. Meiner Ansicht nach gibt es keine Revolution, die wie die Eure schon im ersten Anlauf soweit über das Anfangsstadium des Realisierbaren hinausgekommen wäre. / Lieber Freund Lenin, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir vielleicht mit einem Wort mitteilen wollten, welche Seiten und Probleme Sie besonders behandeln wollen. Ich möchte nicht gern schlechter wiederholen, was Sie schon besser gesagt haben. / Mit herzlichsten Grüßen für Sie, Genossin Krupskaja und Ihre Schwestern / Ihre Clara Zetkin

(Brief aus Moskau vom 12. September 1922)

ZUM TODESTAG DER SOZIALISTIN

Über die Autorin (1857-1933)

Donnerstag, 19. Juni 2014

Gustav Schwab: Sagen des klassischen Altertums

Tantalos, ein Sohn des Zeus, herrschte zu Sipylos in Phrygien und war außerordentlich reich und berühmt. Wenn je einen sterblichen Mann die olympischen Götter geehrt haben, so war es dieser. Seiner hohen Abstammung wegen wurde er zu ihrer vertrauten Freundschaft erhoben; zuletzt durfte er an der Tafel des Zeus speisen und alles mit anhören, was die Unsterblichen unter sich besprachen. Aber sein eitler Menschengeist vermochte das überirdische Glück nicht zu tragen, und er fing an, mannigfaltig gegen die Götter zu freveln. Er verriet den Sterblichen die Geheimnisse der Himmlischen; er entwandte von ihrer Tafel Nektar und Ambrosia und verteilte den Raub unter seine irdischen Genossen; er barg den köstlichen goldenen Hund, den ein anderer aus dem Tempel des Zeus zu Kreta gestohlen hatte; und als dieser ihn zurückforderte, leugnete er mit einem Eide ab, ihn erhalten zu haben. Endlich lud er im Übermute die Götter wieder zu Gaste, und um ihre Allwissenheit auf die Probe zu setzen, ließ er ihnen seinen eigenen Sohn Pelops schlachten und zurichten. Nur Demeter verzehrte von dem gräßlichen Gericht ein Schulterblatt, die übrigen Götter aber merkten den Greuel, warfen die zerstückelten Glieder des Knaben in einen Kessel, und die Parze Klotho zog ihn mit erneuter Schönheit hervor. Anstatt der verzehrten Schulter wurde eine elfenbeinerne eingesetzt. / Jetzt hatte Tantalos das Maß seiner Frevel erfüllt und wurde von den Göttern in die Hölle gestoßen. Hier wurde er von quälenden Leiden gepeinigt. Er stand mitten in einem Teiche, und die Wasser spielten ihm um das Kinn, dennoch litt er den brennendsten Durst und konnte den Trank, der ihm so nahe war, niemals erreichen. Sooft er sich bückte und den Mund gierig ans Wasser bringen wollte, entschwand vor ihm die Flut versiegend; der dunkle Boden erschien zu seinen Füßen; ein Dämon schien den See ausgetrocknet zu haben. So litt er zugleich den peinigendsten Hunger. Hinter ihm strebten am Ufer des Teiches herrliche Fruchtbäume empor und wölbten ihre Äste über seinem Haupte. Wenn er sich emporrichtete, so lachten ihm saftige Birnen, rotwangige Äpfel, glühende Granaten, liebliche Feigen und grüne Olivenbeeren ins Auge; aber sobald er hinauflangte, sie mit seiner Hand zu fassen, so riß ein Sturmwind, der plötzlich angeflogen kam, die Zweige hoch hinauf zu den Wolken. Zu dieser Höllenpein gesellte sich beständige Todesangst; denn ein großes Felsenstück hing über seinem Haupte in der Luft und drohte unaufhörlich, auf ihn herabzustürzen. / So ward dem Verächter der Götter, dem ruchlosen Tantalos, dreifache Qual, niemals endend, in der Unterwelt beschieden.

(Die Tantalos-Sage in der 1838-40 erschienenen Sammlung)

ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1792-1850)

Mittwoch, 18. Juni 2014

Martin Greif: Werdender Sonnentag

Wolkenduft verbirgt die Höhen
Und doch wird's ein Sonnentag,
Wenn er sich auch im Erstehen
Langsam nur enthüllen mag.

Fluren selbst in rauher Lage
Fühlen seine Segensruh',
Und die Rose gar am Hage
Lächelt ahnungsvoll ihm zu.

(Aus dem 1868 erschienenen Lyrikband)

ZUM GEBURTSTAG DES  DICHTERS

Über den Autor (1839-1911)

Dienstag, 17. Juni 2014

Otto Lehmann: Physikalische Technik oder Anleitung zu Experimentalvorträgen

Manche Lehrbücher beginnen mit Auseinandersetzungen über die Aufgabe der Physik. Ich halte dies nicht für zweckmäßig. Die Aufgabe der Physik vermag der Schüler erst richtig zu erfassen, wenn er den wesentlichen Inhalt derselben bereits beherrscht, nicht vorher. Außerdem dürfte bei den meisten Schülern gar kein Bedürfnis nach einer derartigen Aufklärung mehr oder minder philosophischer Natur vorhanden sein. Weit eher dürfte es sie interessieren, zu erfahren, wie denn diese Wissenschaft entstanden ist und welche Männer sie im Laufe der Zeit zu ihrer gegenwärtigen Vollkommenheit ausgebildet haben. Damit ist natürlich nicht etwa gemeint, dass der Unterricht mit einer kurzen Darlegung der Geschichte der Physik beginnen soll, die dem Schüler aus gleichen Gründen nicht minder unverständlich bleiben würde wie die erwähnten Erörterungen erkenntnistheoretischer Natur. Es soll vielmehr während der Behandlung des Lehrstoffes immerfort auf die historische Entwicklung der Kenntnisse hingewiesen, auch soll dann und wann Wissenswertes aus den Lebensschicksalen der berühmten Forscher berührt werden. / Ich pflege deshalb zu beginnen mit einem Hinweis darauf, dass jeder Mensch naturgemäß das Bedürfnis hat, die Vorgänge, die er wahrnimmt, zu begreifen, und dass dies schon in den ältesten Zeiten, von welchen wir Kunde haben, sich so verhielt.

(Aus dem ersten Band des 1905 erschienenen Lehrbuchs)

ZUM TODESTAG DES PHYSIKERS

Über den Autor (1855-1922)

Montag, 16. Juni 2014

Otto Jahn: W. A. Mozart

Keine Parallele scheint mehr gerechtfertigt als die zwischen Mozart und Rafael. Die edle Schönheit, welche alle anderen Bedingungen künstlerischer Darstellung gleichsam aufzuzehren und in reine Harmonie aufzulösen scheint, tritt so siegreich in den Gebilden beider Meister in gleicher Weise hervor, dass es so mancher übereinstimmender Momente in ihrem Bildungs- und Lebensgange, in ihrer künstlerischen und sittlichen Natur gar nicht bedürfte, um sie als Zwillingsbrüder erkennen zu lassen. Indessen würde diese Vergleichung erst wahren Gewinn bringen, wenn sie durch eingehende Betrachtung erkennen ließe, wie und unter welchen Bedingungen auf verschiedenen Gebieten der Kunst die in ihrer Totalwirkung gleichartige Schönheit geschaffen wird.

(Aus dem Schlusskapitel der 1856-59 erschienenen Biographie)

ZUM GEBURTSTAG DES KULTURWISSENSCHAFTLERS

Über den Autor (1813-1869

Sonntag, 15. Juni 2014

Ernst Ludwig Kirchner: Davoser Tagebuch

Parallel mit der Gestaltung der Form geht die der Farbe. Es gibt weder Licht noch Schatten. Einzig die Farben in ihrem Zusammenhang geben das Erlebnis. Alles ist Fläche. Rein spricht in dieser Fläche der tiefe Wert der Farbe. [...] Farbe und Form greifen organisch ineinander. Einfachheit, Ordnung und Klarheit bei allem Reichtum erzeugen eine neue Schönheit, die fähig ist, alle Gestalten und Empfindungen des heutigen Lebens zu tragen.

(Tagebucheintrag um 1927)

ZUM TODESTAG DES EXPRESSIONISTEN

Über den Autor (1880-1938)

Samstag, 14. Juni 2014

Max Weber: Politik als Beruf

Einen ganz trivialen, allzu menschlichen Feind hat der Politiker täglich und stündlich zu überwinden: die ganz gemeine Eitelkeit, die Todfeindin aller sachlichen Hingabe und aller Distanz, in diesem Fall: der Distanz sich selbst gegenüber. / Eitelkeit ist eine sehr verbreitete Eigenschaft, und vielleicht ist niemand ganz frei davon. Und in akademischen und Gelehrtenkreisen ist sie eine Art von Berufskrankheit. Aber gerade beim Gelehrten ist sie, so antipathisch sie sich äußern mag, relativ harmlos in dem Sinn, dass sie in aller Regel den wissenschaftlichen Betrieb nicht stört. Ganz anders beim Politiker. Er arbeitet mit dem Streben nach Macht als unvermeidlichem Mittel. "Machtinstinkt" – wie man sich auszudrücken pflegt – gehört daher in der Tat zu seinen normalen Qualitäten. – Die Sünde gegen den heiligen Geist seines Berufs aber beginnt da, wo dieses Machtstreben unsachlich und ein Gegenstand rein persönlicher Selbstberauschung wird, anstatt ausschließlich in den Dienst der "Sache" zu treten. Denn es gibt letztlich nur zwei Arten von Todsünden auf dem Gebiet der Politik: Unsachlichkeit und – oft, aber nicht immer, damit identisch – Verantwortungslosigkeit. Die Eitelkeit: das Bedürfnis, selbst möglichst sichtbar in den Vordergrund zu treten, führt den Politiker am stärksten in Versuchung, eine von beiden oder beide zu begehen. Um so mehr, als der "Demagoge" auf Wirkung zu rechnen gezwungen ist, – er ist eben deshalb stets in Gefahr, sowohl zum Schauspieler zu werden wie die Verantwortung für die Folgen seines Tuns leicht zu nehmen und nur nach dem "Eindruck" zu fragen, den er macht. Seine Unsachlichkeit legt ihm nahe, den glänzenden Schein der Macht statt der wirklichen Macht zu erstreben, seine Verantwortungslosigkeit aber: die Macht lediglich um ihrer selbst willen, ohne inhaltlichen Zweck, zu genießen. Denn obwohl, oder vielmehr: gerade weil Macht das unvermeidliche Mittel, und Machtstreben daher eine der treibenden Kräfte der Politik ist, gibt es keine verderblichere Verzerrung der politischen Kraft, als das parvenumäßige Bramarbasieren mit Macht und die eitle Selbstbespiegelung in dem Gefühl der Macht, überhaupt jede Anbetung der Macht rein als solcher.

(Aus dem 1919 gehaltenen Vortrag)

ZUM TODESTAG DES SOZIOLOGEN

Über den Autor (1864-1920)

Freitag, 13. Juni 2014

Johann Gottfried Seume: Kurzes Pflichten- und Sittenbuch für Landleute

Alle Völker stimmen darin überein, das gute, freundschaftliche Herz und die wohltätigen Bemühungen eines edlen Menschenfreundes höher zu achten als alle zufälligen Güter des äußerlichen Glücks. Niemand hält es je für ein Lob, wenn man sagt: der Reiche, der Mächtige, der Vornehme; aber alle ehren und lieben sogleich den Mann, den die Geschichte seiner Zeit den Guten, den Edlen, den Milden, den Wohltätigen nennt. Die Reichen und Mächtigen haben bloß dieses vor den Andern voraus, dass sie das Letzte leichter sein können als die Übrigen. Desto schlimmer für sie, wenn sie es nicht sind. Sie tun das Gute nicht, das sie tun könnten und sollten, und entbehren vieles Glück, das sie dadurch genießen könnten.

(Aus dem Kapitel "Von der Güte" der 1811 [postum] erschienenen Schrift)

ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1763-1810)

Donnerstag, 12. Juni 2014

Karl Kraus: Aphorismen

Ich beherrsche die Sprache nicht; aber die Sprache beherrscht mich vollkommen. Sie ist mir nicht die Dienerin meiner Gedanken. Ich lebe in einer Verbindung mit ihr, aus der ich Gedanken empfange, und sie kann mit mir machen, was sie will. Ich pariere ihr aufs Wort. Denn aus dem Wort springt mir der junge Gedanke entgegen und formt rückwirkend die Sprache, die ihn schuf. Solche Gnade der Gedankenträchtigkeit zwingt auf die Knie und macht allen Aufwand zitternder Sorgfalt zur Pflicht. Die Sprache ist eine Herrin der Gedanken, und wer das Verhältnis umzukehren vermag, dem macht sie sich im Hause nützlich, aber sie sperrt ihm den Schoß.

(Aus den 1915 erschienenen Aphorismen)

ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1874-1936)

Mittwoch, 11. Juni 2014

Georg Groddeck: Das Buch vom Es

Als Symbol der Ehe gilt der Ring; nur sind sich die wenigsten klar darüber, wieso dieser Reif den Begriff der ehelichen Gemeinschaft ausdrückt. Die Sprüche, dass der Ring eine Fessel ist oder die ewige Liebe ohne Anfang und Ende bedeutet, lassen wohl Schlussfolgerungen auf Stimmung und Erfahrung dessen zu, der solch eine Redewendung braucht, sie klären aber das Phänomen nicht auf, warum von unbekannten Gewalten gerade ein Ring gewählt wurde, um das Verheiratetsein kenntlich zu machen. Geht man jedoch davon aus, dass der Sinn der Ehe die Geschlechtstreue ist, so ergibt sich die Deutung leicht. Der Ring vertritt das weibliche Geschlechtsorgan, während der Finger das Organ des Mannes ist. Der Ring soll über keinen anderen Finger gestreift werden als über den des angetrauten Mannes, er ist also das Gelöbnis, nie ein anderes Geschlechtsorgan im Ring des Weibes zu empfangen wie das des Ehegatten. / Dieses Gleichsetzen von Ring und weiblichem Organ, Finger und männlichem ist nicht willkürlich erdacht, sondern vom Es des Menschen erzwungen, und jeder kann den Beweis dafür an sich und anderen täglich führen, wenn er das Spielen mit dem Ring am Finger bei den Menschen beobachtet. Unter dem Einflusse bestimmter, leicht zu erratender Gefühlsregungen, die meist nicht voll ins Bewusstsein treten, beginnt dieses Spiel, dieses Auf- und Abbewegen des Ringes, dieses Drehen und Winden. Bei verschiedenen Wendungen der Unterhaltung, bei dem Hören und Aussprechen von einzelnen Worten, beim Erblicken von Bildern, Menschen, Gegenständen, bei allen möglichen Sinneswahrnehmungen werden Handlungen vorgenommen, die uns gleichzeitig versteckte Seelenvorgänge aufdecken und bis zum Überdruss beweisen, dass der Mensch nicht weiß, was er tut, dass ein Unbewusstes ihn zwingt, sich symbolisch zu offenbaren, dass dieses Symbolisieren nicht dem absichtlichen Denken entspringt, sondern dem unbekannten Wirken des Es. Denn welcher Mensch würde absichtlich unter den Augen anderer Bewegungen ausführen, die seine sexuelle Erregung verraten, die den heimlichen, stets versteckten Akt der Selbstbefriedigung öffentlich zur Schau stellen? Und doch spielen selbst die, die das Symbol zu deuten verstehen, weiter am Ringe, sie müssen spielen. Symbole werden nicht erfunden, sie sind da, gehören zum unveräußerlichen Gut des Menschen; ja, man darf sagen, dass alles bewusste Denken und Handeln eine unentrinnbare Folge unbewussten Symbolisierens ist, dass der Mensch vom Symbol gelebt wird.

(Aus dem sechsten der 33 Briefe der 1923 erschienenen Schrift)

ZUM TODESTAG DES PSYCHOSOMATIKERS

Über den Autor (1866-1934)

Dienstag, 10. Juni 2014

Auguste Schmidt: Reden

Nach einer 40-jährigen ununterbrochenen Tätigkeit als Lehrerin bin ich bereit, Zeugnis abzulegen für das tiefe Genügen, das unser Geschlecht im Lehrberuf zu finden vermag.

(Worte, gesprochen zu Pfingsten 1890 bei der Gründung des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins) [Keine Quelle für ein längeres Zitat gefunden]

ZUM TODESTAG DER FRAUENRECHTLERIN

Über die Autorin (1833-1902)

Montag, 9. Juni 2014

Bertha von Suttner: Langeweile

»Ein gescheiter Mensch langweilt sich nie!« Das ist auch so eine Fabel. Natürlich will man dann nicht eingestehen, daß man das dummheitsbeweisende Gefühl kennt, und langweilt sich nur im geheimen. So gewissermaßen lasterhaft. Wenn einem je ein einsichtsvoller Freund teilnehmend sagt: »Aber hörst du, Lieber, in deiner Einsamkeit muß dir doch manchmal die Zeit lang werden,« so nimmt der so Angeredete ein erstauntes Gesicht an, als höre er zum erstenmal im Leben, daß ein solcher Fall möglich sei, und antwortet: »Mir? – O nein – Wenn man sich zu beschäftigen weiß ...« Der andere schämt sich sodann, daß er auf der Fähigkeit, sich zu langweilen, etwa ertappt worden, und beeilt sich zu erwidern: »Ja, du hast recht, wenn man sich beschäftigt ... Lektüre, Studium, Arbeit ... mir werden die Tage auch immer zu kurz.« / Reine Heuchelei! Der Mensch weiß so gut wie ich und jeder andere, wie im Leben die Stunden dahinschleichen können, matt und grau und bleiern – ja, ich glaube, es heißt »bleiern«. Unter Blei stellt man sich gewöhnlich doch etwas so Drückendes, Schwerfälliges und Glanzloses vor, wie langweilige Stunden und Tage dies eben sind ... Dazu kommt noch eine Ideenverbindung mit den Bleidächern von Venedig, welche das Jämmerliche an dem Bilde verstärkt. Wer hat es nicht einmal empfunden, was es ist, die Stirn an die Fensterscheiben drücken und in einen Landregen hinausschauen, dann sich auf das Sofa hinwerfen und die Beine gegen die Decke heben, was auch keine Erleichterung verschafft; dann auf die Uhr schauen und sehen, daß es um eine gute Stunde früher ist als gestern um diese Zeit; zu gähnen, als wäre man der König der Wüste in einem vergitterten Käfig; ein wenig nachdenken wollen und im Gehirn nichts anderes hervorbringen als eine nachklingende Drehorgelmelodie – endlich die Augen schließen und sich darein ergeben, daß man auf der Welt ist – einer Welt, so öde wie ein ausgedörrtes Schneckenhaus. Zu guter Letzt fällt einem noch das berühmte, eingangs erwähnte Axiom ein, kraft dessen man aus der Gemeinde der gescheiten Leute ausgestoßen erscheint, und beginnt sich zu verachten, sagt sich die ärgsten Grobheiten und hat nicht den Mut, sich dagegen zu verteidigen: »Ja, dumm bin ich – und ein Tagedieb und energielos und ein verfehltes Geschöpf ... Ah, ah ...« Wieder strecken sich die Glieder und verrenken sich die Kinnladen. / In dieser Stimmung habe ich mich zum Schreibtisch geschleppt, um meine Langeweile zu schildern. Das ist so eine Art, den Feind bei den Hörnern zu nehmen.

(Anfang der 1905 erschienenen Novelle)

ZUM GEBURTSTAG DER PAZIFISTIN

Über die Autorin (1843-1914)

Sonntag, 8. Juni 2014

Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke

In Griechenland, wo man sich der Lust und Freude von Jugend auf weihte, wo ein gewisser heutiger bürgerlicher Wohlstand der Freiheit der Sitten niemals Eintrag getan, zeigte sich die schöne Natur unverhüllt zum großen Unterricht der Künstler. / Die Schule der Künstler war in den Gymnasien, wo die jungen Leute, welche die öffentliche Schamhaftigkeit bedeckte, ganz nackt ihre Leibesübungen trieben. Der Weise und der Künstler gingen dahin: Sokrates den Charmides, den Autolykos, den Lysis zu lehren; ein Phidias, aus diesen schönen Geschöpfen seine Kunst zu bereichern. Man lernte dort Bewegungen der Muskeln, Wendungen des Körpers: man studierte die Umrisse der Körper, oder die Konturen an dem Abdrucke, den die jungen Ringer im Sand gemacht hatten. / Die schönste Nacktheit der Körper zeigte sich hier in so mannigfaltigen, wahrhaften und edlen Stellungen, in die ein gedungenes Modell, welches in unseren Akademien aufgestellt wird, nicht zu setzen ist. / Die innere Empfindung bildet den Charakter der Wahrheit, und der Zeichner, welcher seinen Akademien denselben geben will, wird nicht einen Schatten des Wahren erhalten ohne eigene Ersetzung desjenigen, was eine ungerührte und gleichgültige Seele des Seele des Modells nicht empfindet, noch eine Aktion, die einer gewissen Empfindung oder Leidenschaft eigen ist, ausdrücken kann. / Der Eingang zu vielen Gesprächen des Plato, die er in den Gymnasien zu Athen ihren Anfang nehmen lassen, macht uns ein Bild von den edlen Seelen der Jugend und lässt uns auch hieraus auf gleichförmige Handlungen und Stellungen an diesen Orten und in ihren Leibesübungen schließen. / Die schönsten jungen Leute tanzten unbekleidet auf dem Theater, und Sophokles, der große Sophokles, war der erste, der in seiner Jugend dieses Schauspiel seinen Bürgern machte. Phryne badete sich in den Eleusinischen Spielen vor den Augen aller Griechen und wurde beim Heraussteigen aus dem Wasser den Künstlern das Urbild einer Venus Anadyomene; und man weiß, dass die jungen Mädchen in Sparta an einem gewissen Fest ganz nackt vor den Augen der jungen Leute tanzten. Was hier fremd scheinen könnte, wird erträglicher werden, wenn man bedenkt, dass auch die Christen der ersten Kirche ohne die geringste Verhüllung, sowohl Männer als Frauen, zu gleicher Zeit und im selben Taufstein getauft oder untergetaucht worden sind. / So war auch jedes Fest bei den Griechen eine Gelegenheit für Künstler, sich mit der schönen Natur aufs Genaueste bekanntzumachen.

(Aus der 1755/56 erschienenen Schrift)

ZUM TODESTAG DES KUNSTHISTORIKERS

Über den Autor (1717-1768)

Samstag, 7. Juni 2014

Friedrich Hölderlin: Dichtermut

Sind denn dir nicht verwandt alle Lebendigen,
    Nährt die Parze denn nicht selber im Dienste dich?
        Drum, so wandle nur wehrlos
            Fort durchs Leben, und fürchte nichts!

Was geschiehet, es sei alles gesegnet dir,
    Sei zur Freude gewandt! oder was könnte denn
        Dich beleidigen, Herz! was
            Da begegnen, wohin du sollst?

Denn, seitdem der Gesang sterblichen Lippen sich
    Friedenatmend entwand, frommend in Leid und Glück
        Unsre Weise der Menschen
            Herz erfreute, so waren auch

Wir, die Sänger des Volks, gerne bei Lebenden
    Wo sich vieles gesellt, freudig und jedem hold,
        Jedem offen; so ist ja
            Unser Ahne, der Sonnengott,

Der den fröhlichen Tag Armen und Reichen gönnt,
    Der in flüchtiger Zeit uns, die Vergänglichen,
        Aufgerichtet an goldnen
            Gängelbanden, wie Kinder, hält.

Ihn erwartet, auch ihn nimmt, wo die Stunde kömmt,
    Seine purpurne Flut; sieh! und das edle Licht
        Gehet, kundig des Wandels,
            Gleichgesinnet hinab den Pfad.

So vergehe denn auch, wenn es die Zeit einst ist
    Und dem Geiste sein Recht nirgend gebracht, so sterb'
        Einst im Ernste des Lebens
            Unsre Freude, doch schönen Tod!


ZUM TODESTAG DES DICHTERS

Freitag, 6. Juni 2014

Alix von Hessen-Darmstadt: Briefe an die Jugendfreundin Toni

Unser Aufenthalt in Florenz war idealisch und das Wetter immer so günstig. Wir haben sehr viel gesehen, aber man kommt nie damit zu Ende. Des Schönen gibt es fast zu viel. – Und nun erst hier [in Venedig], wo wir gestern Nachmittag ankamen, es ist ein Traum, so ganz anders wie irgend etwas das man je gesehen. Man kann es sich eigentlich gar nicht vorstellen, bis man es sieht. Wir fuhren gestern Abend im Mondschein auf dem Canal Grande, und Nachmittag in den kleinen kleinen Gässchen und hörten dem Singen zu. Es macht einen zu eigenartigen Eindruck. – Heute Früh waren wir im San Marco und im Dogenpalast – zu schön, es nützt nichts, ich kann es Dir nicht beschreiben.

(Aus dem Brief vom 28.4.1893 – Quelle: Lotte Hoffmann-Kuhnt: Briefe der Zarin Alexandra von Russland an ihre Jugendfreundin Toni Becker Bracht; Books on Demand 2009)

ZUM GEBURTSTAG DER LETZTEN KAISERIN VON RUSSLAND

Über die Autorin (1872-1918)

Donnerstag, 5. Juni 2014

Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewussten

Das Wollen hat seiner Natur nach einen Überschuss von Unlust zur Folge. Das Wollen, welches das »Dass« der Welt setzt, verdammt also die Welt, gleichviel wie sie beschaffen sein möge, zur Qual. Zur Erlösung von dieser Unseligkeit des Wollens, welche die Allweisheit oder das Logische der unbewussten Vorstellung direkt nicht herbeiführen kann, weil es selbst unfrei gegen den Willen ist, schafft es die Emanzipation der Vorstellung durch das Bewusstsein, indem es in der Individuation den Willen so zersplittert, dass seine gesonderten Richtungen sich gegeneinander wenden. Das Logische leitet den Weltprozess auf das Weiseste zu dem Ziele der möglichsten Bewusstseinsentwicklung, wo anlangend das Bewusstsein genügt, um das gesamte aktuelle Wollen in das Nichts zurückzuschleudern, womit der Prozess und die Welt aufhört, und zwar ohne irgendwelchen Rest aufhört, an welchem sich ein Prozess weiterspinnen könnte. Das Logische macht also, dass die Welt eine bestmögliche wird, nämlich eine solche, die zur Erlösung kommt, nicht eine solche, deren Qual in unendlicher Dauer perpetuiert wird.

(Aus dem Zweiten Teil des 1869 erstmals erschienenen Werks)

ZUM TODESTAG DES NACHIDEALISTISCHEN DENKERS

Über den Autor (1842-1906)

Mittwoch, 4. Juni 2014

Jakob Michael Reinhold Lenz: Anmerkungen übers Theater

Ich habe eine große Hochachtung für den Aristoteles, obwohl nicht für seinen Bart [...]. Aber da er hier von zwo Quellen redet, aus denen die landüberschwemmende Poesie ihren Ursprung genommen und gleichwohl nur auf die eine mit seinem kleinen krummen Finger deutet, die andere aber unterm Bart behält (obwohl ich Ihnen auch nicht dafür stehe, da ich, aufrichtig zu reden, ihn noch nicht ganz durchgelesen) so ist mir ein Gedanke entstanden, der um Erlaubnis bittet, ans Tageslicht zu kommen, denn einen Gedanken bei sich zu behalten und eine glühende Kohle in der Hand [ist einerlei]. / [...] Unsere Seele ist ein Ding, dessen Wirkungen wie die des Körpers sukzessiv sind, eine nach der andern. Woher das komme, das ist [die Frage] – soviel ist gewiß, daß unsere Seele von ganzem Herzen wünscht, weder sukzessiv zu erkennen noch zu wollen. Wir möchten mit einem Blick durch die innerste Natur aller Wesen dringen, mit einer Empfindung alle Wonne, die in der Natur ist, aufnehmen und mit uns vereinigen. Fragen Sie sich, meine Herren, wenn Sie mir nicht glauben wollen: woher die Unruhe, wenn Sie hie und da eine Seite der Erkenntnis beklapst haben, das zitternde Verlangen, das Ganze mit Ihrem Verstande zu umfassen, die lähmende Furcht, wenn Sie zur andern Seite übergehn, werden Sie die erste wieder aus dem Gedächtnis verlieren? Ebenso bei jedem Genuß, woher dieser Sturm, das All zu erfassen, der Überdruß, wenn Ihrer keuchenden Sehnsucht kein neuer Gegenstand übrigzubleiben scheint? Die Welt wird für Sie arm, und Sie schwärmen nach Brücken. Den zitterlichsten Strahl möcht Ihr Heißhunger bis in die Milchstraße verfolgen, und blendete das erzürnte Schicksal Sie, wie Milton [der Autor des Verlorenen Paradieses] würden Sie sich in Chaos- und Nachtwelten wähnen, deren Zugang im Reich der Wirklichkeiten Ihnen versperrt ist. / Schließen Sie die Brust zu, wo mehr als eine Adamsrippe rebellisch wird und kommen wieder hinüber mit mir in die lichten Regionen des Verstandes. Wir suchen alle gern unsere zusammengesetzten Begriffe in einfache zu reduzieren. Und warum das? Weil [der Verstand] sie dann schneller und mehr zugleich umfassen kann. Aber trostlos wären wir, wenn wir darüber das Anschauen und die Gegenwart dieser Erkenntnisse verlieren sollten. Und das immerwährende Bestreben, all unsere gesammelten Begriffe wieder auseinanderzuwickeln und durchzuschauen, sie anschaulich und gegenwärtig zu machen, nehm ich als die zweite Quelle der Poesie an.

(Aus der 1771 "in einer Gesellschaft guter Freunde" vorgetragenen Rede)

ZUM TODESTAG DES STURM-UND-DRANG-DICHTERS

Über den Autor (1751-1792)

Dienstag, 3. Juni 2014

Franz Kafka: Oktavhefte

Ich liebte ein Mädchen, das mich auch liebte, ich musste es aber verlassen.

Warum?

Ich weiß nicht. Es war so, als wäre sie von einem Kreis von Bewaffneten umgeben, welche die Lanzen nach auswärts hielten. Wann ich mich auch näherte, geriet ich in die Spitzen, wurde verwundet und musste zurück. Ich habe viel gelitten.

Das Mädchen hatte daran keine Schuld?

Ich glaube nicht, oder vielmehr, ich weiß es. Der vorige Vergleich war nicht vollständig, auch ich war von Bewaffneten umgeben, welche ihre Lanzen nach innen, also gegen mich hielten. Wenn ich zu dem Mädchen drängte, verfing ich mich zuerst in den Lanzen meiner Bewaffneten und kam schon hier nicht vorwärts. Vielleicht bin ich zu den Bewaffneten des Mädchens niemals gekommen und wenn ich hingekommen sein sollte, dann schon blutend von meinen Lanzen und ohne Besinnung.

Ist das Mädchen allein geblieben?

Nein, ein anderer ist zu ihr vorgedrungen, leicht und ungehindert. Ich habe, erschöpft von meinen Anstrengungen, so gleichgültig zugesehen, als wäre ich die Luft, durch die sich ihre Gesichter im ersten Kuss aneinanderlegten.

(Ein Text aus den im Winter 1916/17 gefüllten acht Heften)

ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1882-1924)

Montag, 2. Juni 2014

Bess Brenck-Kalischer: Dichtung

In den Armen der Mühle hängen die bleichen Verwunschenen
Drehen langsam den Stein des Brotes,
Unendlich geduldig.
Rings im Lande jagen die Prasser,
Aber die bleichen Verwunschenen
Mahlen unendlich geduldig das Korn.
Fängt ein Sturm ihre langen Ärmel
Sinken sie stumm in die heilige Erde.
Schicken von neuem bleiche Gesellen
Den Armen der Mühle
Geduldig, unendlich,
Verwunschen.

(Gedicht "Verwunschene" aus dem 1917 erstmals erschienenen Sammelband)

ZUM TODESTAG DER DICHTERIN



Sonntag, 1. Juni 2014

Ödön von Horvath: Der Gedanke. Ein Märchen

Gestern begegnete ich einem Gedanken. / Ich war gerade spazieren und wollte wieder zurück, weil ich anfing, hungrig zu werden, und außerdem dachte ich, jetzt wirds bald regnen, denn der Himmel hatte sich bezogen. / Da traf ich, wie gesagt, einen Gedanken. Ich weiß noch genau die Stelle, wo es war. Dort, wo der Wald aufhört, beginnt aufzuhören. / Ich bemerkte den Gedanken nicht sogleich, erst als er an mir vorbeiging und mich ansah – da hielt ich unwillkürlich, ich hatte so etwas schönes noch nie gesehen! / Ich konnt mich zuerst gar nicht rühren vor Überraschung. Und dann war der Gedanke an mir vorbei. Ich lief ihm nach und fand ihn nirgends – er war weg. / Zu dumm! / Ich ärgerte mich, wie kann man nur so blöd sein und so einen schönen Gedanken vergessen! / Und ich strengte mich an, dass er mir einfallen möge wieder, aber er blieb aus. Er kam nicht wieder. Ich lief ihm nach an vielen platten Gedanken vorbei, hübschen und nicht hübschen, hässlichen, es kamen mir inzwischen auch neue Gedanken, ich traf auch neue, fremde wurden mir vorgestellt. Aber der Gedanke, den ich suchte, blieb mir fern. Und ich wusste, ich brauche ihn, auf diesen Gedanken habe ich immer schon gewartet. / Aber es sollte nicht sein! / Ich gab die Hoffnung schon auf und unterhielt mich mit anderen Gedanken. Gedanken, die aus dem Schnaps kommen, aus Wein und Bier, aus einem guten Braten, aus einer hohen Kirche, vom Markt – kurz allerhand Kraut und Rüben. / Aber ganz heimlich in mir blieb die Sehnsucht wach nach dem einen großen Gedanken –  / Ob ich ihn jemals wiedersehen werde? / Manchmal dachte ich schon, ich hätte ihn wieder, aber das war alles Täuschung. Vielleicht war eine gewisse Ähnlichkeit vorhanden, aber er war es nicht. / Und ich wurde immer trauriger über den schönen Gedanken. Ich wusste, wenn ich ihn wiederhabe, dann darf mich die ganze Welt gern haben. / Dann pfeif ich auf alles. / Und dann kam ein Gedanke, es war ein sehr gescheiter belesener Gedanke, der sagte: Hör mal, ich glaub, das war gar kein Gedanke, mir scheint, das war eher ein Gefühl – / Ein Gefühl? Dass ich nicht lache! / Lacht nicht! Man kann das oft nicht so genau unterscheiden – es gibt Grenzen, man meint, man hat ein Gefühl, und derweil denkt man nur, und einen Gedanken, und derweil ist das alles nur Gefühl! / Ich verbitte mir das! Ich werde wohl noch einen Gedanken von einem Gefühl unterscheiden können! / Abwarten! Was bin zum Beispiel ich? Es gibt keinen ganz reinen Gedanken, immer ist auch irgendwo versteckt ein paar Prozent Gefühl und umgekehrt! Aber den Gedanken, den ich traf und vergessen habe, das war der reinste Gedanke! Und drum sehn ich mich auch so mit ganzem Herzen nach ihm. // Er starb. Und als der Engel des Todes kam, sagte er: Ach, du bist ja mein Gedanke – / Ja, sagte er, ich bin mal an dir vorbei und hab mir gedacht, soll dich jetzt der Schlag treffen oder nicht? Dann hab ichs mir überlegt. Ich bin weder ein Gedanke, noch ein Gefühl, ich bin der Friede! Friede auf Erden den Menschen, die unter der Erde liegen! Komm, ich bin das Nichts. Drum hast du mich auch vergessen. Denn ein Nichts kann man nicht behalten.

(Postum erschienener Prosatext)

ZUM TODESTAG DES ÖSTERREICH-UNGARISCHEN SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1901-1938)