Sonntag, 22. Juni 2014

Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues

Wenn man bedenkt, wie auf die jedesmalige Generation in einem Volk alles das bindend einwirkt, was die Sprache desselben alle vorigen Jahrhunderte hindurch erfahren hat, und wie damit nur die Kraft der einzelnen Generation in Berührung tritt und diese nicht einmal rein, da das aufwachsende und abtretende Geschlecht untermischt nebeneinander leben, so wird klar, wie gering eigentlich die Kraft des Einzelnen gegen die Macht der Sprache ist. Nur durch die ungemeine Bildsamkeit der letzteren, durch die Möglichkeit, ihre Formen, dem allgemeinen Verständnis unbeschadet, auf sehr verschiedene Weise aufzunehmen, und durch die Gewalt, welche alles lebendig Geistige über das tot Überlieferte ausübt, wird das Gleichgewicht wieder einigermaßen hergestellt. Doch ist es immer die Sprache, in welcher jeder Einzelne am lebendigsten fühlt, dass er nichts als ein Ausfluss des ganzen Menschengeschlechts ist. Nur weil doch jeder einzeln und unaufhörlich auf sie zurückwirkt, bringt dem ungeachtet jede Generation eine Veränderung in ihr hervor, die sich nur oft der Beobachtung entzieht. Denn die Veränderung liegt nicht immer in den Wörtern und Formen selbst, sondern bisweilen nur in dem anders modifizierten Gebrauche derselben, und dies letztere ist, wo Schrift und Literatur mangeln, schwieriger wahrzunehmen.

(Aus dem Zweiten Abschnitt der 1836 postum als Sonderdruck erschienenen Einleitung zu dem dreibändigen Werk "Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java")

ZUM GEBURTSTAG DES GELEHRTEN

Über den Autor (1767-1835)

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