Sonntag, 8. Juni 2014

Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke

In Griechenland, wo man sich der Lust und Freude von Jugend auf weihte, wo ein gewisser heutiger bürgerlicher Wohlstand der Freiheit der Sitten niemals Eintrag getan, zeigte sich die schöne Natur unverhüllt zum großen Unterricht der Künstler. / Die Schule der Künstler war in den Gymnasien, wo die jungen Leute, welche die öffentliche Schamhaftigkeit bedeckte, ganz nackt ihre Leibesübungen trieben. Der Weise und der Künstler gingen dahin: Sokrates den Charmides, den Autolykos, den Lysis zu lehren; ein Phidias, aus diesen schönen Geschöpfen seine Kunst zu bereichern. Man lernte dort Bewegungen der Muskeln, Wendungen des Körpers: man studierte die Umrisse der Körper, oder die Konturen an dem Abdrucke, den die jungen Ringer im Sand gemacht hatten. / Die schönste Nacktheit der Körper zeigte sich hier in so mannigfaltigen, wahrhaften und edlen Stellungen, in die ein gedungenes Modell, welches in unseren Akademien aufgestellt wird, nicht zu setzen ist. / Die innere Empfindung bildet den Charakter der Wahrheit, und der Zeichner, welcher seinen Akademien denselben geben will, wird nicht einen Schatten des Wahren erhalten ohne eigene Ersetzung desjenigen, was eine ungerührte und gleichgültige Seele des Seele des Modells nicht empfindet, noch eine Aktion, die einer gewissen Empfindung oder Leidenschaft eigen ist, ausdrücken kann. / Der Eingang zu vielen Gesprächen des Plato, die er in den Gymnasien zu Athen ihren Anfang nehmen lassen, macht uns ein Bild von den edlen Seelen der Jugend und lässt uns auch hieraus auf gleichförmige Handlungen und Stellungen an diesen Orten und in ihren Leibesübungen schließen. / Die schönsten jungen Leute tanzten unbekleidet auf dem Theater, und Sophokles, der große Sophokles, war der erste, der in seiner Jugend dieses Schauspiel seinen Bürgern machte. Phryne badete sich in den Eleusinischen Spielen vor den Augen aller Griechen und wurde beim Heraussteigen aus dem Wasser den Künstlern das Urbild einer Venus Anadyomene; und man weiß, dass die jungen Mädchen in Sparta an einem gewissen Fest ganz nackt vor den Augen der jungen Leute tanzten. Was hier fremd scheinen könnte, wird erträglicher werden, wenn man bedenkt, dass auch die Christen der ersten Kirche ohne die geringste Verhüllung, sowohl Männer als Frauen, zu gleicher Zeit und im selben Taufstein getauft oder untergetaucht worden sind. / So war auch jedes Fest bei den Griechen eine Gelegenheit für Künstler, sich mit der schönen Natur aufs Genaueste bekanntzumachen.

(Aus der 1755/56 erschienenen Schrift)

ZUM TODESTAG DES KUNSTHISTORIKERS

Über den Autor (1717-1768)

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