Mittwoch, 11. Juni 2014

Georg Groddeck: Das Buch vom Es

Als Symbol der Ehe gilt der Ring; nur sind sich die wenigsten klar darüber, wieso dieser Reif den Begriff der ehelichen Gemeinschaft ausdrückt. Die Sprüche, dass der Ring eine Fessel ist oder die ewige Liebe ohne Anfang und Ende bedeutet, lassen wohl Schlussfolgerungen auf Stimmung und Erfahrung dessen zu, der solch eine Redewendung braucht, sie klären aber das Phänomen nicht auf, warum von unbekannten Gewalten gerade ein Ring gewählt wurde, um das Verheiratetsein kenntlich zu machen. Geht man jedoch davon aus, dass der Sinn der Ehe die Geschlechtstreue ist, so ergibt sich die Deutung leicht. Der Ring vertritt das weibliche Geschlechtsorgan, während der Finger das Organ des Mannes ist. Der Ring soll über keinen anderen Finger gestreift werden als über den des angetrauten Mannes, er ist also das Gelöbnis, nie ein anderes Geschlechtsorgan im Ring des Weibes zu empfangen wie das des Ehegatten. / Dieses Gleichsetzen von Ring und weiblichem Organ, Finger und männlichem ist nicht willkürlich erdacht, sondern vom Es des Menschen erzwungen, und jeder kann den Beweis dafür an sich und anderen täglich führen, wenn er das Spielen mit dem Ring am Finger bei den Menschen beobachtet. Unter dem Einflusse bestimmter, leicht zu erratender Gefühlsregungen, die meist nicht voll ins Bewusstsein treten, beginnt dieses Spiel, dieses Auf- und Abbewegen des Ringes, dieses Drehen und Winden. Bei verschiedenen Wendungen der Unterhaltung, bei dem Hören und Aussprechen von einzelnen Worten, beim Erblicken von Bildern, Menschen, Gegenständen, bei allen möglichen Sinneswahrnehmungen werden Handlungen vorgenommen, die uns gleichzeitig versteckte Seelenvorgänge aufdecken und bis zum Überdruss beweisen, dass der Mensch nicht weiß, was er tut, dass ein Unbewusstes ihn zwingt, sich symbolisch zu offenbaren, dass dieses Symbolisieren nicht dem absichtlichen Denken entspringt, sondern dem unbekannten Wirken des Es. Denn welcher Mensch würde absichtlich unter den Augen anderer Bewegungen ausführen, die seine sexuelle Erregung verraten, die den heimlichen, stets versteckten Akt der Selbstbefriedigung öffentlich zur Schau stellen? Und doch spielen selbst die, die das Symbol zu deuten verstehen, weiter am Ringe, sie müssen spielen. Symbole werden nicht erfunden, sie sind da, gehören zum unveräußerlichen Gut des Menschen; ja, man darf sagen, dass alles bewusste Denken und Handeln eine unentrinnbare Folge unbewussten Symbolisierens ist, dass der Mensch vom Symbol gelebt wird.

(Aus dem sechsten der 33 Briefe der 1923 erschienenen Schrift)

ZUM TODESTAG DES PSYCHOSOMATIKERS

Über den Autor (1866-1934)

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