Verehrter, teurer Genosse Lenin! / Dass ich nach Ihnen über die russische Revolution
sprechen soll, ist ein großes Wagnis, ja ein Stück
Unverschämtheit. Ich würde es nicht tun, wenn ich mich
nicht als guter Kommunist der Parteidisziplin fügte und die
Meinung als richtig anerkennen muss, dass es für den
Westen nützlich ist, wenn auch jemand von dort spricht. Radek
sagte mir, dass er Ihnen die Druckbogen meines Anti-Levi
gegeben habe, um Ihnen meine Einstellung zu der russischen Revolution
und ihren wichtigsten Problemen zu zeigen. Ich will noch einen
Gedankengang einfügen, den ich schon seinerzeit bei der
Diskussion über den Revisionismus Bernsteins und Davids
vertreten habe. Diese Herren meinten, das Proletariat könne vor
der Eroberung der politischen Macht durch Arbeiterschutz etc. den
Kapitalismus aushöhlen. Meiner Meinung nach kommt jedoch alles,
was man als „Sozialreform“ zusammenfasst, nicht in
Betracht, um den Kapitalismus auszuhöhlen. Solange die
Bourgeoisie die Macht hat, braucht sie die Sozialreform als ein
Mittel, den kapitalistischen Profit und die kapitalistische
Klassenherrschaft zu sichern. Nach der Eroberung der politischen
Macht, in der starken Faust des Proletariats gewinnt die Sozialreform
eine andere Bedeutung. Sie ist ein Mittel, die Wirtschaft und
Gesellschaft in der Richtung zum Kommunismus umzuwälzen. In
diesem Zusammenhange spielen Gewerkschaften, Genossenschaften und
andere proletarische Organisationen eine große Rolle, weil
hinter ihnen die Staatsmacht als Sowjetordnung steht. Ein Vergleich
zwischen den Dingen in Deutschland und Sowjetrussland gibt eine
Probe auf das Exempel. In Sowjetrussland Sozialisierung der
großen Industrie etc., in Deutschland Stinnesierung; in
Sowjetrussland strengste Durchführung der
Arbeitergesetzgebung, in Deutschland Zerbröckelung und Abbau
etc. etc. / Hell wollte ich auch beleuchten die Notwendigkeit der Diktatur des
Proletariats für die Durchführung der „neuen Politik“
für die Aufrechterhaltung der Sowjetmacht als deren
Voraussetzung. Die „neue Politik“ ist nicht nur unter den
in Rußland gegebenen Umständen unvermeidlich, sondern sie
ist notwendig, um die Umwälzung zum Kommunismus durchzuführen.
Mutatis mutandis wird das Proletariat auch in anderen Ländern
nach der Eroberung der politischen Macht den sauren Weg der „neuen
Politik“ gehen müssen, natürlich unter erheblich
günstigeren Verhältnissen wie bei Euch. Die wichtigste
Voraussetzung für die Durchführung der Diktatur und einer
zielbewussten „neuen Politik“ bleibt das Verhältnis
von Partei und Proletariat. Die Partei muss der Ausdruck bleiben
des geschichtlichen Prozesses in seiner höchsten Potenz der
Selbstverständigung, Selbstbewegung und Selbständigkeit des
Proletariats. Das ist nur möglich bei geschlossener Ideologie,
Organisation und strammer Disziplin. Eine besondere Bedeutung gewinnt
in diesem Zusammenhange die klare, feste Herausarbeitung der
kommunistischen Ideologie und ihre Übertragung auf die
breitesten Massen, die Kräftigung und Ausgestaltung des
Volksbildungswesens, das unabweisbare Korrelat der „neuen
Politik“ sowohl für die wirtschaftstechnische Schulung der
Massen wie [für] ihre Erziehung für den Kommunismus. / Summa summarum, meiner Meinung nach ist die russische Revolution,
d.h. ihre Politik, der erste große weltgeschichtliche Versuch,
den Marxismus von der Theorie zur Praxis zu erheben und
dementsprechend „Geschichte“ zu machen. Trotz „Fehler“
und „Dummheiten“ – die Sie ja im einzelnen so
verprügelt haben – sehe ich in Ihrer Linie kein zufälliges
Zickzack, sondern eine konsequent festgehaltene gerade Linie. (Siehe
Ihr Programm vom April 1917.) Ihr musstet über das dort
gesteckte Ziel hinausgehen, um zu verhindern, dass die russische
Revolution hinter ihren Ausgangspunkt zurückgeworfen wurde.
Meiner Ansicht nach gibt es keine Revolution, die wie die Eure schon
im ersten Anlauf soweit über das Anfangsstadium des
Realisierbaren hinausgekommen wäre. / Lieber Freund Lenin, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie
mir vielleicht mit einem Wort mitteilen wollten, welche Seiten und
Probleme Sie besonders behandeln wollen. Ich möchte nicht gern
schlechter wiederholen, was Sie schon besser gesagt haben. / Mit herzlichsten Grüßen für Sie, Genossin
Krupskaja und Ihre Schwestern / Ihre Clara Zetkin
(Brief aus Moskau vom 12. September 1922)
ZUM TODESTAG DER SOZIALISTIN
Über die Autorin (1857-1933)
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