Sonntag, 1. Juni 2014

Ödön von Horvath: Der Gedanke. Ein Märchen

Gestern begegnete ich einem Gedanken. / Ich war gerade spazieren und wollte wieder zurück, weil ich anfing, hungrig zu werden, und außerdem dachte ich, jetzt wirds bald regnen, denn der Himmel hatte sich bezogen. / Da traf ich, wie gesagt, einen Gedanken. Ich weiß noch genau die Stelle, wo es war. Dort, wo der Wald aufhört, beginnt aufzuhören. / Ich bemerkte den Gedanken nicht sogleich, erst als er an mir vorbeiging und mich ansah – da hielt ich unwillkürlich, ich hatte so etwas schönes noch nie gesehen! / Ich konnt mich zuerst gar nicht rühren vor Überraschung. Und dann war der Gedanke an mir vorbei. Ich lief ihm nach und fand ihn nirgends – er war weg. / Zu dumm! / Ich ärgerte mich, wie kann man nur so blöd sein und so einen schönen Gedanken vergessen! / Und ich strengte mich an, dass er mir einfallen möge wieder, aber er blieb aus. Er kam nicht wieder. Ich lief ihm nach an vielen platten Gedanken vorbei, hübschen und nicht hübschen, hässlichen, es kamen mir inzwischen auch neue Gedanken, ich traf auch neue, fremde wurden mir vorgestellt. Aber der Gedanke, den ich suchte, blieb mir fern. Und ich wusste, ich brauche ihn, auf diesen Gedanken habe ich immer schon gewartet. / Aber es sollte nicht sein! / Ich gab die Hoffnung schon auf und unterhielt mich mit anderen Gedanken. Gedanken, die aus dem Schnaps kommen, aus Wein und Bier, aus einem guten Braten, aus einer hohen Kirche, vom Markt – kurz allerhand Kraut und Rüben. / Aber ganz heimlich in mir blieb die Sehnsucht wach nach dem einen großen Gedanken –  / Ob ich ihn jemals wiedersehen werde? / Manchmal dachte ich schon, ich hätte ihn wieder, aber das war alles Täuschung. Vielleicht war eine gewisse Ähnlichkeit vorhanden, aber er war es nicht. / Und ich wurde immer trauriger über den schönen Gedanken. Ich wusste, wenn ich ihn wiederhabe, dann darf mich die ganze Welt gern haben. / Dann pfeif ich auf alles. / Und dann kam ein Gedanke, es war ein sehr gescheiter belesener Gedanke, der sagte: Hör mal, ich glaub, das war gar kein Gedanke, mir scheint, das war eher ein Gefühl – / Ein Gefühl? Dass ich nicht lache! / Lacht nicht! Man kann das oft nicht so genau unterscheiden – es gibt Grenzen, man meint, man hat ein Gefühl, und derweil denkt man nur, und einen Gedanken, und derweil ist das alles nur Gefühl! / Ich verbitte mir das! Ich werde wohl noch einen Gedanken von einem Gefühl unterscheiden können! / Abwarten! Was bin zum Beispiel ich? Es gibt keinen ganz reinen Gedanken, immer ist auch irgendwo versteckt ein paar Prozent Gefühl und umgekehrt! Aber den Gedanken, den ich traf und vergessen habe, das war der reinste Gedanke! Und drum sehn ich mich auch so mit ganzem Herzen nach ihm. // Er starb. Und als der Engel des Todes kam, sagte er: Ach, du bist ja mein Gedanke – / Ja, sagte er, ich bin mal an dir vorbei und hab mir gedacht, soll dich jetzt der Schlag treffen oder nicht? Dann hab ichs mir überlegt. Ich bin weder ein Gedanke, noch ein Gefühl, ich bin der Friede! Friede auf Erden den Menschen, die unter der Erde liegen! Komm, ich bin das Nichts. Drum hast du mich auch vergessen. Denn ein Nichts kann man nicht behalten.

(Postum erschienener Prosatext)

ZUM TODESTAG DES ÖSTERREICH-UNGARISCHEN SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1901-1938)

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