Montag, 9. Juni 2014

Bertha von Suttner: Langeweile

»Ein gescheiter Mensch langweilt sich nie!« Das ist auch so eine Fabel. Natürlich will man dann nicht eingestehen, daß man das dummheitsbeweisende Gefühl kennt, und langweilt sich nur im geheimen. So gewissermaßen lasterhaft. Wenn einem je ein einsichtsvoller Freund teilnehmend sagt: »Aber hörst du, Lieber, in deiner Einsamkeit muß dir doch manchmal die Zeit lang werden,« so nimmt der so Angeredete ein erstauntes Gesicht an, als höre er zum erstenmal im Leben, daß ein solcher Fall möglich sei, und antwortet: »Mir? – O nein – Wenn man sich zu beschäftigen weiß ...« Der andere schämt sich sodann, daß er auf der Fähigkeit, sich zu langweilen, etwa ertappt worden, und beeilt sich zu erwidern: »Ja, du hast recht, wenn man sich beschäftigt ... Lektüre, Studium, Arbeit ... mir werden die Tage auch immer zu kurz.« / Reine Heuchelei! Der Mensch weiß so gut wie ich und jeder andere, wie im Leben die Stunden dahinschleichen können, matt und grau und bleiern – ja, ich glaube, es heißt »bleiern«. Unter Blei stellt man sich gewöhnlich doch etwas so Drückendes, Schwerfälliges und Glanzloses vor, wie langweilige Stunden und Tage dies eben sind ... Dazu kommt noch eine Ideenverbindung mit den Bleidächern von Venedig, welche das Jämmerliche an dem Bilde verstärkt. Wer hat es nicht einmal empfunden, was es ist, die Stirn an die Fensterscheiben drücken und in einen Landregen hinausschauen, dann sich auf das Sofa hinwerfen und die Beine gegen die Decke heben, was auch keine Erleichterung verschafft; dann auf die Uhr schauen und sehen, daß es um eine gute Stunde früher ist als gestern um diese Zeit; zu gähnen, als wäre man der König der Wüste in einem vergitterten Käfig; ein wenig nachdenken wollen und im Gehirn nichts anderes hervorbringen als eine nachklingende Drehorgelmelodie – endlich die Augen schließen und sich darein ergeben, daß man auf der Welt ist – einer Welt, so öde wie ein ausgedörrtes Schneckenhaus. Zu guter Letzt fällt einem noch das berühmte, eingangs erwähnte Axiom ein, kraft dessen man aus der Gemeinde der gescheiten Leute ausgestoßen erscheint, und beginnt sich zu verachten, sagt sich die ärgsten Grobheiten und hat nicht den Mut, sich dagegen zu verteidigen: »Ja, dumm bin ich – und ein Tagedieb und energielos und ein verfehltes Geschöpf ... Ah, ah ...« Wieder strecken sich die Glieder und verrenken sich die Kinnladen. / In dieser Stimmung habe ich mich zum Schreibtisch geschleppt, um meine Langeweile zu schildern. Das ist so eine Art, den Feind bei den Hörnern zu nehmen.

(Anfang der 1905 erschienenen Novelle)

ZUM GEBURTSTAG DER PAZIFISTIN

Über die Autorin (1843-1914)

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