Freitag, 27. Juni 2014

Johann Valentin Andreae: Chymische Hochzeit

An einem Abend vor dem Ostertag saß ich an einem Tisch, und wie ich mich meiner Gewohnheit nach mit meinem Schöpfer in meinem demütigen Gebet genugsam besprochen und vielen großen Geheimnissen (deren mich der Vater des Lichts seine Majestät nicht wenig sehen ließ) nachgedacht, auch nun mir mit meinem lieben Osterlämmlein ein ungesäuert unbeflecktes Küchlein in meinem Herzen zubereiten wollte, kam auf einmal ein solch grausamer Wind daher, dass ich nicht anders meinte, als dass der Berg, darin mein Häuslein gegraben, vor großer Gewalt zerspringen müsste. Weil mir aber solches und dergleichen der Teufel (der mir manch Leids getan) nicht antat, fasste ich Mut und blieb in meiner Meditation, bis mir wider meine Gewohnheit jemand auf den Rücken klopfte, wovon ich dermaßen erschrak, dass ich mich kaum umzusehen wagte, noch stellte ich mich so freudig, wie menschliche Schwachheit zu dergleichen Sachen sein kann. Und wie mich solch Ding zu etlichen Malen beim Rock zupfte, drehte ich mich um: da war es ein schöne herrliche Frau, deren Kleid ganz blau und mit goldenen Sternen wie der Himmel zierlich versetzt war. In der rechten Hand trug sie eine Posaune aus purem Gold, darauf ein Name gestochen war, den ich wohl lesen konnte, mir aber nochmals zu offenbaren verboten worden ist: In der linken Hand hatte sie ein großes Bündel Briefe von allerlei Sprachen, die sie (wie ich hernach erfahren) in alle Länder tragen musste: Sie hatte aber auch Flügel, groß und schön, voller Augen durch und durch, mit denen sie sich aufschwingen und schneller als jeder Adler fliegen konnte. Ich hätte vielleicht noch mehr an ihr bemerken können, aber weil sie so kurz bei mir blieb und noch aller Schreck und Verwunderung in mir steckte, muss ich's so sein lassen. Dann sah ich sie in ihren Briefen blättern und endlich ein kleines Brieflein herausziehen, welches sie mit großer Reverenz auf den Tisch legte; und ohne ein Wort entwich sie mir. Im Aufschwingen aber stieß sie so kräftig in ihre schöne Posaune, dass der ganze Berg davon erhallte und ich fast eine Viertelstunde lang mein eigenes Wort kaum mehr hörte. In solch unversehenem Abenteuer wusste ich mir Armen selbst weder zu raten noch zu helfen, fiel deswegen auf meine Knie und bat meinen Schöpfer, er wolle mir nichts wider mein ewiges Heil zugehen lassen; ging darauf mit Furcht und Zittern zu dem Brieflein, das nun so schwer war, das, wenn es lauter Gold gewesen wäre, kaum so schwer hätte sein können.

(Anfang des 1616 erschienenen alchemistischen Romans)

ZUM TODESTAG DES THEOLOGEN

Über den Autor (1586-1654)

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