Ich habe eine große Hochachtung für den Aristoteles, obwohl nicht für seinen Bart [...]. Aber da er hier von zwo
Quellen redet, aus denen die landüberschwemmende Poesie ihren Ursprung
genommen und gleichwohl nur auf die eine mit seinem kleinen krummen
Finger deutet, die andere aber unterm Bart behält (obwohl ich Ihnen auch
nicht dafür stehe, da ich, aufrichtig zu reden, ihn noch nicht ganz
durchgelesen) so ist mir ein Gedanke entstanden, der um Erlaubnis
bittet, ans Tageslicht zu kommen, denn einen Gedanken bei sich zu
behalten und eine glühende Kohle in der Hand [ist einerlei]. / [...] Unsere Seele ist ein Ding, dessen Wirkungen wie die des Körpers
sukzessiv sind, eine nach der andern. Woher das komme, das ist [die Frage] – soviel
ist gewiß, daß unsere Seele von ganzem Herzen wünscht, weder sukzessiv
zu erkennen noch zu wollen. Wir möchten mit einem Blick durch die
innerste Natur aller Wesen dringen, mit einer Empfindung alle Wonne, die
in der Natur ist, aufnehmen und mit uns vereinigen. Fragen Sie sich, meine Herren, wenn Sie mir nicht glauben wollen: woher die Unruhe, wenn Sie hie
und da eine Seite der Erkenntnis beklapst haben, das zitternde
Verlangen, das Ganze mit Ihrem Verstande zu umfassen, die lähmende
Furcht, wenn Sie zur andern Seite übergehn, werden Sie die erste wieder
aus dem Gedächtnis verlieren? Ebenso bei jedem Genuß, woher dieser
Sturm, das All zu erfassen, der Überdruß, wenn Ihrer keuchenden
Sehnsucht kein neuer Gegenstand übrigzubleiben scheint? Die Welt wird
für Sie arm, und Sie schwärmen nach Brücken. Den zitterlichsten Strahl
möcht Ihr Heißhunger bis in die Milchstraße verfolgen, und blendete das
erzürnte Schicksal Sie, wie Milton [der Autor des Verlorenen Paradieses] würden Sie sich in Chaos- und Nachtwelten wähnen, deren Zugang im Reich der Wirklichkeiten Ihnen versperrt ist. / Schließen Sie die Brust zu, wo mehr als eine Adamsrippe
rebellisch wird und kommen wieder hinüber mit mir in die lichten
Regionen des Verstandes. Wir suchen alle gern unsere zusammengesetzten
Begriffe in einfache zu reduzieren. Und warum das? Weil [der Verstand] sie dann
schneller und mehr zugleich umfassen kann. Aber trostlos wären wir,
wenn wir darüber das Anschauen und die Gegenwart dieser Erkenntnisse
verlieren sollten. Und das immerwährende Bestreben, all unsere
gesammelten Begriffe wieder auseinanderzuwickeln und durchzuschauen, sie
anschaulich und gegenwärtig zu machen, nehm ich als die zweite Quelle
der Poesie an.
(Aus der 1771 "in einer Gesellschaft guter Freunde" vorgetragenen Rede)
ZUM TODESTAG DES STURM-UND-DRANG-DICHTERS
Über den Autor (1751-1792)
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