Mittwoch, 4. Juni 2014

Jakob Michael Reinhold Lenz: Anmerkungen übers Theater

Ich habe eine große Hochachtung für den Aristoteles, obwohl nicht für seinen Bart [...]. Aber da er hier von zwo Quellen redet, aus denen die landüberschwemmende Poesie ihren Ursprung genommen und gleichwohl nur auf die eine mit seinem kleinen krummen Finger deutet, die andere aber unterm Bart behält (obwohl ich Ihnen auch nicht dafür stehe, da ich, aufrichtig zu reden, ihn noch nicht ganz durchgelesen) so ist mir ein Gedanke entstanden, der um Erlaubnis bittet, ans Tageslicht zu kommen, denn einen Gedanken bei sich zu behalten und eine glühende Kohle in der Hand [ist einerlei]. / [...] Unsere Seele ist ein Ding, dessen Wirkungen wie die des Körpers sukzessiv sind, eine nach der andern. Woher das komme, das ist [die Frage] – soviel ist gewiß, daß unsere Seele von ganzem Herzen wünscht, weder sukzessiv zu erkennen noch zu wollen. Wir möchten mit einem Blick durch die innerste Natur aller Wesen dringen, mit einer Empfindung alle Wonne, die in der Natur ist, aufnehmen und mit uns vereinigen. Fragen Sie sich, meine Herren, wenn Sie mir nicht glauben wollen: woher die Unruhe, wenn Sie hie und da eine Seite der Erkenntnis beklapst haben, das zitternde Verlangen, das Ganze mit Ihrem Verstande zu umfassen, die lähmende Furcht, wenn Sie zur andern Seite übergehn, werden Sie die erste wieder aus dem Gedächtnis verlieren? Ebenso bei jedem Genuß, woher dieser Sturm, das All zu erfassen, der Überdruß, wenn Ihrer keuchenden Sehnsucht kein neuer Gegenstand übrigzubleiben scheint? Die Welt wird für Sie arm, und Sie schwärmen nach Brücken. Den zitterlichsten Strahl möcht Ihr Heißhunger bis in die Milchstraße verfolgen, und blendete das erzürnte Schicksal Sie, wie Milton [der Autor des Verlorenen Paradieses] würden Sie sich in Chaos- und Nachtwelten wähnen, deren Zugang im Reich der Wirklichkeiten Ihnen versperrt ist. / Schließen Sie die Brust zu, wo mehr als eine Adamsrippe rebellisch wird und kommen wieder hinüber mit mir in die lichten Regionen des Verstandes. Wir suchen alle gern unsere zusammengesetzten Begriffe in einfache zu reduzieren. Und warum das? Weil [der Verstand] sie dann schneller und mehr zugleich umfassen kann. Aber trostlos wären wir, wenn wir darüber das Anschauen und die Gegenwart dieser Erkenntnisse verlieren sollten. Und das immerwährende Bestreben, all unsere gesammelten Begriffe wieder auseinanderzuwickeln und durchzuschauen, sie anschaulich und gegenwärtig zu machen, nehm ich als die zweite Quelle der Poesie an.

(Aus der 1771 "in einer Gesellschaft guter Freunde" vorgetragenen Rede)

ZUM TODESTAG DES STURM-UND-DRANG-DICHTERS

Über den Autor (1751-1792)

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