Dienstag, 24. Juni 2014

Walther Rathenau vor einem geladenen Kreis aller Parteien

Gestatten Sie es einem rein praktischen Politiker, gestatten Sie es demjenigen, dem die Aufgabe obliegt, gerade in diesem Augenblick das Werk der Verträge, das Werk der Beziehungen zu pflegen, gestatten Sie in diesem Augenblick das Wort auszusprechen: Nicht Verhandlungen machen uns gesund und nicht Verträge, sondern die Gesundheit eines Volkes kommt nur aus seinem inneren Leben, aus dem Leben seiner Seele und seines Geistes. Dieses Leben ist gefährdet, aber es ist nicht zu Tode getroffen. Es gibt vieles, was unser seelisch-geistiges Leben schädigt – ich brauche nur an das zu erinnern, was wir in unseren großen Städten und an anderen Stellen im Lande sehen –, aber unser seelisch-geistiges Leben ist in seinen Tiefen gesund. Noch immer lebt dieser Wille zur Arbeit, zur Disziplin, zur Organisation, zur Forschung, noch immer lebt der Wille zur Hingebung und zum Opfer, zur Betrachtung der Erscheinung im großen Bogen der Synthese und Zusammenfassung; noch immer sind die großen Kräfte des Geistes und Herzens ungebrochen und unberührt. Unserer Jugend haben wir diese Kräfte zu übergeben, sie ist die Trägerin und Pflegerin dieser Kräfte, und wir wollen hoffen, dass sie diese größte und schwerste Verantwortung der Gegenwart erfüllt. Manches wird sie in diesem Fall abzustreifen haben, denn nicht aus dem Kampfe des Tages erwachsen diese Kräfte; diese Kräfte erwachsen aus der Versenkung und Vertiefung. Deswegen lassen wir unsere Jugend nicht untergehen in den Kämpfen des Tages, weisen wir sie hin auf die großen Ideale der Vergangenheit und führen wir sie zu den Idealen der Zukunft.

(Aus der am 9. Juni 1922, zwei Wochen vor seiner Ermordung gehaltenen Stuttgarter Rede)

ZUM TODESTAG DES POLITIKERS

Über den Autor (1867-1922)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen