Gestatten Sie es einem rein praktischen Politiker, gestatten Sie es
demjenigen, dem die Aufgabe obliegt, gerade in diesem Augenblick das
Werk der Verträge, das Werk der Beziehungen zu pflegen, gestatten Sie in
diesem Augenblick das Wort auszusprechen: Nicht Verhandlungen machen
uns gesund und nicht Verträge, sondern die Gesundheit eines Volkes kommt
nur aus seinem inneren Leben, aus dem Leben seiner Seele und seines
Geistes. Dieses Leben ist gefährdet, aber es ist nicht zu Tode
getroffen. Es gibt vieles, was unser seelisch-geistiges Leben schädigt –
ich brauche nur an das zu erinnern, was wir in unseren großen Städten
und an anderen Stellen im Lande sehen –, aber unser seelisch-geistiges
Leben ist in seinen Tiefen gesund. Noch immer lebt dieser Wille zur
Arbeit, zur Disziplin, zur Organisation, zur Forschung, noch immer lebt
der Wille zur Hingebung und zum Opfer, zur Betrachtung der Erscheinung
im großen Bogen der Synthese und Zusammenfassung; noch immer sind die
großen Kräfte des Geistes und Herzens ungebrochen und unberührt.
Unserer Jugend haben wir diese Kräfte zu übergeben, sie ist die Trägerin
und Pflegerin dieser Kräfte, und wir wollen hoffen, dass sie diese
größte und schwerste Verantwortung der Gegenwart erfüllt. Manches wird
sie in diesem Fall abzustreifen haben, denn nicht aus dem Kampfe des
Tages erwachsen diese Kräfte; diese Kräfte erwachsen aus der Versenkung
und Vertiefung. Deswegen lassen wir unsere Jugend nicht untergehen in
den Kämpfen des Tages, weisen wir sie hin auf die großen Ideale der
Vergangenheit und führen wir sie zu den Idealen der Zukunft.
(Aus der am 9. Juni 1922, zwei Wochen vor seiner Ermordung gehaltenen Stuttgarter Rede)
ZUM TODESTAG DES POLITIKERS
Über den Autor (1867-1922)
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