Diese Zeitschrift ist eine kritische, aber sie ist keine deutsche
Litteraturzeitung. Wir werden Ausführungen von Franzosen und Deutschen
bringen:
1. Ueber Menschen und Systeme, die von Eínfluss und Bedeutung sind,
über Fragen des Tags, Verfassung, Gesetzgebung, Staatsökonomie, Sitte
und Bildung. Die himmlische Politik des Mittelreiches wird aufgehoben
und die wirkliche Wissenschaft von den menschlichen Dingen an die Stelle
gesetzt.
2. Eine Revue der Zeitungen und Zeitschriften: Bezeichnung ihres Verhältnisses zu den Problemen unserer Zeit.
3. Eine Revue der alten Buchlitteratur und Belletristik in
Deutschland, die nothwendig zu einer Kritik des bisherigen deutschen
Geistes in seiner transcendenten, jetzt verfaulenden Daseinsweise
ausschlagen muss; ebenso eine Revue derjenigen Bücher beider Nationen,
durch welche die neue Epoche, in die wir eintreten begonnen und
fortgeführt wird.
Unsere Arbeit ist einige Monate unterbrochen worden, wir setzen sie jetzt auf einer neuen Grundlage fort.
Als im vorigen Jahr die deutschen Regierungen der althergebrachten
Freiheit zu philosophiren ein Ende machten, und die Schriften
unterdrückten, welche die Welt mit den Gedanken der neuesten Philosophie
bekannt machten, erfuhren sie, wo die Sache zur Sprache kam, den
Beifall der Volksvertreter und sonst überall die Gleichgültigkeit der
grossen Masse des Volks. Diese Erfahrung hat gezeigt; wie weit in
Deutschland die Philosophie noch davon entfernt ist, Nationalsache zu
sein. Sie muss es werden. Die Gleichgültigkeit der Massen, die
Anfeindung der Ununterrichteten unter den Gebildeten muss aufhören, der
Widerstand derer, die von Amtswegen dem Gebrauch und der Realisirung der
Vernunft entgegen sind, muss gebrochen werden. Ein Volk ist nicht eher
frei, als bis es die Philosophie zum Princip seiner Entwicklung macht;
und es ist Aufgabe der Pilosophie, das Volk zu dieser Bildung zu
erheben.
In Deutschland war die Heuchelei, als sei die Wissenschaft
gleichgültig gegen das Leben, und wenn das nicht, als sei doch
wenigstens ihr Himmel für die Masse der Menschen unerreichbar, nicht zu
besiegen. Unter vernünftigen Verhältnissen wird der Kern der
Wissenschaft Eigenthum Aller in der Form der Praxis und des allgemeinen
Bewusstseins. Ein praktischer Gedanke, ein weltbewegendes Wort sind aber
in Deutschland unmittelbar Attentate auf Alles, was heilig und über den
Pöbel erhaben ist. Heilig und vornehm, nicht menschlich und frei, ist
die deutsche Wissenschaft so gut als der deutsche Staat, und Verrath an beiden, die Menschheit ohne Rückhalt in ihren Besitz zu setzen. Dieser Verrath muss jetzt begangen werden.
Man könnte sagen, er muss fortgesetzt werden, denn der Anfang ist in
der That schon gemacht. Die Ereignisse der letzten Jahre haben die
Philosophie zu einer politischen Bedeutung erhoben, die sie in
Deutschland bisher noch nie erreicht, und den Glauben an eine
Litteraturwelt, in der die seligen Götter des gelehrten und
künstlerischen Olymps ein abgeschiedenes Leben führen, nicht wenig
erschüttert. Die Menschheit interessirt jetzt nicht mehr das entfernte
Wetterleuchten einer Weisheit, die jenseits des gewöhnlichen Horizontes
arbeitet, nicht mehr die lautlose Buchhaltung der Litteratur über die zu
Grabe gegangenen Geister, sondern wesentlich das wirkliche Wetter, in
das wir unsere Köpfe hinausstrecken, der Aufruhr oder die ruhige
Strömung der ganzen gegenwärtigen Athmosphäre, der Kampf strebender und
widerstrebender Elemente in ihr, – das Leben dieser reellen in sich
arbeitenden Menschenwelt.
Für dies Interesse thätig zu sein, ist die Aufgabe aller fähigen
Menschen unserer Tage. Der grosse Gedanke einer weltgewinnenden
Litteratur der Aufklärung wird nun erst in seinem ganzen Umfange
verwirklicht werden; alle Kunst und aller Geist, aller Ehrgeiz und alle
Arbeit, die nicht verloren sein will, wird er in seinen Dienst nehmen,
um mit unwiderstehlicher Gewalt die Freiheit der Wissenschaft und des
Staates zu einer Herzenssache der gebildeten Völker zu machen.
Wir haben uns dieser Aufgabe gewidmet. Ist die deutsche Bewegung für
den Augenblick in eine Bücherwelt zurückgeschleudert, die sich das
Ansehn giebt, als ginge sie die Geschichte und die Revolution, in der
wir leben, nichts an; so werden wir diese Heuchelei und Indifferenz
abstreifen und mit vollem Bewusstsein politische Zwecke verfolgen. Wir
werden Alles auf die Freiheit beziehn. Eine indifferente Gelehrsamkeit
giebt es für den Philosophen nicht. Philosophie ist Freiheit und will
Freiheit erzeugen; und wir verstehn unter Freiheit die wirklich
menschliche, d.h. die politische Freiheit, nicht irgend einen
metaphysischen blauen Dunst, den man sich auf seinem Studirzimmer
vormachen kann, und wäre auch dies Zimmer ein Gefängniss.
Wir werden damit anfangen, eine kritische Zeitschrift zu schreiben, und wir denken, ihr diesen Namen dadurch zu verdienen, dass wir in ihr eine philosophische und publicistische Darstellung der Crisen unserer Zeit geben.
Für Deutschland allerdings werden wir wohl auch noch ferner die
Anknüpfung an die Litteratur beibehalten, da hier die Schriftsteller
sowohl, als die Regierungen nichts anderes hervorbringen, als reine
Litteratur.
Sonst aber ist den Mitarbeitern an der Kritik, die wir beabsichtigen,
unbedingt die Anknüpfung an jedes Problem der Zeit, auch abgesehen von
einer bestimmten litterarischen Erscheinung desselben, freigestellt.
Alles, was sich auf die grosse Umwälzung bezieht, die in der alten Welt
vor sich geht, in möglichst prägnanter und künstlerisch abgerundeter
Form zum allgemeinen Bewusstsein zu bringen, diese Aufgabe, welche die
Franzosen schon so oft und mit so schlagendem Erfolge gelöst, gilt nun
auch für uns. Der deutsche Contrat social und die deutsche Frage: Was
ist Deutschland, und was muss es werden? Die deutsche Politik für’s Volk – alle diese Schriften werden geschrieben werden. Die Lorbeeren der
unsterblichen Franzosen müssen uns nicht schlafen lassen.
In der That verhält sich der Charakter solcher Schriften, die aus der
Bewegung des öffentlichen Lebens entspringen und wieder den Ursprung
einer neuen Epoche enthalten, zu deutschen Gedanken und Schriften wie
das Tagesleben zum Traume. Die Kühnheit der Absicht, die Kunst der
Ausführung und die Grösse des Erfolgs sind bei uns auf gleiche Weise
unmöglich.
Dies führt uns zu Frankreich. Jede Verweltlichung der Wissenschaft,
jede Verbindung derselben mit der Polilik ist unmittelbar Verbindung mit
Frankreich. Gegen Frankreich sein und gegen Politik, gegen Polilik und
gegen Freiheit sein, ist in Europa dasselbe. Frankreich ist das
politische Princip, das reine Princip der menschlichen Freiheit in
Europa und Frankreich ist es allein. Es hat die Menschenrechte
proclamirt und erobert, es hat seine Eroberung verloren und
wiedergewonnen, es kämpft in diesem Augenblick um
die Realisirung der grossen Principien des Humanismus, welche die
Revolution in die Welt gebracht. Hiedurch hat diese Nation eine
kosmopolitische Sendung: was sie für sich erkämpft, das ist für alle
gewonnen. Der Nationalhass gegen Frankreich ist daher mit dem blinden
Widerwillen gegen die politische Freiheit völlig gleichbedeutend. In
Deutschland kann man das Mass des Verstandes und der sittlichen
Befreiung bei jedem Menschen daran prüfen was er über Frankreich
urtheilt. Je trüber der Verstand, je unterwürfiger die Denkungsart eines
Deutschen ist, desto ungerechter und unwissender wird sein Urtheil über
Frankreich ausfallen. Die Grösse und sittliche Kraft einer Nation, die
sich und ganz Europa alle Freiheit erobert hat, welche die Welt jetzt
geniesst, wird er unsittlich, die Aufhebung seines eignen Princips, des
Philisterthums, wird er gemüthlos nennen, und Sinn für Familienglück
wird er den gottlosen Franzosen nun gar nicht zugestehn. Wer in
Deutschland die Franzosen versteht und anerkennt, ist schon ein
gebildeter, ein freier Mann. Ganz natürlich. Die wirkliche Vereinigung
des deutschen und französischen Geistes ist ein Zusammentreffen in dem
Principe des Humanismus, und einer solchen Vereinigung geht die
Versittlichung des Individuums durch Aufhebung des rohen Nationalhasses
und der unwissenden Schmähsucht, nicht minder die Erkenntniss der
gegenseitigen wissenschaftlichen, geselligen und politischen Tugenden
vorauf. Beides ist eine geistige Befreiung. Und auch darin beschämen uns
die Franzosen. Sie haben sich ihr zu einer Zeit, als sie Ursache hatten
uns zu hassen, freiwillig ergeben. Sie studiren uns, sie achten uns, ja
sie überschätzen uns und unsre überweltliche Wissenschaft; und wenn sie
die weltliche Wendung der neusten Epoche noch nicht kennen, so wird es
sich gar bald zeigen, dass sie erst hier wirklich mit uns
zusammenkommen. Wir dürfen, wenn auch in der Freiheit, doch nicht in der
Bildung hinter ihnen zurückbleiben; und wenn es eine Zeit gab, wo
Lessing Deutschland vom Joch des französischen Geistes befreien musste,
so ist ohne Zweifel jetzt das Studium der französischen Geisteswelt,
ihrer Eleganz und Bildung für uns eine Befreiung von endlosem Wust und
Vorutheil, ein Schutz gegen alle eroberungssüchtigen und tyrannischen
Missbräuche des Nationalgefühls, und endlich, wenn man so viel hoffen
darf, ein Sporn zur Erkämpfung politischer Freiheit und eines
öffentlichen Staatslebens. Die reellste Vereinigung beider Nationen ist
die Vermittlung ihrer Bildung; ja, eine solche Vereinigung ist der Sieg
der Freiheit.
Wir Deutsche haben viel Zeit verloren mit Aufstöbern, Ausklopfen und
Ausbürsten unsers alten Krams in Religion und Politik. Wir haben uns zum
Theil die Augen dabei verdorben und sind übersichtige Romantiker
geworden. Aber wir haben auch einen Ordnungssinn und einen logischen
Scharfblick aus dieser Arbeit gewonnen, der uns in metaphysischen und
phantastischen Regionen zum sichern Compass dient, während die Franzosen
in ihnen ohne Steuer vor Wind und Wellen treiben. Selbst Lamennais und
Proudhon, die im Politischen so unübertrefflich klar und scharf sind,
machen hievon keine Ausnahme, der Saint-Simonisten und der Fourieristen
gar nicht zu gedenken.
Uns Deutsche hat, so seltsam es den Ununterrichteten auch klingen
mag, von der Willkür und Phantastik das Hegelsche System befreit. Indem
es die ganze transcendente Welt aller bisherigen Metaphysik als ein Vernunftreich constituirte, liess es uns nur übrig, die Transcendenz
der Vernunft aufzuheben, um den Vortheil ihrer logischen Sicherheit und
Consequenz zu geniessen. Aus dem Himmel des Hegelschen Systems auf die
Erde, die der directen menschlichen Vernunft gehört, gelangt man
ausgerüstet mit dem Pilotenverstande, der die Himmelscharte, selbst zu
seiner Orientirung auf der Erde, benutzt. Diese Himmelscharte ist uns
Deutschen die Logik des Hegelschen Systems, sie, die selbst das ganze
System in himmlischer, abgeschiedener Form noch einmal ist.
Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man unmittelbar zur
menschlichen Freiheit und zu den Forderungen des reinen Humanismus
gelangt, oder ob man die ganze himmliche Wirthschaft, in welcher die
alte Menschheit noch befangen ist, den ganzen romantischen Wust in
Religion und Politik, vorher systematisch, d. h. philosophisch
durchgemacht und an jedem Punkte überwunden hat. Die Freiheitsforderung
derer, die aus der Hegelschen Philosophie hervorgehn, ist daher nicht
ein blosser Wille, sondern ein motivirter Wille, nicht ein liberaler
guter Wille, sondern eine nothwendige Consequenz, nicht ein Produkt des
Zufalls, sondern ein Ergebniss der Geschichte des deutschen Geistes,
eine Form seines Bewusstseins über seine ganze bisherige Arbeit, der nun
nichts mehr entgegenzusetzen ist. Denn was diesem Zeitgeiste
entgegengesetzt werden könnte, die Vergangenheit oder seine bisherige
Arbeit und ihre Herrlichkeit; eben diese durchschaut zu haben, ist sein
Verdienst. Früher konnte ein solches Unternehmen gelingen; denn damals
war in Deutschland die Freiheitsforderung so wüst und ungebildet, dass
sie selbst gar nichts anders enthielt, als eben jene unbedingte
Verehrung der Vergangenheit. Zunächst aber, als man diesen Gedanken
ausführen wollte, war die Vergangenheit die alte Beamtendespotie, dann,
als diese sich wieder durchgesetzt hatte, konnte man, so schien es, noch
einen Schritt weiter zurückthun und die Romantik oder das
christlich-germanische Restaurationsprincip zur Reformirung des
Beamtenstaates anwenden. Dies ist aber schon ein verunglückter Versuch
zu nennen. Seitdem sich zwei deutsche Könige vergeblich mit dieser
Reform zum Mittelalter zurückzuarbeiten versucht haben, ist die Ohnmacht
der Romantik in der Politik schlagend bewiesen. Gewonnen ist aber
wenigstens so viel damit, dass die Scheidung des Geistes der
Restauration und der Revolution unwiderruflich vollzogen wurde. Die
Privilegien des alten himmlischen Reiches und die menschliche Freiheit
unserer Epoche sind auf den Tod verfeindet. Und die Revolution hat alle
moralische und intellektuelle Gewalt auf ihrer Seite. Bei jedem wahren
Wort, das im Namen der Freiheit gesprochen wird, erhebt der morsche
Raritätenkasten der Vorzeit, und seine Bewohner und Vertheidiger fühlen,
dass es der Drommeten von Jericho nicht bedarf, um ihn
niederzuschmettern. Diese Angst hat uns in Deutschland das Wort
verboten. Das Verbot ist der Ausdruck der Todfeindschaft, aber auch der
Todesfurcht und eben darum die Bürgschaft unserer Zukunft. Eine solche
Niederlage ist schon der Sieg.
Freilich wenn die Franzosen dies hören, werden sie sagen: „In einem
dreissigjährigen Kampfe nicht weiter gekommen zu sein, als bis zu diesem
Punkt, dass in seíner Todesangst der alte Despotismus sich zur
gänzlichen Vernichtung aller freien Regung des Öffentlichen Geistes
aufgerafft und die Freiheit nichts als diese stille Hoffnung auf ein
zukünftiges Geschlecht übrig behalten hat, das heisst in der That viel
Zeit und alles Terrain verlieren.“ – Ja, wir geben es zu, der Wechsel
auf die Zukunft ist, so gut und nicht besser als die Zukunft selbst,
eine Realität, die für uns wenigstens immer sehr zweifelhaft bleibt. Wir
konnten diese Thatsache nicht bündiger eingestehn, als damit, dass wir
daran verzweifeln mussten, bevor wir den gastlichen Boden Frankreichs
betraten, auch nur die freie Sprache und die Veröffentlichunng unserer
Gedanken wieder in unsere Gewalt zu bekommen. Und dennoch ist die Mühe
in dem Gebiet der reinen Principien nicht umsonst aufgewendet, die
Arbeit in der überweltlichen Region, der wir Deutsche so grosse Kräfte
gewidmet, nicht verloren. Diese Mühe und Arbeit führt, durch die
wiederholte Erkenntniss und Erklärung des alten, zu der radikalsten
Eroberung des neuen Princips; ihre Früchte den Franzosen zugänglich
machen, heisst die grosse Umwälzung, die sie durch die Philosophie des
18ten Jahrhunderts und durch ihre Revolution gemacht, für immer sicher
stellen. Wir sichern sie, wenn es uns gelingt sie mit der neuesten
deutschen Philosophie bekannt zu machen, gegen alle Verführung jener
wildaufgewachsenen Genialität und zügellosen Phantasie, der grade die
Franzosen mit einer edlen
Unbesonnenheit sich zu überlassen pflegen, wie dies des geistvollen
Chateaubriands und Lamennais’s christliche Schwärmereien und die
romantischen Gelüste eines grossen Theils der jetzigen französischen
Jugend hinlänglich beweisen. Haben wir Deutsche uns an der Freiheit
versündigt, als wir die grösste That der Weltgeschichte, die Revolution,
im Dienste des Despotismus bekämpften, so wird es eine Sühne sein, wenn
jetzt die deutsche Philosophie den französischen Geist vor den
Lockungen, die ihm drohen, bewahren kann – Lockungen, denen die guten
Deutschen seit den Freiheitskriegen so schmählich erlegen sind. Der
Naive, der die Irrwege der religiösen und poetischen Phantastik nicht
kennen gelernt, der sie in jener metaphysischen Himmelscharte nicht
genau verzeichnet und für immer characterisirt weiss, ist nie sicher.
Auf die metaphysische Naivetät der Menschen haben von jeher die
Priester, welche die Stirn hatten, der Welt Mysterien zu offenbaren, die
sie selbst weder wussten noch glaubten, ihr System gebaut. Auf dieser
Naivetät ruhte das ganze System der mittelalterlichen Heiligthümer,
denen der Mensch und seine Freiheit zum Opfer gebracht wurde. Die
Deutschen haben den Ruhm, dieser düpirten und entmenschten Zeit
vorzugsweise anzugehören. Den Sturz von den lichten Höhen der
griechischen Menschheit in die düstre Tiefe der christlich-germanischen
Gemüthsrohheit, wem anders als der metaphysischen Einfalt unserer
Vorfahren hat die Welt ihn zu verdanken? Und diese tausendjährige
Einfalt sollte die Revolution überleben und selbst durch den
Zusammensturz des ganzen alten Reichsplunders nicht gewitzigt werden! –
Als die Deutschen im Anfange dieses Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit
wieder erobert hatten, wandten sie sich diesem Plunder wieder zu, und
was sie von dem alten Unwesen in der Wirklichkeit nicht erreichen
konnten, dessen erinnerten sie sich wenigstens mit unglaublicher
Sehnsucht und Gemüthlichkeit. Eine gute Weile haben sie sich ihrer
kaiserlich-päbstlichen Herrlichkeit erinnert, dann aber
mitten in dieser Erinnerung ist ihnen das Verständniss derselben
aufgegangen, und die neuste Philosophie bietet die Erscheinung dar, dass
nun auch die Deutschen von freien Stücken mit den Illusionen ihrer
Vergangenheit brechen und im Namen der unverjährlichen Menschenrechte
dem „christlich germanischen“ Mittelalter den Krieg erklären. Dies ist
eine Genugthuung für Frankreich, es ist ferner, wie gesagt, eine Arbeit,
die ihm positiv zu Gute kommen muss, und es ist endlich die Vereinigung
des deutschen und französischen Volks in demselben humanen Princip,
eine unwiderstehliche Allianz der Freiheit beider Völker, deren
gemeinsames Schicksal von nun an unumstössliche Thatsache ihres
politischen Bewusstseins ist.
Die Rückkehr des deutschen Bewusstseins zu dem Grundgedanken der
französischen Revolution trägt uns von der andern Seite eine Realität
entgegen, die wir mit unglaublicher Uebersichtigkeit bis jetzt
vernachlässigt haben. Frankreich ist das Land , welches seit der
Revolution an der Realisirung der Philosophie arbeitet, Frankreich ist
ein durch und durch philosophisches Land. Wenn man ihm vorwerfen kann,
dass es über die Praxis manchmal die Principien aus dem Auge verloren
habe, so muss man gestehn, dass es mit bewundernswürdigem Muth und Geist
immer wieder zu ihnen zurückgekehrt ist, und sein ganzes Leben mit
ihnen geschwängert hat, wie kein andres Volk dies bis jetzt vermochte.
Der Boden dieses Landes ist daher geweiht; eine klassische, eine
männliche, eine ganz ungeheuchelt wahre Litteratur, hinreissend durch
Form und Inhalt, hat sich auf ihm erzeugt, Wir Deutsche haben wenig oder
nichts dergleichen. Ja, wir fühlen noch nicht einmal das Bedürfniss,
die geistige Speise, die man uns täglich auftischt, nur unverfälscht und
ehrlich bereitet zu geniessen. Unsere Litteratur und unser politisches
Leben ist durch und durch verderbt und wenn ja ein Schriftsteller und
Politiker naiv genug ist, dem System der verkehrten Welt, in der Alle
für Einen und Viele für Wenige geschaffen sind, ehrlich anzuhängen, so
ist dies eine
Wahrhaftigkeit und eine Aechtheit des Ausdrucks, die nichts werth, eine
Einfalt, die so gefährlich ist, wie irgend eine. – Wie können wir uns
retten aus diesem grössten Elend, das über eine Nation kommen kann, aus
der sittlichen Verwahrlosung ihrer ganzen Oeffentlichkeit?
Wir müssen uns die freie und wahre Oeffentlichkeit suchen, wo sie zu
finden ist; und da die deutsche Nation zu stumpf ist, um für
Pressfreiheit die Stimme, welche durchdringt, den allgemeinen
energischen Ruf zu erheben; nun, so müssen wir im Auslande schreiben und
drucken wie die Franzosen vor ihrer Revolution dies auch gemusst.
Es handelt sich für uns Deutsche darum, ein Beispiel wahrer
Pressfreiheit vor Augen zu haben, eine Anschauung zu gewinnen von der
Freiheit, die sich selbst beherrscht und Gesetze auferlegt, von einer
Freiheit, die vor nichts zurückbebt, als davor, sich selber und den
ewigen Gesetzen der Vernunft ungetreu zu werden, von einer Freiheit,
die, selbstgewiss und unerbíttert, dem Knirschen des gefesselten Sklaven
entsagt, die Welt nicht verwüsten und ihr nicht ins Gesicht schlagen,
sondern sie gewinnen, sie hinreissen, sie über sich selbst erheben will,
von einer Freiheit, die in der Schönheit ihr Gesetz und in der Wahrheit
ihr Mass und Ziel findet. Ja, ihr Herrn, um diese Freiheit. Ihr habt
uns lange umhergezerrt und unter die Füsse getreten, ihr habt unsre
Arbeiten unbarmherzig verdorben und vertilgt, ihr habt unsern Zorn über
eure Rohheit und Unwissenheit zur Wuth entflammt, und dann, wenn ihr auch
den Ausdruck gerechter Leidenschaft wieder verfälscht hattet, dann
zeigtet ihr zuletzt noch mit Fingern auf uns und charakterisirtet uns
nach unsern Schriften, wie sie eure Beamten in den Druck gegeben und
eure freie Presse sie verstanden hatte. Das ist kein Kampf, das ist eine
Verhöhnung des Gefesselten, ein Spiel mit des Menschen Recht und Ehre.
Genug dieses Spiels für uns und für euch.
Fürchtet ihr uns, so thut es; aber ihr habt nichts für uns zu fürchten,
für die ihr bisher so väterlich sorgtet. Wollt ihr kämpfen, jetzt ist
Luft und Sonne gleich; aber wenn wir jetzt erscheinen, wie wir sind,
nicht wie die Censur uns frisirte oder die List gegen sie uns vermummte,
so habt ihr nicht zu fürchten, dass wir uns nun in einem minder
vortheilhaften Lichte zeigen.
Wir finden die Pressfreiheit vor; wir treten plötzlich in sie ein,
wir, denen selbst unter Censur zu schreiben nicht mehr vergönnt sein
sollte. Es ist ein Sprung, der ungeheuerste, den es geben kann, von der
entwürdigsten Stellung zu der ehrenvollsten, von der gänzlichen
Unterdrückung zur vollkommenen Freiheit. Aber dieser Sprung ist
natürlich. Die alten Verhältnisse wollten uns nicht mehr ertragen, weil
wir ihnen entwachsen waren; und wir werden es beweisen, dass wir im
Mutterleibe der deutschen Finsterniss stark genug geworden sind, um mit
einem Male das Licht der Welt zu erblicken und die Luft der freien
Atmosphäre ein- und auszuathmen.
Unsere Pressfreiheit wird uns, wir hoffen es, unsterbliche Werke aus
der Werkstatt der neuen Generation zuführen. Sie ist wirkliche Freiheit,
sobald sie auftritt als die Frucht ernster und hingebender Studien der
Philosophie und der Form; sie wird aber auch euch, der alten Generation
der Unterworfenen, eine Pressfreiheit, zum mindesten gegen uns, bringen.
Hütet euch, dass diese nicht ein wüstes Nebelbild der wahren, ein rohes
altdeutsches Gespenst ohne Sitte, Verstand und Schönheit werde. Nehmt
all eure Kräfte zusammen; und wenn ihr als Gegner der Freiheit nicht
frei sein könnt, so sucht wenigstens die Ehre wohlgezogener und
gutgeschulter Diener zu erwerben. Wenn ihr ohne Gemeinheit polemisiren
und ohne Rohheit unsre Gegner sein, wenn ihr euch deutsch ohne
Brutalität, patriotisch ohne Verworfenheit, loyal ohne Verrath an den
ewigen Rechten der Menschheit zeigen könnt; so wird auch euch dies neue
Verhältniss befrein; wo nicht, so ist es nicht unsere Schuld, dass ihr
die Gelegenheit versäumet, die wir euch bieten.
Wie aber auch die Form der deutschen Pressfreiheit, die uns
gegenübertritt, ausfallen mag, ihr Inhalt ist bekannt und ihre Absicht
hat alle Welt verstimmt. Ja, wenn der ganze Helikon herniederstiege und
die Grazien allen Schriftstellern von der guten deutschen Presse ihren
Gürtel borgten; es würde ihnen nicht gelingen die allgemeine Verstimmung
über das System, dem sie dienen, zu beschwichtigen. Die Entwürdigung
des deutschen Namens ist eine allgemein gefühlte Thatsache, um so
schmerzlicher da sie unmittelbar auf die Hoffnungen von 1840 und 41
folgt und buchstäblich eine ganze Nation eben so schnell aus ihrem
Himmel herabgestürzt, als sie sich in ihn erhoben hatte. Es ist nöthig,
dass die gefühlte Entwürdigung auch zu Worte kommt und dass sie deutlich
und leserlich für zukünftige Geschlechter in das grosse Buch der
Geschichte eingetragen wird. Aber damit ist es nicht genug; es bedarf
einer Enthüllung des alten Systems, die von Innen herauskommt und mit
der Wiederherstellung der menschlichen Freiheit nicht nur ebenfalls ein
neues politisches System begründet, sondern damit eben so sehr Epoche
macht, wie die planmässige Unterjochung der Menschheit, die den grössten
Theil der bisherigen Geschichte einnimmt.
Die Zeit, der Kritik einen solchen, d.h. den direkten und
wesentlichen Inhalten zu geben, ist gekommen. Alle Anzeichen, sowohl die
Beeiferung der Welt um die Erkenntniss ihrer Lage und die Lust der
Aufklärer an ihrer Arbeit, als auch die Bemühungen derer, die beides zu
fürchten haben, beweisen die Nähe einer reellen Krisis. Hier erinnern
wir uns des Zurufs eines Freundes: Seht, sagte er, alle Fenster des
alten Deutschland bis unter’s Dach und selbst die Dachfenster der
Philosophen sind zugestopft, damit die Sonne der Revolution vorüber und
ohne die Herzen der Menschen erquickt und ihren Sinn befreit zu haben,
wieder untergehn könne. Wohlan, heben wir das Dach von dem finstern
Gebäude und lassen wir das Sonnenlicht in alle Winkel scheinen. Dies beabsichtigen wir durch unsere Kritik und dies, meine Herrn, ist eine neue Epoche.
Es geht hiemit nicht eine persönliche Vermittlung durch vereinzelte
Indivuen mit der neuen Welt der Revolution vor sich, nein, es ist jetzt
ein Princip aus Deutschland nach Frankreich und aus Frankreich nach
Deutschland gekommen; die Fraternisirung der Principien aber ist die
Einkehr einer ganzen Nation bei der andern. Die Individuen sind nur
berufen, den allgemeinen Willen zu vollziehn. Je mehr die deutsche
Philosophie politisch geworden ist, um so stärker zeigten sich die
Sympathieen des Volks. Diese, die sie zu Hause zurücklässt, wird sie bei
ihrer Rückkehr doppelt wiederfinden. Das Interesse des deutschen und
französischen Geistes aneinander ist in einer augenscheinlichen
Spannung, diese Spannung aber eine entschieden freundliche.
Ausser der direkten Kritik, die wir bisher beschrieben, kündigten wir
oben noch ferner eine fortlaufende Aufsicht über die deutschen
Zeitungen, so eine Art umgekehrter Censur an. Sie ist im Grunde ganz
dieselbe Sache, wie jene unmittelbare Beleuchtung der alten Politik, nur
unverfänglicher, man schlägt die Säcke und – trifft den Geist der sie
trägt. Zugleich stellen wir so das Gewissen, welches ihnen abhanden
gekommen ist, dar. Während aber die alten Erinnyen als hypostasirtes
Gewissen tragisch einherschreiten, denken wir, die modernen, wenigstens
gegen die deutschen Zeitungen, meist komisch wirken zu können.
Die Buchkritiken endlich hoffen wir, wie die Bücher der Sibylle, um
so höher im Werth zu halten, je weniger ihrer werden (im umgekehrten
Verhältniss von Gersdorfs Repertorium und den schwäbischen Jahrbüchern)
unter der Bedingung, dass es uns gelingt, auch hier den Punkt zu
treffen, von dem aus man die alte Welt aus ihren Angeln hebt.
(Aus dem 1843/44 erschienenen ersten Band der Jahrbücher)
ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1802-1880)
Mittwoch, 31. Dezember 2014
Dienstag, 30. Dezember 2014
Jakob Fugger zu seinen Neffen
Wenn ich des Nachts schlafen gehe, habe ich keine Hinderung des Schlafes, sondern tue mit dem Hemd alle Sorgen und Anfechtungen des Handels von mir.
(Zitiert von Günter Ogger in 'Kauf dir einen Kaiser', Droemer/Knaur 1978)
ZUM TODESTAG DES KAUFMANNS
Über den Autor (1459-1525)
(Zitiert von Günter Ogger in 'Kauf dir einen Kaiser', Droemer/Knaur 1978)
ZUM TODESTAG DES KAUFMANNS
Über den Autor (1459-1525)
Montag, 29. Dezember 2014
Carl Spitteler: Conrad der Leutnant
Unter ›Darstellung‹ verstehe ich
eine besondere Kunstform der Prosa-Erzählung mit eigentümlichem Ziel und
mit besondern Stilgesetzen, welche diesem Ziel als Mittel dienen. Das
Ziel heißt: denkbar innigstes Miterleben der Handlung. Die Mittel dazu
lauten: Einheit der Person, Einheit der Perspektive, Stetigkeit des
zeitlichen Fortschrittes. Also diejenigen Gesetze, unter welchen wir in
der Wirklichkeit leben.
Selbstverständlich eignet sich nicht jeder Stoff
zur ›Darstellung‹, im Gegenteil, von Fragmenten abgesehen und Irrtum
vorbehalten, bloß eine einzige Gattung von Stoffen, nämlich die
gedrängten und geschlossenen (›dramatischen‹). Ja sogar unter ihnen nur
solche, die es erlauben, auf ungezwungene Weise sämtliche wichtigen
Motive unmittelbar vor der Entscheidung vorzuführen. Der Faden wird dann
kurz vor der Entscheidung angefaßt und nach dem Willen der Wahrheit
gesponnen. Erweist sich bei dunklen (›tragischen‹) Stoffen mit großer
Personenzahl nach dem Tode der Hauptperson noch ein abschließender
Anhang als notwendig, um die Handlung von allen Seiten ausklingen zu
lassen, so wird der abschließende Anhang aus der Perspektive einer
überlebenden zweiten Hauptperson nach den nämlichen Gesetzen gearbeitet.
(Vorbemerkung zu dem 1898 erschienenen Kurzroman)
ZUM TODESTAG DES DICHTERS
Über den Autor (1845-1924)
Mit erläuternden Worten: Die Hauptperson wird
gleich mit dem ersten Satz eingeführt und hinfort nie mehr verlassen. Es
wird ferner nur mitgeteilt, was jene wahrnimmt, und das so mitgeteilt,
wie es sich in ihrer Wahrnehmung spiegelt. Endlich wird die Handlung
lebensgetreu Stunde für Stunde begleitet, so daß der Erzähler sich nicht
gestattet, irgendeinen Zeitabschnitt als angeblich unwichtig zu
überspringen. Aus dem letzten Gesetz ergibt sich wiederum die
Notwendigkeit, die Handlung binnen wenigen Stunden verlaufen zu lassen.
(Vorbemerkung zu dem 1898 erschienenen Kurzroman)
ZUM TODESTAG DES DICHTERS
Über den Autor (1845-1924)
Sonntag, 28. Dezember 2014
Carl Remigius Fresenius: Neues Verfahren zur Unterscheidung und Trennung des Arsens vom Antimon
Vor nicht langer Zeit hat Pettenkofer eine Methode bekannt gemacht, mit dem Marsh'schen
Apparat erhaltene Metallspiegel weiter zu prüfen, insbesondere
Arsenspiegel von Antimonspiegeln zu unterscheiden, oder beide
nebeneinander zu erkennen. Das sinnreiche Verfahren besteht ganz einfach
darin, daß man durch die Glasröhre, in welcher sich der fragliche
Metallspiegel befindet, einen Strom Schwefelwasserstoffgas leitet und
gleichzeitig den Anflug erhizt. Beide Metalle verbinden sich bei dieser
Operation mit Schwefel; das Antimon geht in schwarzes oder mehr oder
weniger orangerothes Schwefelantimon, das Arsen in gelbes Schwefelarsen
über. Die verschiedene Flüchtigkeit der beiden Schwefelmetalle in
Verbindung mit dem Unterschiede ihrer Farbe gibt alsdann das Mittel an,
die Natur des Metallspiegels zu erkennen, indem sich bei gleichzeitiger
Anwesenheit von Arsen und Antimon das flüchtigere Schwefelarsen stets
vor dem minder flüchtigen Schwefelantimon ablagert.
Die Versuche Pettenkofer's wurden dahier im Liebig'schen Laboratorium von Andern wiederholt, ich habe dieselben oft und viel selbst vorgenommen. Die Ueberzeugung, zu welcher ich dadurch gekommen bin, ist die, daß die genannte Methode, wenn sie auch hinreicht, Arsen von Antimon zu unterscheiden, falls man nur mit einem der Körper zu thun hat, doch nie genügt, die Anwesenheit des Arsens mit Sicherheit kund zu geben, im Falle gleichzeitig Antimon zugegen ist.
Die Resultate sind im lezteren Falle bei guter Ausführung zwar meistens der Art, daß man mit Wahrscheinlichkeit auf die Abwesenheit oder Gegenwart des Arsens schließen kann, sie tragen aber nie den Stempel positiver Gewißheit, zweifelloser Sicherheit, welcher bei einem so wichtigen Gegenstande (Pettenkofer hält seine Methode für besonders anwendbar bei medico-legalen Fällen) als einziger Maßstab der Brauchbarkeit angesehen werden muß; denn zwischen mehr und minder flüchtig ist keine scharfe Gränze und gelb und orange sind nicht wie weiß und schwarz.
Wenn man zwei Körper gemengt oder verbunden hat und man will die Gegenwart jedes oder auch nur eines derselben nachweisen, so können zu diesem Ziele zwei Wege führen, entweder nämlich trennt man die Körper auf irgend eine Art völlig von einander, oder man bringt, ohne sie zu trennen, einen derselben oder beide in Formen oder Zustände, in welchen sie so ausgezeichnete chemische oder physikalische Eigenschaften zeigen, daß sie an diesen erkannt werden können.
Der erstere dieser beiden Wege ist in der Regel der sicherste. – Von den vielen Methoden, welche zur näheren Prüfung eines mit dem Marsh'schen Apparat erhaltenen Metallspiegels, insbesondere zur Unterscheidung des Arsens vom Antimon, angegeben worden sind, beruhen jedoch die meisten nicht auf einer völligen Trennung beider Metalle, und denen, welche sich darauf gründen, wird mit Recht der Vorwurf gemacht, daß ihre Resultate nicht empfindlich genug seyen, um bei kleinen Mengen genügende Sicherheit zu gewähren.
Die Methode, welche ich im Folgenden beschreiben werde und die ebenfalls in einer absoluten Scheidung des Arsens vom Antimon beruht, wird von diesem Vorwurfe nicht getroffen. – Sie stüzt sich auf die Versuche von Pettenkofer und die Wiederholung derselben gab zur Auffindung und Begründung des neuen Verfahrens die Veranlassung.
Da ich in Bezug auf die Ausführung auf Mehreres aufmerksam zu machen habe, so beginne ich ganz am Anfange. – Man verschafft sich auf die bekannte Art durch Erhizen der Glasröhre, aus welcher das arsen- oder antimonhaltige Wasserstoffgas ausströmt, einen möglichst starken Metallspiegel, vertauscht alsdann die erste Röhre mit einer zweiten, dritten u.s.w., so lange man noch deutliche Anflüge bekommt. Man leitet jezt durch die Glasröhren einen so langsamen Strom trokenes Schwefelwasserstoffgas, daß dasselbe, wenn es an der fein ausgezogenen und abgekneipten Spize der Röhre entzündet wird, eben noch fortbrennt und erhizt alsdann den Metallspiegel mit einer einfachen Weingeistlampe von Außen nach Innen zu, also gegen die Richtung des Gasstroms. – Wenn man einmal die Stärke kennt, welche der leztere haben muß, wenn man keine zu kurzen Glasröhren anwendet und sich in der genannten Operation überhaupt einige Uebung erworben hat, so gelingt es jedesmal, die regulinischen Metalle ohne den geringsten Verlust in Schwefelmetalle zu verwandeln.
Man führt jezt durch dieselben Glasröhren einen mäßig starken Strom trokenes salzsaures Gas, welches man geradezu erhält, wenn man in viel concentrirte Schwefelsäure etwas Kochsalz bringt und ganz gelinde erwärmt. Zwischen dem Gefäß, aus welchem sich das Gas entwikelt und der Glasröhre mit dem Schwefelmetall, bringt man eine kurze, weitere, mit Baumwolle loker angefüllte Röhre an. – Bestand der Metallspiegel nur aus Antimon, so verschwindet das Schwefelantimon, welches man alsdann allein in der Röhre hat, im Falle es in dünnen Schichten war, augenbliklich, wenn der Anflug diker war, in wenigen Secunden. Das Schwefelantimon sezt sich nämlich mit dem Chlorwasserstoff um und das entstehende Chlorantimon ist in dem Strom des salzsauren Gases außerordentlich flüchtig. Leitet man denselben in etwas Wasser, so läßt sich in diesem die Gegenwart des Antimons durch Schwefelwasserstoff und andere Reagentien nachweisen. – Bestand der Metallspiegel nur aus Arsen, hat man in der Röhre also nur gelbes Schwefelarsen, so bleibt Alles unverändert, das salzsaure Gas übt auch bei längerem Darüberströmen auf das Schwefelarsen keinen Einfluß aus. – Ist endlich Arsen und Antimon gleichzeitig zugegen, so verschwindet, wie natürlich, das Schwefelantimon alsobald aus der Röhre, während das Schwefelarsen unverändert zurükbleibt. Nimmt man jezt die Glasröhre weg, bläst die ausgezogene Spize zu und gießt etwas Ammoniakflüssigkeit hinein, so verschwindet der gebliebene gelbe Anflug auf der Stelle, und man erhält auf diese Weise noch einmal Gewißheit, daß derselbe wirklich Schwefelarsen war. Verdampft man die ammoniakalische Flüssigkeit auf einem Uhrglase, so erhält man die ganze Menge des Arsens, welche in dem Metallspiegel zugegen war, als Schwefelarsen wieder und kann nach Belieben dasselbe einer nochmaligen Prüfung unterwerfen.
Der Umstand, daß bei dem angegebenen Verfahren das Arsen völlig isolirt wird, so wie der, daß es erkannt wird, ohne verloren zu gehen, verleihen der beschriebenen Methode einen ganz besonderen Werth; von allen Verfahrungsarten, welche bis jezt zu gleichem Zwek bekannt gemacht worden sind, dürfte keine diese Vorzüge mit ihr in gleichem Maaße theilen.
(Beitrag vom September 1842 zu den 'Annalen der Chemie und Pharmacie')
ZUM GEBURTSTAG DES CHEMIKERS
Über den Autor (1818-1897)
Die Versuche Pettenkofer's wurden dahier im Liebig'schen Laboratorium von Andern wiederholt, ich habe dieselben oft und viel selbst vorgenommen. Die Ueberzeugung, zu welcher ich dadurch gekommen bin, ist die, daß die genannte Methode, wenn sie auch hinreicht, Arsen von Antimon zu unterscheiden, falls man nur mit einem der Körper zu thun hat, doch nie genügt, die Anwesenheit des Arsens mit Sicherheit kund zu geben, im Falle gleichzeitig Antimon zugegen ist.
Die Resultate sind im lezteren Falle bei guter Ausführung zwar meistens der Art, daß man mit Wahrscheinlichkeit auf die Abwesenheit oder Gegenwart des Arsens schließen kann, sie tragen aber nie den Stempel positiver Gewißheit, zweifelloser Sicherheit, welcher bei einem so wichtigen Gegenstande (Pettenkofer hält seine Methode für besonders anwendbar bei medico-legalen Fällen) als einziger Maßstab der Brauchbarkeit angesehen werden muß; denn zwischen mehr und minder flüchtig ist keine scharfe Gränze und gelb und orange sind nicht wie weiß und schwarz.
Wenn man zwei Körper gemengt oder verbunden hat und man will die Gegenwart jedes oder auch nur eines derselben nachweisen, so können zu diesem Ziele zwei Wege führen, entweder nämlich trennt man die Körper auf irgend eine Art völlig von einander, oder man bringt, ohne sie zu trennen, einen derselben oder beide in Formen oder Zustände, in welchen sie so ausgezeichnete chemische oder physikalische Eigenschaften zeigen, daß sie an diesen erkannt werden können.
Der erstere dieser beiden Wege ist in der Regel der sicherste. – Von den vielen Methoden, welche zur näheren Prüfung eines mit dem Marsh'schen Apparat erhaltenen Metallspiegels, insbesondere zur Unterscheidung des Arsens vom Antimon, angegeben worden sind, beruhen jedoch die meisten nicht auf einer völligen Trennung beider Metalle, und denen, welche sich darauf gründen, wird mit Recht der Vorwurf gemacht, daß ihre Resultate nicht empfindlich genug seyen, um bei kleinen Mengen genügende Sicherheit zu gewähren.
Die Methode, welche ich im Folgenden beschreiben werde und die ebenfalls in einer absoluten Scheidung des Arsens vom Antimon beruht, wird von diesem Vorwurfe nicht getroffen. – Sie stüzt sich auf die Versuche von Pettenkofer und die Wiederholung derselben gab zur Auffindung und Begründung des neuen Verfahrens die Veranlassung.
Da ich in Bezug auf die Ausführung auf Mehreres aufmerksam zu machen habe, so beginne ich ganz am Anfange. – Man verschafft sich auf die bekannte Art durch Erhizen der Glasröhre, aus welcher das arsen- oder antimonhaltige Wasserstoffgas ausströmt, einen möglichst starken Metallspiegel, vertauscht alsdann die erste Röhre mit einer zweiten, dritten u.s.w., so lange man noch deutliche Anflüge bekommt. Man leitet jezt durch die Glasröhren einen so langsamen Strom trokenes Schwefelwasserstoffgas, daß dasselbe, wenn es an der fein ausgezogenen und abgekneipten Spize der Röhre entzündet wird, eben noch fortbrennt und erhizt alsdann den Metallspiegel mit einer einfachen Weingeistlampe von Außen nach Innen zu, also gegen die Richtung des Gasstroms. – Wenn man einmal die Stärke kennt, welche der leztere haben muß, wenn man keine zu kurzen Glasröhren anwendet und sich in der genannten Operation überhaupt einige Uebung erworben hat, so gelingt es jedesmal, die regulinischen Metalle ohne den geringsten Verlust in Schwefelmetalle zu verwandeln.
Man führt jezt durch dieselben Glasröhren einen mäßig starken Strom trokenes salzsaures Gas, welches man geradezu erhält, wenn man in viel concentrirte Schwefelsäure etwas Kochsalz bringt und ganz gelinde erwärmt. Zwischen dem Gefäß, aus welchem sich das Gas entwikelt und der Glasröhre mit dem Schwefelmetall, bringt man eine kurze, weitere, mit Baumwolle loker angefüllte Röhre an. – Bestand der Metallspiegel nur aus Antimon, so verschwindet das Schwefelantimon, welches man alsdann allein in der Röhre hat, im Falle es in dünnen Schichten war, augenbliklich, wenn der Anflug diker war, in wenigen Secunden. Das Schwefelantimon sezt sich nämlich mit dem Chlorwasserstoff um und das entstehende Chlorantimon ist in dem Strom des salzsauren Gases außerordentlich flüchtig. Leitet man denselben in etwas Wasser, so läßt sich in diesem die Gegenwart des Antimons durch Schwefelwasserstoff und andere Reagentien nachweisen. – Bestand der Metallspiegel nur aus Arsen, hat man in der Röhre also nur gelbes Schwefelarsen, so bleibt Alles unverändert, das salzsaure Gas übt auch bei längerem Darüberströmen auf das Schwefelarsen keinen Einfluß aus. – Ist endlich Arsen und Antimon gleichzeitig zugegen, so verschwindet, wie natürlich, das Schwefelantimon alsobald aus der Röhre, während das Schwefelarsen unverändert zurükbleibt. Nimmt man jezt die Glasröhre weg, bläst die ausgezogene Spize zu und gießt etwas Ammoniakflüssigkeit hinein, so verschwindet der gebliebene gelbe Anflug auf der Stelle, und man erhält auf diese Weise noch einmal Gewißheit, daß derselbe wirklich Schwefelarsen war. Verdampft man die ammoniakalische Flüssigkeit auf einem Uhrglase, so erhält man die ganze Menge des Arsens, welche in dem Metallspiegel zugegen war, als Schwefelarsen wieder und kann nach Belieben dasselbe einer nochmaligen Prüfung unterwerfen.
Der Umstand, daß bei dem angegebenen Verfahren das Arsen völlig isolirt wird, so wie der, daß es erkannt wird, ohne verloren zu gehen, verleihen der beschriebenen Methode einen ganz besonderen Werth; von allen Verfahrungsarten, welche bis jezt zu gleichem Zwek bekannt gemacht worden sind, dürfte keine diese Vorzüge mit ihr in gleichem Maaße theilen.
(Beitrag vom September 1842 zu den 'Annalen der Chemie und Pharmacie')
ZUM GEBURTSTAG DES CHEMIKERS
Über den Autor (1818-1897)
Samstag, 27. Dezember 2014
Johann Dietrich Winckler: Von der Unsterblichkeit der Seelen
Wer die Welt sammt allen denen herrlichen Geschöpffen, so in derselben anzutreffen, nicht obenhin nur und nachläßig ansiehet, sondern mit einer gebührenden Achtsamkeit beschauet, der wird sobald daher eine nachdrückliche Ueberzeugung bey sich empfinden, daß ein Schöpffer nothwendig seyn müsse, der das alles, was sich den Augen seines Leibes so wol, als des Gemüthes in der grössesten Herrlichkeit darstellet, mit so ausnehmender Weißheit geordnet, mit so unendlicher Krafft erschaffen, und zu der bewundernswürdigsten Vollkommenheit gebracht, niemand anders aber denn GOtt selbst, dasselbe zugeschrieben werden könne. Ueberführte davon nicht die eigene Erfahrung einen jeden, so würde vielleicht mancher, der nach der heutigen Art vieler rohen Seelen sich es für eine Ehre hält, an den offenbahrsten Grund-Wahrheiten zu zweiffeln, auch in der Verneinung dieser unumstößlichen Wahrheit gleichfals einigen scheinbahren Ruhm zu finden vermeinen. Allein so ist hiervon das Zeugniß aller Zeiten dergestalt deutlich und offenbahr, daß ein heiliger Zeuge JEsu unter den Heiden, ich meine, der Apostel Paulus dasselbe von den Heiden insgemein bestätiget, und deshalben die Römer in der an sie geschriebenen Epistel Cap. I, 19. 20 darauf führet, wenn er allda schreibet: Daß man weiß, daß ein GOtt sey, ist ihnen offenbahr, denn GOtt hat es ihnen offenbahret, damit, daß GOttes unsichtbahres Wesen, das ist, seine ewige Krafft und Gottheit, wird ersehen, so man das wahrnimmt an den Wercken, nehmlich an der Schöpffung der Welt.
(Paragraph I der 1742 erschienenen Schrift)
ZUM GEBURTSTAG DES THEOLOGEN
Über den Autor (1711-1784)
(Paragraph I der 1742 erschienenen Schrift)
ZUM GEBURTSTAG DES THEOLOGEN
Über den Autor (1711-1784)
Freitag, 26. Dezember 2014
Ernst Moritz Arndt: Das brennende Geld
Drei Bauern kamen eine Herbstnacht oder vielmehr früh, als es mehr
gegen den Morgen ging, von einer Hochzeit aus dem Kirchdorf Lancken
geritten. Sie waren Nachbarn, die in einem Dorfe wohnten, und ritten des
Weges miteinander nach Hause. Als sie nun aus einem Walde kamen, sahen
sie an einem kleinen Busche auf dem Felde ein großes Feuer, das bald wie
ein glühender Herd voll Kohlen glimmte, bald wieder in hellen Flammen
aufloderte. Sie hielten still und verwunderten sich, was das sein möge,
und meinten endlich, es seien wohl Hirten und Schäfer, die es gegen die
Nachtkälte angezündet hätten. Da fiel ihnen aber wieder ein, daß es am
Schlusse Novembers war, und daß in dieser Jahreszeit keine Hirten und
Schäfer im Felde zu sein pflegen. Da sprach der jüngste von den dreien,
ein frecher Gesell: »Nachbarn, hört! Da brennt unser Glück! Und seid
still und lasset uns hinreiten und jeden seine Taschen mit Kohlen
füllen; dann haben wir für all unser Leben genug und können den Grafen
fragen, was er für sein Schloß haben will.« Der älteste aber sprach:
»Behüte Gott, daß ich in dieser späten Zeit aus dem Wege reiten sollte!
Ich kenne den Reiter zu gut, der da ruft: Hoho! Hallo! Halt den
Mittelweg!« Der zweite hatte auch keine Lust. Der jüngste aber ritt hin,
und was sein Pferd auch schnob und sich wehrte und bäumte, er brachte
es an das Feuer, sprang ab und füllte sich die Taschen mit Kohlen. Die
andern beiden hatte die Angst ergriffen, und sie waren im sausenden
Galopp davongejagt, und er ließ sie auch ausreißen und holte sie dicht
vor Vilmnitz wieder ein. Sie ritten nun noch ein Stündchen miteinander
und kamen schweigend in ihrem Dorfe an, und keiner konnte ein Wort
sprechen. Die Pferde waren aber schneeweiß von Schaum, so hatten sie
sich abgelaufen und abgeängstigt. Dem Bauer war auch ungefähr so zumute
gewesen, als habe der Feind ihn schon beim Schopf erfaßt gehabt. Es
brach der helle, lichte Morgen an, als sie zu Hause kamen. Sie wollten
nun sehen, was jener gefangen habe, denn seine Taschen hingen ihm schwer
genug hinab, so schwer, als seien sie voll der gewichtigsten Dukaten.
Er langte hinein, aber au weh! er brachte nichts als tote Mäuse an den
Tag. Die andern beiden Bauern lachten und sprachen: »Da hast du deine
ganze Teufelsbescherung! Die war der Angst wahrhaftig nicht wert!« Vor
den Mäusen aber schauderten sie zusammen, versprachen ihrem Gesellen
jedoch, keinem Menschen ein Sterbenswort von dem Abenteuer zu sagen.
Man hätte denken sollen, dieser Bauer mit den toten Mäusen habe nun für immer genug gehabt; aber er hat noch weiter gegrübelt über den Haufen brennender Kohlen und bei sich gesprochen: »Hättest du nur ein paar Körnlein Salz in der Tasche gehabt und geschwind auf die Kohlen streuen können, so hätte der Schatz wohl oben bleiben müssen und nicht weggleiten können.« Und er hat die nächste Nacht wieder ausreiten müssen mit großem Schauder und Grauen, aber er hat es doch nicht lassen können; denn die Begier nach Geld war mächtiger als die Furcht. Und er hat es wieder brennen sehen genau an der gestrigen Stelle; bei Tage aber war da nichts zu sehen, sondern sie war grasgrün. Und er ist hingeritten und hat das Salz hineingestreuet und seine Taschen voll Kohlen gerafft, und so ist er im sausenden Galopp nach Hause gejagt und hat sich gehütet, daß er einen Laut von sich gegeben noch jemand begegnet ist; denn dann ist es nicht richtig. Aber er hat doch nichts als Kohlen in der Tasche gehabt und ein paar Schillinge, die von den Kohlen geschwärzt waren. Da hat er sich königlich gefreut, als sei dies der Anfang des Glückes und das Handgeld, das die Geister ihm gegeben haben. Er mochte aber die paar losen Schillinge von ungefähr in der Tasche gehabt haben, als er ausritt. Und die Schillinge haben dem armen Mann, der sonst ein fleißiger, ordentlicher Bauer war, keine Rast noch Ruhe mehr gelassen; jede Nacht, die Gott werden ließ, hat er ausreiten müssen und seine besten Pferde dabei tot geritten. Man hat es aber nicht gemerkt, daß er Schätze gefunden hat, sondern seine Wirtschaft hat von Jahr zu Jahr abgenommen, und endlich ist er auf einer Nachtfahrt gar einmal verschwunden. Und man hat von ihm und von seinem Pferde nie etwas wieder gesehen; seinen Hut aber haben die Leute in dem Schmachter See gefunden. Da muß der böse Feind ihn als Irrlicht hineingelockt haben; denn er braucht solche Künste gegen die, welche sich mit ihm einlassen und ihn suchen.
(Eine vorpommersche Sage)
ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1769-1860)
Man hätte denken sollen, dieser Bauer mit den toten Mäusen habe nun für immer genug gehabt; aber er hat noch weiter gegrübelt über den Haufen brennender Kohlen und bei sich gesprochen: »Hättest du nur ein paar Körnlein Salz in der Tasche gehabt und geschwind auf die Kohlen streuen können, so hätte der Schatz wohl oben bleiben müssen und nicht weggleiten können.« Und er hat die nächste Nacht wieder ausreiten müssen mit großem Schauder und Grauen, aber er hat es doch nicht lassen können; denn die Begier nach Geld war mächtiger als die Furcht. Und er hat es wieder brennen sehen genau an der gestrigen Stelle; bei Tage aber war da nichts zu sehen, sondern sie war grasgrün. Und er ist hingeritten und hat das Salz hineingestreuet und seine Taschen voll Kohlen gerafft, und so ist er im sausenden Galopp nach Hause gejagt und hat sich gehütet, daß er einen Laut von sich gegeben noch jemand begegnet ist; denn dann ist es nicht richtig. Aber er hat doch nichts als Kohlen in der Tasche gehabt und ein paar Schillinge, die von den Kohlen geschwärzt waren. Da hat er sich königlich gefreut, als sei dies der Anfang des Glückes und das Handgeld, das die Geister ihm gegeben haben. Er mochte aber die paar losen Schillinge von ungefähr in der Tasche gehabt haben, als er ausritt. Und die Schillinge haben dem armen Mann, der sonst ein fleißiger, ordentlicher Bauer war, keine Rast noch Ruhe mehr gelassen; jede Nacht, die Gott werden ließ, hat er ausreiten müssen und seine besten Pferde dabei tot geritten. Man hat es aber nicht gemerkt, daß er Schätze gefunden hat, sondern seine Wirtschaft hat von Jahr zu Jahr abgenommen, und endlich ist er auf einer Nachtfahrt gar einmal verschwunden. Und man hat von ihm und von seinem Pferde nie etwas wieder gesehen; seinen Hut aber haben die Leute in dem Schmachter See gefunden. Da muß der böse Feind ihn als Irrlicht hineingelockt haben; denn er braucht solche Künste gegen die, welche sich mit ihm einlassen und ihn suchen.
(Eine vorpommersche Sage)
ZUM GEBURTSTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1769-1860)
Donnerstag, 25. Dezember 2014
Franz Rosenzweig: Stern der Erlösung
VOM TODE, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an.
Die Angst des Irdischen abzuwerfen, dem Tod seinen Giftstachel, dem
Hades seinen Pesthauch zu nehmen, des vermißt sich die Philosophie.
Alles Sterbliche lebt in dieser Angst des Todes, jede neue Geburt mehrt
die Angst um einen neuen Grund, denn sie mehrt das Sterbliche. Ohne
Aufhören gebiert Neues der Schoß der unermüdlichen Erde, und ein jedes
ist dem Tode verfallen, jedes wartet mit Furcht und Zittern auf den Tag
seiner Fahrt ins Dunkel. Aber die Philosophie leugnet diese Ängste der
Erde. Sie reißt über das Grab, das sich dem Fuß vor jedem Schritt
auftut. Sie läßt den Leib dem Abgrund verfallen sein, aber die freie
Seele flattert darüber hinweg. Daß die Angst des Todes von solcher
Scheidung in Leib und Seele nichts weiß, daß sie Ich Ich Ich brüllt und
von Ableitung der Angst auf einen bloßen „Leib“ nichts hören will – was
schert das die Philosophie. Mag der Mensch sich wie ein Wurm in die
Falten der nackten Erde verkriechen vor den herzischenden Geschossen des
blindunerbittlichen Tods, mag er es da gewaltsam unausweichlich
verspüren, was er sonst nie verspürt: daß sein Ich nur ein Es wäre, wenn
es stürbe, und mag er deshalb mit jedem Schrei, der noch in seiner
Kehle ist, sein Ich ausschreien gegen den Unerbittlichen, von dem ihm
solch unausdenkbare Vernichtung droht – die Philosophie lächelt zu all
dieser Not ihr leeres Lächeln und weist mit ausgestrecktem Zeigefinger
das Geschöpf, dem die Glieder in Angst um sein Diesseits schlottern, auf
ein Jenseits hin, von dem es gar nichts wissen will. Wenn der Mensch
will ja gar nicht irgend welchen Fesseln entfliehen; er will bleiben, er
will – leben. Die Philosophie, die ihm den Tod als ihren besonderen
Schützling und als die großartige Gelegenheit anpreist, der Enge des
Lebens zu entrinnen, scheint ihm nur zu höhnen. Der Mensch fühlt eben
gar zu gut, daß er zwar zum Tode, aber nicht zum Selbstmord verurteilt
ist. Und nur den Selbstmord vermöchte jene philosophische Empfehlung
wahrhaft zu empfehlen, nicht den verhängten Tod Aller. Der Selbstmord
ist nicht der natürliche Tod, sondern der widernatürliche schlechtweg.
Die grauenhafte Fähigkeit zum Selbstmord unterscheidet den Menschen von
allen Wesen, die wir kennen und die wir nicht kennen. Sie bezeichnet
geradezu diesen Heraustritt aus allem Natürlichen. Es ist wohl nötig,
daß der Mensch einmal in seinem Leben heraustrete; er muß einmal die
kostbare Phiole voll Andacht herunterholen; er muß sich einmal in seiner
furchtbaren Armut, Einsamkeit und Losgerissenheit von aller Welt
gefühlt haben und eine Nacht lang Aug in Auge mit dem Nichts gestanden
sein. Aber die Erde verlangt ihn wieder. Er darf den braunen Saft in
jener Nacht nicht austrinken. Ihm ist ein anderer Ausweg aus dem Engpaß
des Nichts bestimmt, als dieser Sturz in das Gähnen des Abgrunds. Der
Mensch soll die Angst des Irdischen nicht von sich werfen; er soll in
der Furcht des Todes – bleiben. / Er soll bleiben. Er soll also nichts
andres, als was er schon will: bleiben. Die Angst des Irdischen soll von
ihm genommen werden nur mit dem Irdischen selbst. Aber solang er auf
der Erde lebt, soll er auch in der Angst des Irdischen bleiben. Und die
Philosophie betrügt ihn um dieses Soll, indem sie den blauen Dunst ihres
Allgedankens um das Irdische webt. Denn freilich: ein All würde nicht
sterben und im All stürbe nichts. Sterben kann nur das Einzelne, und
alles Sterbliche ist einsam. Dies, daß die Philosophie das Einzelne aus
der Welt schaffen muß, diese Ab-schaffung des Etwas ist auch der Grund,
weshalb sie idealistisch sein muß. Denn der „Idealismus“ mit seiner
Verleugnung alles dessen, was das Einzelne vom All scheidet, ist das
Handwerkszeug, mit dem sich die Philosophie den widerspenstigen Stoff so
lange bearbeitet, bis er der Umnebelung mit dem Ein- und Allbegriff
keinen Widerstand mehr entgegensetzt. Einmal in diesen Nebel alles
eingesponnen, wäre freilich der Tod verschlungen, wenn auch nicht in den
ewigen Sieg, so doch in die eine und allgemeine Nacht des Nichts. Und
es ist der letzte Schluß dieser Weisheit: der Tod sei – Nichts. Aber in
Wahrheit ist das kein letzter Schluß, sondern ein erster Anfang, und der
Tod ist wahrhaftig nicht, was er scheint, nicht Nichts, sondern ein
unerbittliches, nicht wegzuschaffendes Etwas. Auch aus dem Nebel, mit
dem ihn die Philosophie umhüllt, tönt ungebrochen sein harter Ruf; in
die Nacht des Nichts mochte sie ihn wohl verschlingen, aber seinen
Giftstachel konnte sie ihm nicht ausbrechen, und die Angst des vor dem
Stich dieses Stachels zitternden Menschen straft allezeit die mitleidige
Lüge der Philosophie grausam Lügen.
Indem aber die Philosophie die dunkle Voraussetzung alles Lebens leugnet, indem sie nämlich den Tod nicht für Etwas gelten läßt, sondern ihn zum Nichts macht, erregt sie für sich selbst den Schein der Voraussetzungslosigkeit. Denn nun hat alles Erkennen des All zu seiner Voraussetzung – nichts. Vor dem einen und allgemeinen Erkennen des All gilt nur noch das eine und allgemeine Nichts. Wollte die Philosophie sich nicht vor dem Schrei der geängsteten Menschheit die Ohren verstopfen, so müßte sie davon ausgehen – und mit Bewußtsein ausgehen -: daß das Nichts des Todes ein Etwas, jedes neue Todesnichts ein neues, immer neu furchtbares, nicht wegzuredendes, nicht wegzuschweigendes Etwas ist. Und an Stelle des einen und allgemeinen, vor dem Schrei der Todesangst den Kopf in den Sand steckenden Nichts, das sie dem einen und allgemeinen Erkennen einzig vorangehen lassen will, müßte sie den Mut haben, jenem Schrei zu horchen und ihre Augen vor der grauenhaften Wirklichkeit nicht zu verschließen. Das Nichts ist nicht Nichts, es ist Etwas. Im dunkeln Hintergrund der Welt stehen als ihre unerschöpfliche Voraussetzung tausend Tode, statt des einen Nichts, das wirklich Nichts wäre, tausend Nichtse, die, eben weil viele, Etwas sind. Die Vielheit des Nichts, das von der Philosophie vorausgesetzt wird, die nicht aus der Welt zu bannende Wirklichkeit des Todes, die sich in dem nicht zu schweigenden Schrei seiner Opfer verkündet, sie macht den Grundgedanken der Philosophie, den Gedanken des einen und allgemeinen Erkennens des All zur Lüge, noch ehe er gedacht ist. Das dritthalbtausendjährige Geheimnis der Philosophie, das Schopenhauer an ihrem Sarg ausgeplaudert hat, daß der Tod ihr Musaget gewesen sei, verliert über uns seine Macht. Wir wollen keine Philosophie, die sich in die Gefolgschaft des Todes begibt und über seine währende Herrschaft uns durch den Allund Einklang ihres Tanzes hinwegtäuscht. Wir wollen überhaupt keine Täuschung. Wenn der Tod Etwas ist, so soll uns fortan keine Philosophie mit ihrer Behauptung, sie setze Nichts voraus, den Blick davon abwenden. Schauen wir doch jener Behauptung näher ins Auge. / War die Philosophie denn nicht schon durch jene ihre „einzige“ Voraussetzung, sie setze nichts voraus, selbst ganz voller Voraussetzung, ja selber ganz Voraussetzung? Immer wieder lief doch das Denken den Abhang der gleichen Frage, was die Welt sei, hinan; immer wieder ward an diese Frage alles andere etwa noch Fragwürdige angeschlossen; immer wieder endlich wurde die Antwort auf die Frage im Denken gesucht. Es ist, als ob diese an sich großartige Voraussetzung des denkbaren All den ganzen Kreis sonstiger Fragmöglichkeiten verschattete. Materialismus und Idealismus, beide – nicht bloß jener – „so alt wie die Philosophie“, haben gleichen Teil an ihr. Was ihr gegenüber Selbständigkeit beanspruchte, wurde entweder zum Schweigen gebracht oder überhört. Zum Schweigen gebracht wurde die Stimme, welche in einer Offenbarung die jenseits des Denkens entspringende Quelle göttlichen Wissens zu besitzen behauptete. Die philosophische Arbeit von Jahrhunderten ist dieser Auseinandersetzung des Wissens mit dem Glauben gewidmet; sie kommt zum Ziel in dem gleichen Augenblick, wo das Wissen vom All in sich selber zum Abschluß kommt. Denn als einen Abschluß muß man es wohl bezeichnen, wenn dies Wissen nicht mehr bloß seinen Gegenstand, das All, sondern auch sich selber restlos, wenigstens nach seinen eigenen Ansprüchen und in seiner selbsteigenen Weise restlos, umgreift. Das ist geschehen in Hegels Einziehung der Philosophiegeschichte ins System. Weiter scheint das Denken nicht mehr gehen zu können, als daß es sich selber als die innerste Tatsache, die ihm bekannt ist, nun als einen Teil des Systembaus, und natürlich als den abschließenden Teil, sichtbar hinstellt. Und eben in diesem Augenblick, wo die Philosophie ihre äußersten formellen Möglichkeiten erschöpft und die durch ihre eigene Natur gesetzte Grenze erreicht, scheint nun, wie schon bemerkt, auch die große vom Gang der Weltgeschichte ihr aufgenötigte Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Glauben gelöst zu werden.
(Beginn des 1921 erschienenen Werks)
ZUM GEBURTSTAG DES PHILOSOPHEN
Über den Autor (1886-1929)
Indem aber die Philosophie die dunkle Voraussetzung alles Lebens leugnet, indem sie nämlich den Tod nicht für Etwas gelten läßt, sondern ihn zum Nichts macht, erregt sie für sich selbst den Schein der Voraussetzungslosigkeit. Denn nun hat alles Erkennen des All zu seiner Voraussetzung – nichts. Vor dem einen und allgemeinen Erkennen des All gilt nur noch das eine und allgemeine Nichts. Wollte die Philosophie sich nicht vor dem Schrei der geängsteten Menschheit die Ohren verstopfen, so müßte sie davon ausgehen – und mit Bewußtsein ausgehen -: daß das Nichts des Todes ein Etwas, jedes neue Todesnichts ein neues, immer neu furchtbares, nicht wegzuredendes, nicht wegzuschweigendes Etwas ist. Und an Stelle des einen und allgemeinen, vor dem Schrei der Todesangst den Kopf in den Sand steckenden Nichts, das sie dem einen und allgemeinen Erkennen einzig vorangehen lassen will, müßte sie den Mut haben, jenem Schrei zu horchen und ihre Augen vor der grauenhaften Wirklichkeit nicht zu verschließen. Das Nichts ist nicht Nichts, es ist Etwas. Im dunkeln Hintergrund der Welt stehen als ihre unerschöpfliche Voraussetzung tausend Tode, statt des einen Nichts, das wirklich Nichts wäre, tausend Nichtse, die, eben weil viele, Etwas sind. Die Vielheit des Nichts, das von der Philosophie vorausgesetzt wird, die nicht aus der Welt zu bannende Wirklichkeit des Todes, die sich in dem nicht zu schweigenden Schrei seiner Opfer verkündet, sie macht den Grundgedanken der Philosophie, den Gedanken des einen und allgemeinen Erkennens des All zur Lüge, noch ehe er gedacht ist. Das dritthalbtausendjährige Geheimnis der Philosophie, das Schopenhauer an ihrem Sarg ausgeplaudert hat, daß der Tod ihr Musaget gewesen sei, verliert über uns seine Macht. Wir wollen keine Philosophie, die sich in die Gefolgschaft des Todes begibt und über seine währende Herrschaft uns durch den Allund Einklang ihres Tanzes hinwegtäuscht. Wir wollen überhaupt keine Täuschung. Wenn der Tod Etwas ist, so soll uns fortan keine Philosophie mit ihrer Behauptung, sie setze Nichts voraus, den Blick davon abwenden. Schauen wir doch jener Behauptung näher ins Auge. / War die Philosophie denn nicht schon durch jene ihre „einzige“ Voraussetzung, sie setze nichts voraus, selbst ganz voller Voraussetzung, ja selber ganz Voraussetzung? Immer wieder lief doch das Denken den Abhang der gleichen Frage, was die Welt sei, hinan; immer wieder ward an diese Frage alles andere etwa noch Fragwürdige angeschlossen; immer wieder endlich wurde die Antwort auf die Frage im Denken gesucht. Es ist, als ob diese an sich großartige Voraussetzung des denkbaren All den ganzen Kreis sonstiger Fragmöglichkeiten verschattete. Materialismus und Idealismus, beide – nicht bloß jener – „so alt wie die Philosophie“, haben gleichen Teil an ihr. Was ihr gegenüber Selbständigkeit beanspruchte, wurde entweder zum Schweigen gebracht oder überhört. Zum Schweigen gebracht wurde die Stimme, welche in einer Offenbarung die jenseits des Denkens entspringende Quelle göttlichen Wissens zu besitzen behauptete. Die philosophische Arbeit von Jahrhunderten ist dieser Auseinandersetzung des Wissens mit dem Glauben gewidmet; sie kommt zum Ziel in dem gleichen Augenblick, wo das Wissen vom All in sich selber zum Abschluß kommt. Denn als einen Abschluß muß man es wohl bezeichnen, wenn dies Wissen nicht mehr bloß seinen Gegenstand, das All, sondern auch sich selber restlos, wenigstens nach seinen eigenen Ansprüchen und in seiner selbsteigenen Weise restlos, umgreift. Das ist geschehen in Hegels Einziehung der Philosophiegeschichte ins System. Weiter scheint das Denken nicht mehr gehen zu können, als daß es sich selber als die innerste Tatsache, die ihm bekannt ist, nun als einen Teil des Systembaus, und natürlich als den abschließenden Teil, sichtbar hinstellt. Und eben in diesem Augenblick, wo die Philosophie ihre äußersten formellen Möglichkeiten erschöpft und die durch ihre eigene Natur gesetzte Grenze erreicht, scheint nun, wie schon bemerkt, auch die große vom Gang der Weltgeschichte ihr aufgenötigte Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Glauben gelöst zu werden.
(Beginn des 1921 erschienenen Werks)
ZUM GEBURTSTAG DES PHILOSOPHEN
Über den Autor (1886-1929)
Mittwoch, 24. Dezember 2014
Cosima Wagner: An König Ludwig II.
Allergrossmächtigster König!
Allergnädigster König und Herr!
Darf ich es wagen, Eurer Majestät zu Allerhöchst-Deren Geburtsfeste mit unterthänigstem Glückwunsche und einer geringen Gabe mich zu nahen?
Schwer fiel es mir im vorigen Jahre den Ausdruck meines ewigen Dankgefühles zurückzudrängen: heute will es mich unmöglich dünken. So habe ich mich denn erkühnt, Eurer Majestät in einer schlichten Arbeit die Symbole der hohen Werke zusammenzustellen, welche Eure Königliche Majestät durch die hehrste Tat sich zu eigen gewonnen. Des Holländer's Schiff, Tannhäuser's Stab, Lohengrin's Schwan, Siegfried's Schwert, Tristan's Schaale – ich habe sie auf der grünen Grund der Hoffnung gestickt, – deren Panier Euere Königliche Hand in trübster Nacht geschwungen, und mit den Blumen umgeben welche den Erlöser Parzival am Charfreitag so wunderbar entgegenblühen. Nach überstandener Sturmesgefahr bringt in Demuth der Seemann sein bescheidenes Ex-voto der göttlichen Jungfrau dar und dankt mit Inbrunnst dem verliehenen Schutze: so lege ich Euerer Majestät meine kleine Arbeit zu Füssen; jeder Stich enthält einen Segensspruch!
Wer um die heilige Kunst im tiefsten Herzen gelitten, wer in dem eignen Vater und Gatten geweihte Kämpfer für dieselbe erkannt, wer mit Angst und Trauer gesehen, wie hoffnungslos von der Welt bejubelt und doch geächtet der grosse Schöpfer der höchsten Kunst heimathlos umherirren musste – nur der allein vermag es zu ahnen welche That Euere Majestät vollbracht!
In einem seiner tiefsinnigsten "Auto's" lässt der spanische Dichter den König die wankende Religion stützen und sich dadurch ewigen Ruhm auf Erden, ewige Seligkeit im Himmel erküren: Euere Majestät haben in dem göttlichen Freunde die Kunst selbst gestützt, ja gerettet, dem Welt-Hohn zugerufen, wie Gott den Meereswogen: nicht weiter darfst Du walten! .. Ewig, wie sie einzig ist, wird sie prangen diese That! Unsere Kunst – ich wage es zu sagen – ist Religion, ihre Träger sind Märtyrer; Wunder wirkt sie, die heilige in dürrster Zeit, unsere Thränen empfängt sie und wandelt sie zu Perlen, den Aufschrei unserer Seele verklärt sie zum Gesang, ihre Wurzeln haften im irdischen Leiden und ihre Blüthen spenden den überirdischen Trost: so kann und wird sie, ich ahne es mit Sicherheit, die Menschheit dereinst neu erlösen. Doch musste sie, die göttliche zuerst unerkannt, dann verkannt und verfolgt unter den Menschen umherirren welche von ihr nicht Erbauung sondern Zerstreuung, nicht Erhebung sondern Ergötzung verlangten. Ernst und milderhaben erscheint sie in unsrer Welt gleich der christlichen Tugend in der alten römischen – wie der älteren Schwester droht ihr Verbannung und Gefahr, doch:
"Wach auf, es nahet gen dem Tag,
Ich höre singen im grünen Hag
eine wonnigliche Nachtigal,
ihr Stimm' durchklinget Berg und Thal:
die Nacht neigt sich zum Occident,
der Tag geht auf von Orient
die rothbrünstige Morgenröth
her durch die trüben Wolken geht ..."
Was seit Menschengedenken die Fürsten Grosses für die Kunst gewirkt nie liess es sich vergleichen mit Euerer Majestät erhabener That! Raphael zu begünstigen, Calderon zu ehren, Shakespeare zu bewundern, das waren schöne leichte lächelnde Aufgaben, im Einklänge mit der Welt; Wagner zu retten, dem Heiligenscheine der Kunst die königliche Krone zu vermählen, den Verkannten zu lieben, dem Heimathlosen eine Heimath zu gründen, dem Hoffnungslosen höchste Gewissheit darzureichen, dem müden und verzagenden Gotte leuchtende Schwingen zu verleihen, der trauernden ewig gequälten Seele Frieden und Glauben zu bieten – dies war höchster, heiligster, schwerster Königlicher Beruf! Ein Wunder ist geschehen:
Wie preis' ich dieses Wunder
aus meines Herzen's Tiefe!
Und so rufe ich denn Heil dem "leutenden Tag", Heil dem "Wecker des Lebens", Heil dem "siegenden Lichte!"
In tiefster Ehrfurcht verharre ich Euerer Königlichen Majestät treu gehorsamste Dienerin
Cosima von Bülow-Liszt
(Brief aus Pesth vom 20. August 1865)
ZUM GEBURTSTAG DER FESTSPIELLEITERIN
Über die Autorin (1837-1930)
Allergnädigster König und Herr!
Darf ich es wagen, Eurer Majestät zu Allerhöchst-Deren Geburtsfeste mit unterthänigstem Glückwunsche und einer geringen Gabe mich zu nahen?
Schwer fiel es mir im vorigen Jahre den Ausdruck meines ewigen Dankgefühles zurückzudrängen: heute will es mich unmöglich dünken. So habe ich mich denn erkühnt, Eurer Majestät in einer schlichten Arbeit die Symbole der hohen Werke zusammenzustellen, welche Eure Königliche Majestät durch die hehrste Tat sich zu eigen gewonnen. Des Holländer's Schiff, Tannhäuser's Stab, Lohengrin's Schwan, Siegfried's Schwert, Tristan's Schaale – ich habe sie auf der grünen Grund der Hoffnung gestickt, – deren Panier Euere Königliche Hand in trübster Nacht geschwungen, und mit den Blumen umgeben welche den Erlöser Parzival am Charfreitag so wunderbar entgegenblühen. Nach überstandener Sturmesgefahr bringt in Demuth der Seemann sein bescheidenes Ex-voto der göttlichen Jungfrau dar und dankt mit Inbrunnst dem verliehenen Schutze: so lege ich Euerer Majestät meine kleine Arbeit zu Füssen; jeder Stich enthält einen Segensspruch!
Wer um die heilige Kunst im tiefsten Herzen gelitten, wer in dem eignen Vater und Gatten geweihte Kämpfer für dieselbe erkannt, wer mit Angst und Trauer gesehen, wie hoffnungslos von der Welt bejubelt und doch geächtet der grosse Schöpfer der höchsten Kunst heimathlos umherirren musste – nur der allein vermag es zu ahnen welche That Euere Majestät vollbracht!
In einem seiner tiefsinnigsten "Auto's" lässt der spanische Dichter den König die wankende Religion stützen und sich dadurch ewigen Ruhm auf Erden, ewige Seligkeit im Himmel erküren: Euere Majestät haben in dem göttlichen Freunde die Kunst selbst gestützt, ja gerettet, dem Welt-Hohn zugerufen, wie Gott den Meereswogen: nicht weiter darfst Du walten! .. Ewig, wie sie einzig ist, wird sie prangen diese That! Unsere Kunst – ich wage es zu sagen – ist Religion, ihre Träger sind Märtyrer; Wunder wirkt sie, die heilige in dürrster Zeit, unsere Thränen empfängt sie und wandelt sie zu Perlen, den Aufschrei unserer Seele verklärt sie zum Gesang, ihre Wurzeln haften im irdischen Leiden und ihre Blüthen spenden den überirdischen Trost: so kann und wird sie, ich ahne es mit Sicherheit, die Menschheit dereinst neu erlösen. Doch musste sie, die göttliche zuerst unerkannt, dann verkannt und verfolgt unter den Menschen umherirren welche von ihr nicht Erbauung sondern Zerstreuung, nicht Erhebung sondern Ergötzung verlangten. Ernst und milderhaben erscheint sie in unsrer Welt gleich der christlichen Tugend in der alten römischen – wie der älteren Schwester droht ihr Verbannung und Gefahr, doch:
"Wach auf, es nahet gen dem Tag,
Ich höre singen im grünen Hag
eine wonnigliche Nachtigal,
ihr Stimm' durchklinget Berg und Thal:
die Nacht neigt sich zum Occident,
der Tag geht auf von Orient
die rothbrünstige Morgenröth
her durch die trüben Wolken geht ..."
Was seit Menschengedenken die Fürsten Grosses für die Kunst gewirkt nie liess es sich vergleichen mit Euerer Majestät erhabener That! Raphael zu begünstigen, Calderon zu ehren, Shakespeare zu bewundern, das waren schöne leichte lächelnde Aufgaben, im Einklänge mit der Welt; Wagner zu retten, dem Heiligenscheine der Kunst die königliche Krone zu vermählen, den Verkannten zu lieben, dem Heimathlosen eine Heimath zu gründen, dem Hoffnungslosen höchste Gewissheit darzureichen, dem müden und verzagenden Gotte leuchtende Schwingen zu verleihen, der trauernden ewig gequälten Seele Frieden und Glauben zu bieten – dies war höchster, heiligster, schwerster Königlicher Beruf! Ein Wunder ist geschehen:
Wie preis' ich dieses Wunder
aus meines Herzen's Tiefe!
Und so rufe ich denn Heil dem "leutenden Tag", Heil dem "Wecker des Lebens", Heil dem "siegenden Lichte!"
In tiefster Ehrfurcht verharre ich Euerer Königlichen Majestät treu gehorsamste Dienerin
Cosima von Bülow-Liszt
(Brief aus Pesth vom 20. August 1865)
ZUM GEBURTSTAG DER FESTSPIELLEITERIN
Über die Autorin (1837-1930)
Dienstag, 23. Dezember 2014
Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey
DIe Poeterey ist anfanges nichts anders gewesen
als eine verborgene Theologie / vnd vnterricht von Göttlichen sachen.
Dann weil die erste vnd rawe Welt gröber vnd vngeschlachter war / als
das sie hette die lehren von weißheit vnd himmlischen dingen recht
fassen vnd verstehen können / so haben weise Männer / was sie zue
erbawung der Gottesfurcht / gutter sitten vnd wandels erfunden / in
reime vnd fabeln / welche sonderlich der gemeine pöfel zue hören
geneiget ist / verstecken vnd verbergen mussen. Denn das man jederzeit
bey allen Völckern vor gewiß geglaubet habe / es sey ein einiger vnd
ewiger GOtt / von dem alle dinge erschaffen worden vnd erhalten werden /
haben andere / die ich hier nicht mag außschreiben / genungsam
erwiesen. Weil aber GOtt ein unbegreiffliches wesen vnnd vber
menschliche vernunfft ist / haben sie vorgegeben / die schönen Cörper
vber vns / Sonne / Monde vnd Sternen / item allerley gutte Geister des
Himmels wehren Gottes Söhne vnnd Mitgesellen / welche wir Menschen
vieler grossen wolthaten halber billich ehren solten. Solches inhalts
werden vieleichte die Bücher des Zoroasters / den Man für einen der
eltesten Lehrer der göttlichen und menschlichen wissenschafft helt /
gewesen sein / welcher / wie Hermippus bey dem Plinius im ersten Capitel
des 30. Buches bezeuget / zwantzig mal hundert tausendt Verß von der
Philosophie hinterlassen hat. Item was Linus / wie Diogenes Laertius
erwehnet / von erschaffung der Welt / dem lauffe der Sonnen vnd des
Mondens / vnd von erzeugung der Früchte vorgegeben hat. Dessen werckes
anfang soll gewesen sein:
’Η̃ν ποτέ τοι χρόνος ου̃τος εν ω̃ άμα πάντ' επεφύκει
Es war die zeit da erstlich in gemein Hier alle ding' erschaffen worden sein. |
Neben diesem haben Eumolpus / Museus / Orpheus / Homerus / Hesiodus vnnd andere / als die ersten Väter der Weißheit / wie sie Plato nennet / vnd aller gutten ordnung / die bäwrischen vnd fast viehischen Menschen zue einem höfflichern vnd bessern leben angewiesen. Dann inn dem sie so viel herrliche Sprüche erzehleten / vnd die worte in gewisse reimen vnd maß verbunden / so das sie weder zue weit außschritten / noch zue wenig in sich hatten / sondern wie eine gleiche Wage im reden hielten / vnd viele sachen vorbrachten / welche einen schein sonderlicher propheceiungen vnd geheimnisse von sich haben / vermeineten die einfältigen leute / es müste etwas göttliches in jhnen stecken / vnd liessen sich durch die anmutigkeiten der schönen getichte zue aller tugend vnnd guttem wandel anführen. Hat also Strabo vrsache / den Eratosthenes lügen zue heissen / welcher / wie viele unwissende leute heutiges tages auch thun / gemeinet / es begehre kein Poete durch vnterrichtung / sondern alle bloß durch ergetzung sich angeneme zue machen. Hergegen / spricht er Strabo im ersten Buche / haben die alten gesagt / die Poeterey sey die erste Philosophie / eine erzieherinn des lebens von jugend auff / welche die art der sitten / der bewegungen des gemütes vnd alles thuns vnd lassens lehre. Ja die vnsrigen (er verstehet die Stoischen) haben darvon gehalten / das ein weiser alleine ein Poete sey. Vnd dieser vrsachen wegen werden in den Griechischen städten die Knaben zueföderst in der Poesie vnterwiesen: nicht nur vmb der blossen erlüstigung willen / sondern damit sie die sittsamkeit erlernen. Ingleichen stimmet auch Strabo mit dem Lactantius vnd andern in diesem ein / es seyen die Poeten viel älter als die Philosophen / vnd für weise leute gehalten worden / ehe man von dem namen der Weißheit gewust hat: vnnd hetten nachmals Cadmus / Pherecydes / vnd Hecatéus der Poeten lehre zwar sonsten behalten / aber die abmessung der wörter vnd Verse auffgelöset: biß die folgenden nach vnd nach etwas darvon enzogen vnd die rednerische weise / gleichsam als von einem hohen Stande / in die gemeine art vnd forme herab geführet haben. Solches können wir auch aus dem abnehmen / das je älter ein Scribent ist / je näher er den Poeten zue kommen scheinet. Wie denn Casaubonus saget / das so offte er des Herodotus seine Historien lese / es jhn bedüncke / als wehre es Homerus selber.
(Zweites Kapitel – 'Worzue die Poeterey / vnd wann sie erfunden worden' – des 1624 erschienenen Werks)
ZUM GEBURTSTAG DES DICHTERS
Montag, 22. Dezember 2014
Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht
Die vorliegende Abhandlung bespricht eine geschichtliche Erscheinung, welche von Wenigen beachtet, von Niemand nach ihrem ganzen Umfange untersucht worden ist. Die bisherige Althertumswissenschaft nennt das Mutterrecht nicht. Neu ist der Ausdruck, unbekannt der Familienzustand, welchen er bezeichnet. Die Behandlung eines solchen Gegenstandes bietet neben ungewöhnlichen Reizen auch ungewöhnliche Schwierigkeiten dar. Nicht nur, dass es an irgend erheblichen Vorurteilen fehlt: die bisherige Forschung hat überhaupt für die Erklärung jener Kulturperiode, der das Mutterrecht angehört, noch Nichts geleistet. Wir betreten also ein Gebiet, das die erste Urbarmachung erwartet. Aus den bekanntern Zeiten des Althertums sehen wir uns in frühere Perioden, aus der uns bisher allein vertrauten Gedankenwelt in eine gänzlich verschiedene ältere zurückversetzt. Jene Völker, mit deren Namen der Ruhm antiker Grösse ausschließlich verbunden zu werden pflegt, treten in den Hintergrund. Andere, welche die Höhe der klassischen Bildung nie erreichten, nehmen ihre Stelle ein. Eine unbekannte Welt eröffnet sich vor unsern Blicken. Je tiefer wir in sie eindringen, umso eigenthümlicher gestaltet sich alles um uns her. Ueberall Gegensätze zu den Ideen einer entwickeltern Kultur, überall ältere Anschauungen, ein Weltalter selbstständigen Gepräges, eine Gesittung, die nur nach ihrem eigenen Grundgesetz beurtheilt werden kann. Fremdartig steht das gynaikokratische Familienrecht nicht nur unserm heutigen, sondern schon dem antiken Bewusstsein gegenüber. Fremdartig und seltsamer Anlage erscheint neben dem hellenischen jenses ursprünglichere Lebensgesetz, dem das Mutterrecht angehört, aus welchem es hervorgegangen ist, aus dem es auch allein erklärt werden kann. Es ist der höchste Gedanke der folgenden Untersuchung, das bewegende Prinzip des gynaikokratischen Weltalters darzulegen und ihm sein richtiges Verhältnis einerseits zu tiefern Lebensstufen, andererseits zu einer entwickeltern Kultur anzuweisen. Meine Forschung setzt sich also eine viel umfassendere Aufgabe, als der für sie gewählte Titel anzuzeigen scheint. Sie verbreitet sich über alle Theile der gynaikokratischen Gesittung, sucht die einzelnen Züge derselben und dann den Grundgedanken, in welchem sie sich vereinigen, zu ermitteln und so das Bild einer durch die nachfolgende Entwicklung des Althertums zurückgedrängten oder völlig überwundenden Kulturstufe kenntlich wieder herzustellen. Hoch gesteckt ist das Ziel. Aber nur durch die grösste Erweiterung des Gesichtskreises lässt sich wahrer Verständniss erreichen und der wissenschaftliche Gedanke zu jener Klarheit und Vollendung hindurchführen, welche das Wesen der Erkenntniss bildet. Ich will es versuchen, Entwicklung und Umfang meiner Gedanken übersichtlich darzustellen und so das Studium der folgenden Abhandlung vorzubereiten und zu erleichtern.
(Vorrede zu der 1861 erschienenen Untersuchung)
ZUM GEBURTSTAG DES ALTERTUMSFORSCHERS
Über den Autor (1815-1887)
(Vorrede zu der 1861 erschienenen Untersuchung)
ZUM GEBURTSTAG DES ALTERTUMSFORSCHERS
Über den Autor (1815-1887)
Sonntag, 21. Dezember 2014
Leopold von Ranke: Wie der Begriff Fortschritt in der Geschichte aufzufassen sei
Wollte man mit manchem Philosophen annehmen, dass die ganze
Menschheit sich von einem gegebenen Urzustande zu einem positiven Ziel
fortentwickelte, so könnte man sich dieses auf zweierlei Weise
vorstellen: entweder, dass ein allgemein leitender Wille die Entwicklung
des Menschengeschlechts von
einem Punkt nach dem anderen forderte, – oder, dass in der Menschheit
gleichsam ein Zug der geistigen Natur liege, welcher die Dinge mit
Notwendigkeit nach einem bestimmten Ziele hintreibt. – Ich möchte diese
beiden Ansichten weder für philosophisch haltbar noch für historisch
nachweisbar halten. Philosophisch kann man diesen Gesichtspunkt nicht
für annehmbar erklären, weil er im ersten Fall die menschliche Freiheit
geradezu aufhebt und die Menschen zu willenlosen Werkzeugen stempelt;
und weil im andern Fall die Menschen geradezu entweder Gott oder gar
nichts sein müssten.
Auch historisch aber sind diese Ansichten nicht nachweisbar; denn fürs erste findet sich der größte Teil der Menschheit noch im Urzustande, im Ausgangspunkte selbst; und dann fragt es sich: was ist Fortschritt? Wo ist der Fortschritt der Menschheit zu bemerken? – Es gibt Elemente der großen historischen Entwicklung, die sich in der römischen und germanischen Nation fixiert haben; hier gibt es allerdings eine von Stufe zu Stufe sich entwickelnde geistige Macht. Ja es ist in der ganzen Geschichte eine gleichsam historische Macht des menschlichen Geistes nicht zu verkennen; das ist eine in der Urzeit gegründete Bewegung, die sich mit einer gewissen Stetigkeit fortsetzt. Allein es gibt in der Menschheit überhaupt doch nur ein System von Bevölkerungen, welche an dieser allgemein historischen Bewegung teilnehmen, dagegen andre, die davon ausgeschlossen sind. Wir können aber im allgemeinen auch die in der historischen Bewegung begriffenen Nationalitäten nicht als im stetigen Fortschritt befindlich ansehen. Wenden wir z.B. unser Augenmerk auf Asien, so sehen wir, dass dort die Kultur entsprungen ist und dass dieser Weltteil mehrere Kulturepochen gehabt hat. Allein dort ist die Bewegung im ganzen eher eine rückgängige gewesen; denn die älteste Epoche der asiatischen Kultur war die blühendste; die zweite und dritte Epoche, in welcher das griechische und römische Element dominierten, war schon nicht mehr so bedeutend, und mit dem Einbrechen der Barbaren – der Mongolen – fand die Kultur in Asien vollends ein Ende. Man hat sich dieser Tatsache gegenüber mit der Hypothese geographischen Fortschreitens helfen wollen; allein ich muss es von vornherein für eine leere Behauptung erklären, wenn man annimmt, wie z.B. Peter der Große, die Kultur mache die Runde um den Erdball; sie sei von Osten gekommen und kehre dahin wieder zurück.
Fürs zweite ist hierbei ein andrer Irrtum zu vermeiden, nämlich der, als ob die fortschreitende Entwicklung der Jahrhunderte zu gleicher Zeit alle Zweige des menschlichen Wesens und Könnens umfasste. Die Geschichte zeigt uns, um beispielsweise nur ein Moment hervorzuheben, dass in der neueren Zeit die Kunst im 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts am meisten geblüht hat; dagegen ist sie am Ende des 17. und in den ersten drei Vierteilen des 18. Jahrhunderts am meisten heruntergekommen. Geradeso verhält es sich mit der Poesie: auch hier sind es nur Momente, wo diese Kunst wirklich hervortritt; es zeigt sich jedoch nicht, dass sich dieselbe im Laufe der Jahrhunderte zu einer höheren Potenz steigert.
Wenn wir somit ein geographisches Entwicklungsgesetz ausschließen, wenn wir andrerseits annehmen müssen, wie uns die Geschichte lehrt, dass Völker zugrunde gehen können, bei denen die begonnene Entwicklung nicht stetig alles umfasst, so werden wir besser erkennen, worin die fortdauernde Bewegung der Menschheit wirklich besteht. Sie beruht darauf, dass die großen geistigen Tendenzen, welche die Menschheit beherrschen, sich bald auseinander erheben, bald aneinander reihen. In diesen Tendenzen ist aber immer eine bestimmte partikuläre Richtung, welche vorwiegt und bewirkt, dass die übrigen zurücktreten.
So war z.B. in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts das religiöse Element so überwiegend, dass das literarische vor demselben zurücktrat. Im 18. Jahrhundert hingegen gewann das Utilisierungsbestreben ein solches Terrain, dass vor diesem die Kunst und die ihr verwandten Tätigkeiten weichen mussten. In jeder Epoche der Menschheit äußert sich also eine bestimmte große Tendenz, und der Fortschritt beruht darauf, dass eine gewisse Bewegung des menschlichen Geistes in jeder Periode sich darstellt, welche bald die eine, bald die andere Tendenz hervorhebt und in derselben sich eigentümlich manifestiert.
Wollte man aber im Widerspruch mit der hier geäußerten Ansicht annehmen, dieser Fortschritt bestehe darin, dass in jeder Epoche das Leben der Menschheit sich höher potenziert, dass also jede Generation die vorhergehende vollkommen übertreffe, mithin die letzte allemal die bevorzugte, die vorhergehenden aber nur die Träger der nachfolgenden wären, so würde das eine Ungerechtigkeit der Gottheit sein. Eine solche gleichsam mediatisierte Generation würde an und für sich eine Bedeutung nicht haben; sie würde nur insofern etwas bedeuten, als sie die Stufe der nachfolgenden Generation wäre, und würde nicht in unmittelbarem Bezug zum Göttlichen stehen. Ich aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eignen Selbst. Dadurch bekommt die Betrachtung der Historie, und zwar des individuellen Lebens in der Historie, einen ganz eigentümlichen Reiz, indem nun jede Epoche als etwas für sich Gültiges angesehen werden muss und der Betrachtung höchst würdig erscheint.
Der Historiker hat also ein Hauptaugenmerk erstens darauf zu richten, wie die Menschen in einer bestimmten Periode gedacht und gelebt haben; dann findet er, dass, abgesehen von gewissen unwandelbaren ewigen Hauptideen, z.B. den moralischen, jede Epoche ihre besondere Tendenz und ihr eigenes Ideal hat. Wenn nun aber auch jede Epoche an und für sich ihre Berechtigung und ihren Wert hat, so darf doch nicht übersehen werden, was aus ihr hervorging. Der Historiker hat also fürs zweite auch den Unterschied zwischen den einzelnen Epochen wahrzunehmen, um die innere Notwendigkeit der Aufeinanderfolge zu betrachten. Ein gewisser Fortschritt ist hierbei nicht zu verkennen; aber ich möchte nicht behaupten, dass sich derselbe in einer geraden Linie bewegt; sondern mehr wie ein Strom, der sich auf seine eigne Weise den Weg bahnt. Die Gottheit – wenn ich diese Bemerkung wagen darf, denke ich mir so, dass sie, da ja keine Zeit vor ihr liegt, die ganze historische Menschheit in ihrer Gesamtheit überschaut und überall gleichwert findet. Die Idee von der Erziehung des Menschengeschlechts hat allerdings etwas Wahres an sich; aber vor Gott erscheinen alle Generationen der Menschheit gleichberechtigt, und so muss auch der Historiker die Sache ansehen.
Ein unbedingter Fortschritt, eine höchst entschiedene Steigerung ist anzunehmen, soweit wir die Geschichte verfolgen können, im Bereiche der materiellen Interessen, in welchen auch ohne eine ganz ungeheure Umwälzung ein Rückschritt kaum wird stattfinden können; in moralischer Hinsicht aber lässt sich der Fortschritt nicht verfolgen. Die moralischen Ideen können freilich extensiv fortschreiten; und so kann man auch in geistiger Hinsicht behaupten, dass z.B. die großen Werke, welche die Kunst und Literatur hervorgebracht, heutzutage von einer größeren Menge genossen werden als früher; aber es wäre lächerlich, ein größerer Epiker sein zu wollen als Homer oder ein größerer Tragiker als Sophokles.
(Aus der 1854 erschienenen Schriftensammlung 'Über die Epochen der neueren Geschichte')
ZUM GEBURTSTAG DES HISTORIKERS
Über den Autor (1795-1886)
Auch historisch aber sind diese Ansichten nicht nachweisbar; denn fürs erste findet sich der größte Teil der Menschheit noch im Urzustande, im Ausgangspunkte selbst; und dann fragt es sich: was ist Fortschritt? Wo ist der Fortschritt der Menschheit zu bemerken? – Es gibt Elemente der großen historischen Entwicklung, die sich in der römischen und germanischen Nation fixiert haben; hier gibt es allerdings eine von Stufe zu Stufe sich entwickelnde geistige Macht. Ja es ist in der ganzen Geschichte eine gleichsam historische Macht des menschlichen Geistes nicht zu verkennen; das ist eine in der Urzeit gegründete Bewegung, die sich mit einer gewissen Stetigkeit fortsetzt. Allein es gibt in der Menschheit überhaupt doch nur ein System von Bevölkerungen, welche an dieser allgemein historischen Bewegung teilnehmen, dagegen andre, die davon ausgeschlossen sind. Wir können aber im allgemeinen auch die in der historischen Bewegung begriffenen Nationalitäten nicht als im stetigen Fortschritt befindlich ansehen. Wenden wir z.B. unser Augenmerk auf Asien, so sehen wir, dass dort die Kultur entsprungen ist und dass dieser Weltteil mehrere Kulturepochen gehabt hat. Allein dort ist die Bewegung im ganzen eher eine rückgängige gewesen; denn die älteste Epoche der asiatischen Kultur war die blühendste; die zweite und dritte Epoche, in welcher das griechische und römische Element dominierten, war schon nicht mehr so bedeutend, und mit dem Einbrechen der Barbaren – der Mongolen – fand die Kultur in Asien vollends ein Ende. Man hat sich dieser Tatsache gegenüber mit der Hypothese geographischen Fortschreitens helfen wollen; allein ich muss es von vornherein für eine leere Behauptung erklären, wenn man annimmt, wie z.B. Peter der Große, die Kultur mache die Runde um den Erdball; sie sei von Osten gekommen und kehre dahin wieder zurück.
Fürs zweite ist hierbei ein andrer Irrtum zu vermeiden, nämlich der, als ob die fortschreitende Entwicklung der Jahrhunderte zu gleicher Zeit alle Zweige des menschlichen Wesens und Könnens umfasste. Die Geschichte zeigt uns, um beispielsweise nur ein Moment hervorzuheben, dass in der neueren Zeit die Kunst im 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts am meisten geblüht hat; dagegen ist sie am Ende des 17. und in den ersten drei Vierteilen des 18. Jahrhunderts am meisten heruntergekommen. Geradeso verhält es sich mit der Poesie: auch hier sind es nur Momente, wo diese Kunst wirklich hervortritt; es zeigt sich jedoch nicht, dass sich dieselbe im Laufe der Jahrhunderte zu einer höheren Potenz steigert.
Wenn wir somit ein geographisches Entwicklungsgesetz ausschließen, wenn wir andrerseits annehmen müssen, wie uns die Geschichte lehrt, dass Völker zugrunde gehen können, bei denen die begonnene Entwicklung nicht stetig alles umfasst, so werden wir besser erkennen, worin die fortdauernde Bewegung der Menschheit wirklich besteht. Sie beruht darauf, dass die großen geistigen Tendenzen, welche die Menschheit beherrschen, sich bald auseinander erheben, bald aneinander reihen. In diesen Tendenzen ist aber immer eine bestimmte partikuläre Richtung, welche vorwiegt und bewirkt, dass die übrigen zurücktreten.
So war z.B. in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts das religiöse Element so überwiegend, dass das literarische vor demselben zurücktrat. Im 18. Jahrhundert hingegen gewann das Utilisierungsbestreben ein solches Terrain, dass vor diesem die Kunst und die ihr verwandten Tätigkeiten weichen mussten. In jeder Epoche der Menschheit äußert sich also eine bestimmte große Tendenz, und der Fortschritt beruht darauf, dass eine gewisse Bewegung des menschlichen Geistes in jeder Periode sich darstellt, welche bald die eine, bald die andere Tendenz hervorhebt und in derselben sich eigentümlich manifestiert.
Wollte man aber im Widerspruch mit der hier geäußerten Ansicht annehmen, dieser Fortschritt bestehe darin, dass in jeder Epoche das Leben der Menschheit sich höher potenziert, dass also jede Generation die vorhergehende vollkommen übertreffe, mithin die letzte allemal die bevorzugte, die vorhergehenden aber nur die Träger der nachfolgenden wären, so würde das eine Ungerechtigkeit der Gottheit sein. Eine solche gleichsam mediatisierte Generation würde an und für sich eine Bedeutung nicht haben; sie würde nur insofern etwas bedeuten, als sie die Stufe der nachfolgenden Generation wäre, und würde nicht in unmittelbarem Bezug zum Göttlichen stehen. Ich aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eignen Selbst. Dadurch bekommt die Betrachtung der Historie, und zwar des individuellen Lebens in der Historie, einen ganz eigentümlichen Reiz, indem nun jede Epoche als etwas für sich Gültiges angesehen werden muss und der Betrachtung höchst würdig erscheint.
Der Historiker hat also ein Hauptaugenmerk erstens darauf zu richten, wie die Menschen in einer bestimmten Periode gedacht und gelebt haben; dann findet er, dass, abgesehen von gewissen unwandelbaren ewigen Hauptideen, z.B. den moralischen, jede Epoche ihre besondere Tendenz und ihr eigenes Ideal hat. Wenn nun aber auch jede Epoche an und für sich ihre Berechtigung und ihren Wert hat, so darf doch nicht übersehen werden, was aus ihr hervorging. Der Historiker hat also fürs zweite auch den Unterschied zwischen den einzelnen Epochen wahrzunehmen, um die innere Notwendigkeit der Aufeinanderfolge zu betrachten. Ein gewisser Fortschritt ist hierbei nicht zu verkennen; aber ich möchte nicht behaupten, dass sich derselbe in einer geraden Linie bewegt; sondern mehr wie ein Strom, der sich auf seine eigne Weise den Weg bahnt. Die Gottheit – wenn ich diese Bemerkung wagen darf, denke ich mir so, dass sie, da ja keine Zeit vor ihr liegt, die ganze historische Menschheit in ihrer Gesamtheit überschaut und überall gleichwert findet. Die Idee von der Erziehung des Menschengeschlechts hat allerdings etwas Wahres an sich; aber vor Gott erscheinen alle Generationen der Menschheit gleichberechtigt, und so muss auch der Historiker die Sache ansehen.
Ein unbedingter Fortschritt, eine höchst entschiedene Steigerung ist anzunehmen, soweit wir die Geschichte verfolgen können, im Bereiche der materiellen Interessen, in welchen auch ohne eine ganz ungeheure Umwälzung ein Rückschritt kaum wird stattfinden können; in moralischer Hinsicht aber lässt sich der Fortschritt nicht verfolgen. Die moralischen Ideen können freilich extensiv fortschreiten; und so kann man auch in geistiger Hinsicht behaupten, dass z.B. die großen Werke, welche die Kunst und Literatur hervorgebracht, heutzutage von einer größeren Menge genossen werden als früher; aber es wäre lächerlich, ein größerer Epiker sein zu wollen als Homer oder ein größerer Tragiker als Sophokles.
(Aus der 1854 erschienenen Schriftensammlung 'Über die Epochen der neueren Geschichte')
ZUM GEBURTSTAG DES HISTORIKERS
Über den Autor (1795-1886)
Samstag, 20. Dezember 2014
Erich Ludendorff: An Reichskanzler Bethmann-Hollweg
Ich pfeife auf Amerika ... Was kann es uns tun? Herüber kommen sie nicht.
(1917 nach dem deutschen Entschluss zum unbeschränkten U-Boot-Krieg; zitiert in der Biographie 'Ludendorff – Diktator im Ersten Weltkrieg' von Manfred Nebelin)
ZUM TODESTAG DES GENERALS
Über den Autor (1865-1937)
(1917 nach dem deutschen Entschluss zum unbeschränkten U-Boot-Krieg; zitiert in der Biographie 'Ludendorff – Diktator im Ersten Weltkrieg' von Manfred Nebelin)
ZUM TODESTAG DES GENERALS
Über den Autor (1865-1937)
Freitag, 19. Dezember 2014
Alois Alzheimer: Krankenblatt Auguste D.
„Wie heißen Sie?"
"Auguste.“
„Familienname?
„Auguste."
„Wie heißt ihr Mann?“ – Auguste Deter zögert, antwortet schließlich:
„Ich glaube... Auguste.“
„Ihr Mann?“
„Ach so.“
„Wie alt sind Sie?“
„51.“
„Wo wohnen Sie?“
„Ach, Sie waren doch schon bei uns.“
„Sind Sie verheiratet?“
„Ach, ich bin doch so verwirrt.“
„Wo sind Sie hier?“
„Hier und überall, hier und jetzt, Sie dürfen mir nichts übel nehmen.“
„Wo sind Sie hier?“
„Da werden wir noch wohnen.“
„Wo ist Ihr Bett?“
„Wo soll es sein?“
Zu Mittag isst Frau Auguste D. Schweinefleisch mit Karfiol.
„Was essen Sie?“
„Spinat.“ (Sie kaut das Fleisch)
„Was essen Sie jetzt?“
„Ich esse erst Kartoffeln und dann Kren.“
„Schreiben Sie eine fünf.“
Sie schreibt: „Eine Frau“
„Schreiben Sie eine Acht.“
Sie schreibt: „Auguste“ (Beim Schreiben sagt sie wiederholt: „Ich habe mich sozusagen verloren“.)
(Gesprächsprotokoll vom 25. November 1901; zitiert in der Wikipedia)
ZUM TODESTAG DES NERVENARZTES
Über den Autor (1864-1915)
"Auguste.“
„Familienname?
„Auguste."
„Wie heißt ihr Mann?“ – Auguste Deter zögert, antwortet schließlich:
„Ich glaube... Auguste.“
„Ihr Mann?“
„Ach so.“
„Wie alt sind Sie?“
„51.“
„Wo wohnen Sie?“
„Ach, Sie waren doch schon bei uns.“
„Sind Sie verheiratet?“
„Ach, ich bin doch so verwirrt.“
„Wo sind Sie hier?“
„Hier und überall, hier und jetzt, Sie dürfen mir nichts übel nehmen.“
„Wo sind Sie hier?“
„Da werden wir noch wohnen.“
„Wo ist Ihr Bett?“
„Wo soll es sein?“
Zu Mittag isst Frau Auguste D. Schweinefleisch mit Karfiol.
„Was essen Sie?“
„Spinat.“ (Sie kaut das Fleisch)
„Was essen Sie jetzt?“
„Ich esse erst Kartoffeln und dann Kren.“
„Schreiben Sie eine fünf.“
Sie schreibt: „Eine Frau“
„Schreiben Sie eine Acht.“
Sie schreibt: „Auguste“ (Beim Schreiben sagt sie wiederholt: „Ich habe mich sozusagen verloren“.)
(Gesprächsprotokoll vom 25. November 1901; zitiert in der Wikipedia)
ZUM TODESTAG DES NERVENARZTES
Über den Autor (1864-1915)
Donnerstag, 18. Dezember 2014
Paul Klee: Schöpferische Konfession
I.
Formelemente der Graphik sind: Punkte, lineare, flächige und räumliche Energien. Ein flächiges Element, das sich nicht aus Untereinheiten zusammensetzt, ist z.B. eine mit breitkantigem Stift erfolgte Energie ohne Modulation. Ein räumliches Element z.B. ein wolkenartig dunstiger Fleck eines vollen Pinsels mit verschiedenen Stärkegraden.
II.
Drüben treffen wir einen Gleichgesinnten, der auch dahin will, wo größere Erkenntnis zu finden. Zuerst vor Freude einig (Konvergenz), stellen sich allmählich Verschiedenheiten ein (selbstständige Führung zweier Linien). Gewisse Erregung beiderseits (Ausdruck, Dynamik und Psyche der Linie).
Wir durchqueren einen ungepflügten Acker (Fläche von Linien durchzogen), dann einen dichten Wald. Er verirrt sich, sucht und beschreibt einmal gar die klassische Bewegung des laufenden Hundes.
Ganz kühl bin ich auch nicht mehr: über neuer Flussgegend liegt Nebel (räumliches Element). Bald wird es indessen wieder klarer.
Korbflechter kehren heim mit ihren Wagen (das Rad). Bei ihnen ein Kind mit den lustigsten Locken (die Schraubenbewegung). Später wird es schwül und nächtlich (räumliches Element). Ein Blitz am Horizont (die Zickzacklinie). Über uns zwar noch Sterne (die Punktsaat).
Bald ist unser erstes Quartier erreicht. Vor dem Einschlafen wird manches als Erinnerung wieder auftauchen, denn so eine kleine Reise ist sehr eindrucksvoll.
Die verschiedensten Linien. Flecken. Tupfen. Flächen glatt. Flächen getupft, gestrichelt. Wellenbewegung. Gehemmte, gegliederte Bewegung. Gegenbewegung. Geflecht, Gewebe. Gemauertes, Geschupptes. Einstimmigkeit. Mehrstimmigkeit. Sich verlierende, erstarkende Linie (Dynamik).
Das frohe Gleichmaß der ersten Strecke, dann die Hemmungen, die Nerven! Verhaltenes Zittern, Schmeicheln hoffnungsvoller Lüftchen. Vor dem Gewitter der Bremsenüberfall! Die Wut, das Morden.
Die gute Sache als Leitfaden, selbst im Dickicht und Dämmerung. Der Blitz mahnte an jene Fieberkurve. Eines kranken Kindes … Damals.
III.
Es werden ihrer meist mehrere zusammenstehen müssen, um Formen oder Gegenstände zu bilden, oder sonstige Dinge 2. Grades. Flächen aus zueinander in Beziehung tretenden Linien (z. B. beim Anblick von bewegten Wasserläufern) oder Raumgebilde aus Energien mit Beziehungen dritter Dimension (durcheinander wimmelnde Fische).
Durch solche Bereicherung der formalen Symphonie wachsen die Variationsmöglichkeiten und damit die ideellen Ausdrucksmöglichkeiten ins Ungezählte.
Im Anfang ist wohl die Tat, aber darüber liegt die Idee. Und da die Unendlichkeit keinen bestimmten Anfang hat, sondern kreisartig anfanglos ist, so mag die Idee für primär gelten. Im Anfang war das Wort, übersetzt Luther.
IV.
Wenn ein Punkt Bewegung und Linie wird, so erfordert das Zeit. Ebenso, wenn sich eine Linie zur Fläche verschiebt. Desgleichen die Bewegung von Flächen zu Räumen.
Entsteht vielleicht ein Bildwerk auf einmal? Nein, es wird Stück für Stück aufgebaut, nicht anders als ein Haus.
Und der Beschauer, wird er auf einmal fertig mit dem Werk? (Leider oft ja.)
Sagt nicht Feuerbach, zum Verstehen eines Bildes gehöre ein Stuhl? Wozu der Stuhl?
Damit die ermüdenden Beine den Geist nicht stören. Beine werden müd vom langen Stehen. Also, Spielraum: Zeit.
Charakter: Bewegung. Zeitlos ist nur der an sich tote Punkt.
Auch im Weltall ist Bewegung das Gegebene. Ruhe auf Erden ist zufällige Hemmung der Materie. Dies Haften für primär zu nehmen eine Täuschung.
Die Genesis der „Schrift“ ist ein sehr gutes Gleichnis der Bewegung. Auch das Kunstwerk ist in erster Linie Genesis, niemals wird es als Produkt erlebt.
Ein gewisses Feuer, zu werden, lebt auf, leitet sich durch die Hand weiter, strömt auf die Tafel und auf der Tafel, springt als Funke, den Kreis schließend, woher es kam: zurück ins Auge und weiter.
Auch des Beschauers wesentliche Tätigkeit ist zeitlich. Der bringt Teil für Teil in die Sehgrube, und um sich auf ein neues Stück einzustellen, muß er das alte verlassen.
Einmal hört er auf und geht, wie der Künstler. Hält er’s für lohnend, kehrt er zurück; wie der Künstler.
Dem gleich einem weidenden Tier abtastenden Auge des Beschauers sind im Kunstwerk Wege eingerichtet. (In der Musik dem Ohr Zuleitungskanäle – das weiß ein jeder – im Drama beides beiden.)
Das bildnerische Werk entstand aus der Bewegung, ist selber festgelegte Bewegung und wird aufgenommen in der Bewegung (Augenmuskeln).
V.
Die Einbeziehung der gut-bösen Begriffe schafft eine sittliche Sphäre. Das Böse soll nicht triumphierender oder beschämender Feind sein, sondern am Ganzen mitschaffende Kraft. Mitfaktor der Zeugung und der Entwicklung. Eine Gleichzeitigkeit von Urmännlich (bös, erregend, leidenschaftlich) und Urweiblich (gut, wachsend, gelassen) als Zustand ethischer Stabilität.
Dem entspricht der simultane Zusammenschluß der Formen, Bewegung und Gegenbewegung, oder naiver der gegenständlichen Gegensätze (koloristisch: Anwendung zergliederter farbiger Gegensätze, wie bei Delaunay). Jede Energie erheischt ein Complement, um einen in sich selber ruhenden, über dem Spiel der Kräfte gelagerten Zustand zu verwirklichen. Aus abstrakten Formelementen wird über ihre Vereinigung zu konkreten Wesen oder zu abstrakten Dingen wie Zahlen und Buchstaben hinaus zum Schluß ein formaler Kosmos geschaffen, der mit der großen Schöpfung solche Ähnlichkeit aufweist, daß ein Hauch genügt, den Ausdruck des Religiösen, die Religion zur Tat werden zu lassen.
VI.
Ein Mensch des Altertums als Schiffer im Boot, so recht genießend und die sinnreiche Bequemlichkeit der Einrichtung würdigend. Dementsprechend die Darstellung der Alten.
Und nun: was ein moderner Mensch, über das Deck eines Dampfers schreitend, erlebt:
1. die eigene Bewegung, 2. die Fahrt des Schiffes, welche entgegengesetzt sein kann, 3. die Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit des Stromes, 4. die Rotation der Erde, 5. ihre Bahn, 6. die Bahnen von Monden und Gestirnen drum herum.
Ergebnis: ein Gefüge von Bewegungen im Weltall, als Zentrum das Ich auf dem Dampfer.
*
Ein blühender Apfelbaum, seine Wurzeln, die ansteigenden Säfte, sein
Stamm, der Querschnitt mit den Jahresringen, die Blüte, ihr Bau, ihre
sexuellen Funktionen, die Frucht, das Gehäuse mit den Kernen.Ein Gefüge von Zuständen des Wachstums.
*
Ein schlafender Mensch, der Kreislauf seines Blutes, die gemessene
Atmung der Lungen, die zarte Funktion der Nieren, im Kopf eine Welt von
Träumen, mit Beziehung zu den Schicksalsgewalten.Ein Gefüge von Funktionen zur Ruhe geeint.
VII.
Die Freimachung der Elemente, ihre Gruppierung zu zusammengesetzten Unterabteilungen, die Zergliederung und der Wiederaufbau zum Ganzen auf mehreren Seiten zugleich, die bildnerische Polyphonie, die Herstellung der Ruhe durch Bewegungsausgleich, all dies sind hohe Formfragen, ausschlaggebend für die formale Weisheit, aber noch nicht Kunst im obersten Kreis. Im obersten Kreis steht hinter der Vieldeutigkeit ein letztes Geheimnis und das Licht des Intellekts erlischt kläglich.
Man kann wohl noch vom Effekt und vom Heil vernunftmäßig reden, die sie da ausübt, dadurch: daß Phantasie, von instinktgeborgten Reizen beschwingt, uns Zustände vortäuscht, die irgend mehr ermuntern und anregen, als die allbekannten irdischen oder bewußten überirdischen.
Daß Symbole den Geist trösten, damit er einsehe, daß für ihn nicht nur die eine Möglichkeit des Irdischen mit seinen eventuellen Steigerungen besteht. Daß ethischer Ernst waltet und zugleich koboldisches Kichern über Doktoren und Pfaffen.
Denn auch gesteigerte Wirklichkeit kann auf die Dauer nicht frommen.
Die Kunst spielt mit den letzten Dingen ein unwissend Spiel und erreicht sie doch!
Auf Mensch! Schätze diese Villegiatur, einmal den Gesichtspunkt wie die Luft zu wechseln und dich in eine Welt versetzt zu sehen, die ablenkend Stärkung bietet für die unvermeidliche Rückkehr zum Grau des Werktags.
Noch mehr, sie verhelfe dir, die Hülle abzulegen, dich auf Momente Gott zu wähnen. Dich stets wieder auf Feierabende zu freuen, an denen die Seele zur Tafel geht, ihre hungernden Nerven zu nähren, ihre erschlaffenden Gefäße mit neuem Saft zu füllen.
In dies stärkende Meer laß dich tragen, auf breitem Strom und auch auf reizvollen Bächen, wie die aphoristisch-vielverzweigte Graphik.
(Aufsatz in der Schriftensammlung 'Tribüne der Kunst und der Zeit', Band XIII, 1920)
ZUM GEBURTSTAG DES MALERS
Über den Autor (1879-1940)
Mittwoch, 17. Dezember 2014
Kaspar Hauser: Satz
A söchtener Reuter möcht i wern, wie mein Voater gwen is.
Ein solcher Reiter möchte ich werden, wie mein Vater einer gewesen ist.
(Mitteilung beim Auftauchen in Nürnberg am 26. Mai 1828)
Video: Kaspar Hauser – das Rätsel seiner Zeit
ZUM TODESTAG DES RÄTSELHAFTEN
Über den Findling (1812-1833)
Ein solcher Reiter möchte ich werden, wie mein Vater einer gewesen ist.
(Mitteilung beim Auftauchen in Nürnberg am 26. Mai 1828)
Video: Kaspar Hauser – das Rätsel seiner Zeit
ZUM TODESTAG DES RÄTSELHAFTEN
Über den Findling (1812-1833)
Dienstag, 16. Dezember 2014
Karl Gutzkow: Vom Baum der Erkenntnis. Denksprüche
Bilde dir die Befähigung aus, alles, was du erstrebst und erlebst, dir
gegenständlich zu machen und unterzuordnen einem einzigen großen
Gedanken, dem leitenden deines ganzen Lebens. Besitzest du dann freilich
nicht den Mut, diese Richtschnur deiner Handlungen frei und offen auch
mit den Lippen zu bekennen, nun, so kann es an sich den Wert deines
Daseins nicht verringern, wenn dessen edleres Wollen auch nur
unausgesprochen in ihm treibt, drängt, wirkt, verborgen wie die Blüte
der Religion duftet, Gebet, Selbstbetrachtung, die sich nur unter dem
Auge Gottes weiß.
Besitzest du ihn aber, diesen Mut, der seinen Handlungen und Unterlassungen, seiner Liebe, seinem Hass,
auch
äußerlich den Stempel eines weihevollen Ursprungs, das Gepräge bewussten Wollens
vor der Welt aufzudrücken wagt, so führst du, wie der
Dichter sagt, »ein Schauspiel für Götter« auf, vorausgesetzt, dass Inhalt
und Form deines Lebensgedichts immer unter den Gesetzen der Schönheit
und Wahrheit zugleich stehen.
(Aus der 1869 erschienenen Aphorismensammlung)
ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1811-1878)
(Aus der 1869 erschienenen Aphorismensammlung)
ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1811-1878)
Montag, 15. Dezember 2014
Johann Theodor Jablonski: Versuch, zu einer ordentlichen und beständigen Richtigkeit der deutschen Sprache im Reden und Schreiben zu gelangen
Die Ausübung einer Landessprache ist mit Fug für ein geringes und verächtliches Werk nicht zu achten. Bei allen wohlgezogenen Völkern ist dieselbe mit den vortrefflichsten Wissenschaften zugleich aufgekommen, mit Fleiß getrieben und hoch geachtet worden. Nicht nur einzelne Männer haben ihre Geschicklichkeit hierdurch vornehmlich zu beweisen getrachtet, sondern ganze Gesellschaften sich zu solchem Zweck vereinigt und Könige und Fürsten zu ihren Beförderern erhalten. Welschland und Frankreich haben sich mit solcher Arbeit wo nicht mehr doch auch nicht minder als mit ihrer übrigen Gelehrsamkeit berufen und berühmt gemacht. Engelland hat ihnen obgleich in der Stille so glücklich nachgeeifert, dass es jenen vielleicht zuvorgekommen, der übrigen alten und neuen Exempel beliebter Kürze wegen nicht zu gedenken.
Und zwar ist solches nicht ohngefähr oder aus einem bloßen Einfall, sondern aus tüchtigen Beweggründen geschehen.
Die Zier und Reinigkeit einer Sprache tut ein Merkliches, die Gedanken deutlicher vorzustellen und andern mit mehrer Anmut beizubringen.
Und nachdem die heutige Lebensart von der alten durchweg soweit geändert, dass die Welt gleichsam ein gemeines Vaterland geworden und die Völker so wenig mehr voneinander geschieden bleiben wollen, dass sie einander kaum entraten können, so hilft sotane [solch] Reinigkeit der Sprachen auch, dass sie leichter erlernet und hierdurch die Gemeinschaft unter denen so sich derselben gebrauchen, befördert wird.
(Beginn des 1713/19 erschienen Werks)
ZUM GEBURTSTAG DES PÄDAGOGEN
Über den Autor (1654-1731)
Und zwar ist solches nicht ohngefähr oder aus einem bloßen Einfall, sondern aus tüchtigen Beweggründen geschehen.
Die Zier und Reinigkeit einer Sprache tut ein Merkliches, die Gedanken deutlicher vorzustellen und andern mit mehrer Anmut beizubringen.
Und nachdem die heutige Lebensart von der alten durchweg soweit geändert, dass die Welt gleichsam ein gemeines Vaterland geworden und die Völker so wenig mehr voneinander geschieden bleiben wollen, dass sie einander kaum entraten können, so hilft sotane [solch] Reinigkeit der Sprachen auch, dass sie leichter erlernet und hierdurch die Gemeinschaft unter denen so sich derselben gebrauchen, befördert wird.
(Beginn des 1713/19 erschienen Werks)
ZUM GEBURTSTAG DES PÄDAGOGEN
Über den Autor (1654-1731)
Sonntag, 14. Dezember 2014
Justus Möser: Über die verfeinerten Begriffe
Mein Müller spielte mir gestern einen recht artigen Streich, indem er
zu mir ins Zimmer kam und sagte: »Es müssen vier Stück metallene Nüsse in die Poller und Pollerstücke gegen die Kruke gemacht werden, auch haben alle Scheiben, Büchsen, Bolten und Splinten eine Verbesserung nötig, der eine eiserne Pfahlhake mit der Hinterfeder ist nicht mehr zu gebrauchen, und das Kreitau
–« – »So spreche Er doch deutsch, mein Freund! ich höre wohl, dass von
Seiner Windmühle die Rede ist, aber ich bin kein Mühlenbaumeister, der
die tausend Kleinigkeiten, so zu einer Mühle gehören, mit Namen kennet.«
Hier fing der Schalk an zu lachen und sagte mit einer recht witzigen
Gebärde: »Machte es doch unser Herr Pfarrer am Sonntage ebenso, er
redete in lauter Kunstwörtern, wobei uns armen Leuten Hören und Sehen
verging; ich dächte, er täte besser, wenn er wie ich seiner Gemeine
gutes Mehl lieferte und die Kunstwörter für die Bauverständigen sparte.«
»Wie, mein Freund!« fing der Pfarrer lächelnd an, der, ohne dass ihn der Müller gesehen hatte, im Fenster stand, – aber dieser machte sich geschwind aus dem Staube – und so ging die Rede unter uns beiden an, worin der Pfarrer, welcher ein sehr vernünftiger Mann war, dem Müller würklich recht gab, ob er gleich dafür hielt, dass er selbst gegen die von demselben angegebene Regel nicht gefehlt und seiner Gemeine etwas vorgetragen hätte, was ihren Begriffen nicht angemessen wäre. Wie aber ein Wort so das andre holte: so kamen wir endlich auf die jetzt allgemein herrschende Verfeinerung der Begriffe und auf die Frage: ob solche nicht in ihrer Art ein eben solches Übel als die weiland beliebte Empfindsamkeit werden würde? »Und Sie wollten es nicht billigen«, hob der Pfarrer an, »wenn unsre Philosophen in das Innerste der Natur dringen, jeden Begriff bis in seine Quelle verfolgen, hier die würkenden Kräfte aufsuchen, solche mit Namen bezeichnen und das Unsichtbare der Natur gleichsam zum Anschauen bringen? Sie wollten es nicht gut finden, dass unsre Physiognomisten in unendlichen bisher unbemerkten Zügen die Abdrücke unsers Charakters finden und damit unser Erkenntnis bereichern, dass unsre Psychologisten alle Töne und Kräfte der Seele unterscheiden und den Maßstab ans Unendliche legen und dass endlich unsre Sittenlehrer die unzähligen Wendungen des menschlichen Herzens in Klassen ordnen und die chaotische Masse der dunklen Begriffe zu lauter deutlichen erheben?«
»Das kann ich freilich wohl nicht missbilligen«, war meine Antwort, »solange solches für Bauverständige und nicht für solche geschieht, die nun endlich das Mehl erwarten, ohne sich um die Nüsse, Poller und Splinten zu bekümmern. Aber mich dünkt, die wenigsten unter den Schriftstellern, welche jetzt für das Publikum schreiben, beweisen diese Mäßigung. Auch die besten unter ihnen schreiben nicht mehr vor das gemeine Auge, ihre Worte sind nach ihrer zu scharfen Einsicht gestimmt, ihre Begriffe sind zu tief aus der Sache geschöpft, sie beziehen sich auf Verhältnisse, die nur den Baumeistern bekannt sind, und es kömmt mir oft so vor, als wenn sie durch ein Vergrößerungsglas arbeiteten und die Dinge in einem ganz andern Lichte, in einem so außerordentlichen Verhältnisse sähen, worin sie sonst niemand erblickt. Man kann doch, wenn man sich unterrichten, erbauen oder vergnügen will, nicht immer auch sein Vergrößerungsglas vor sich haben oder, wenn man krank ist, den feinen Zergliederer dem nützlichen Arzte vorziehen. Die natürliche Folge jenes Verfahrens ist, daß sie auch ihre Empfindungen erhöhen und da jauchzen oder heulen, wo ein andrer ehrlicher Mann, der das nicht siehet, was sie sehen, ganz gleichgültig bleibt. Ja, ich kenne ihrer viele, die durch die neuentdeckten Ähnlichkeiten und Verhältnisse in dem Unendlichen der Natur in eine für den gemeinen Leser ganz unbegreifliche Schwärmerei versetzet werden. Die Wissenschaft sollte meiner Meinung nach für den Meister und die Frucht derselben für das allgemeine Beste sein. Mir ist das Resultat einer großen Geistesarbeit und zum Beispiel der Gedanke, das Einweihungsfest der neuen katholischen Kirche in Berlin mit dem Gesange: Wir glauben alle an einen Gott etc. anzufangen, lieber und lehrreicher, auch in seiner Stelle schöner und besser als die feinste Zergliederung einer menschlichen Tugend.«
»Wenn aber«, fiel hier der Pfarrer ein, »die feinsten Wahrheiten populär gemacht werden können!« – »Oh«, sagte ich, »wo das geschehn kann, da höret mein Widerspruch auf; aber es ist gegen die Natur der Sache, unendlich kleinen Teilgen und unendlich feinen Unterscheiden Größe und Farbe zu geben, dass sie ein jeder sehen und empfinden kann. Außer dem engen Kreise der Wissenschaften verwirret man nur damit den gesunden Menschenverstand. Die ganze Behandlung einer Sache und die zu deren Vortrag gewidmete Sprache wird dadurch entweder zu scharf bestimmt oder zu mannigfaltig, um sie zu seinen ordentlichen Bedürfnissen zu gebrauchen. Es geht derselben wie unsern fünf Sinnen, wenn sie schärfer empfinden, als es für unsre Gesundheit und Bequemlichkeit gut ist. Das ganze Reich des Unendlichen, was vor unsre Sinnen versteckt liegt, ist überdem das Feld der Spekulation und Systeme. Jeder legt hier sein Eignes an, bestimmt darnach seine Worte oder erfindet für seine Hypothese besondre Zeichen, und wann die gemeine Menschensprache damit überladen wird: so entsteht daraus, eben wie aus einer Menge zu vielerlei Münzen, Beschwerde und Verwirrung; man unterscheidet, wo man nicht unterscheiden sollte, und wird spitzfindig, anstatt brauchbar zu werden; oder ein Mensch versteht den andern nicht mehr; und unsrer jetzigen Sprache wird es wie der ehemaligen scholastischen ergehn, die durch ihre Feinheit verunglückt ist, oder sie wird der gotischen Schnitzelei ähnlich werden, welche den Mangel der Größe ersetzen sollte. Sehe ich nun weiter auf die Menge derjenigen, die in Raffaels Manier arbeiten, ohne Raffaels Geist zu haben –«
»Oh! der Müller soll recht haben«, schloss mein Freund, »das Kreitau soll für die Kunstverständigen bleiben, wir wollen uns an sein Mehl halten.«
(Aus dem 1778 erschienenen Dritten Teil der 'Patriotischen Phantasien')
ZUM GEBURTSTAG DES JURISTEN
Über den Autor (1720-1794)
»Wie, mein Freund!« fing der Pfarrer lächelnd an, der, ohne dass ihn der Müller gesehen hatte, im Fenster stand, – aber dieser machte sich geschwind aus dem Staube – und so ging die Rede unter uns beiden an, worin der Pfarrer, welcher ein sehr vernünftiger Mann war, dem Müller würklich recht gab, ob er gleich dafür hielt, dass er selbst gegen die von demselben angegebene Regel nicht gefehlt und seiner Gemeine etwas vorgetragen hätte, was ihren Begriffen nicht angemessen wäre. Wie aber ein Wort so das andre holte: so kamen wir endlich auf die jetzt allgemein herrschende Verfeinerung der Begriffe und auf die Frage: ob solche nicht in ihrer Art ein eben solches Übel als die weiland beliebte Empfindsamkeit werden würde? »Und Sie wollten es nicht billigen«, hob der Pfarrer an, »wenn unsre Philosophen in das Innerste der Natur dringen, jeden Begriff bis in seine Quelle verfolgen, hier die würkenden Kräfte aufsuchen, solche mit Namen bezeichnen und das Unsichtbare der Natur gleichsam zum Anschauen bringen? Sie wollten es nicht gut finden, dass unsre Physiognomisten in unendlichen bisher unbemerkten Zügen die Abdrücke unsers Charakters finden und damit unser Erkenntnis bereichern, dass unsre Psychologisten alle Töne und Kräfte der Seele unterscheiden und den Maßstab ans Unendliche legen und dass endlich unsre Sittenlehrer die unzähligen Wendungen des menschlichen Herzens in Klassen ordnen und die chaotische Masse der dunklen Begriffe zu lauter deutlichen erheben?«
»Das kann ich freilich wohl nicht missbilligen«, war meine Antwort, »solange solches für Bauverständige und nicht für solche geschieht, die nun endlich das Mehl erwarten, ohne sich um die Nüsse, Poller und Splinten zu bekümmern. Aber mich dünkt, die wenigsten unter den Schriftstellern, welche jetzt für das Publikum schreiben, beweisen diese Mäßigung. Auch die besten unter ihnen schreiben nicht mehr vor das gemeine Auge, ihre Worte sind nach ihrer zu scharfen Einsicht gestimmt, ihre Begriffe sind zu tief aus der Sache geschöpft, sie beziehen sich auf Verhältnisse, die nur den Baumeistern bekannt sind, und es kömmt mir oft so vor, als wenn sie durch ein Vergrößerungsglas arbeiteten und die Dinge in einem ganz andern Lichte, in einem so außerordentlichen Verhältnisse sähen, worin sie sonst niemand erblickt. Man kann doch, wenn man sich unterrichten, erbauen oder vergnügen will, nicht immer auch sein Vergrößerungsglas vor sich haben oder, wenn man krank ist, den feinen Zergliederer dem nützlichen Arzte vorziehen. Die natürliche Folge jenes Verfahrens ist, daß sie auch ihre Empfindungen erhöhen und da jauchzen oder heulen, wo ein andrer ehrlicher Mann, der das nicht siehet, was sie sehen, ganz gleichgültig bleibt. Ja, ich kenne ihrer viele, die durch die neuentdeckten Ähnlichkeiten und Verhältnisse in dem Unendlichen der Natur in eine für den gemeinen Leser ganz unbegreifliche Schwärmerei versetzet werden. Die Wissenschaft sollte meiner Meinung nach für den Meister und die Frucht derselben für das allgemeine Beste sein. Mir ist das Resultat einer großen Geistesarbeit und zum Beispiel der Gedanke, das Einweihungsfest der neuen katholischen Kirche in Berlin mit dem Gesange: Wir glauben alle an einen Gott etc. anzufangen, lieber und lehrreicher, auch in seiner Stelle schöner und besser als die feinste Zergliederung einer menschlichen Tugend.«
»Wenn aber«, fiel hier der Pfarrer ein, »die feinsten Wahrheiten populär gemacht werden können!« – »Oh«, sagte ich, »wo das geschehn kann, da höret mein Widerspruch auf; aber es ist gegen die Natur der Sache, unendlich kleinen Teilgen und unendlich feinen Unterscheiden Größe und Farbe zu geben, dass sie ein jeder sehen und empfinden kann. Außer dem engen Kreise der Wissenschaften verwirret man nur damit den gesunden Menschenverstand. Die ganze Behandlung einer Sache und die zu deren Vortrag gewidmete Sprache wird dadurch entweder zu scharf bestimmt oder zu mannigfaltig, um sie zu seinen ordentlichen Bedürfnissen zu gebrauchen. Es geht derselben wie unsern fünf Sinnen, wenn sie schärfer empfinden, als es für unsre Gesundheit und Bequemlichkeit gut ist. Das ganze Reich des Unendlichen, was vor unsre Sinnen versteckt liegt, ist überdem das Feld der Spekulation und Systeme. Jeder legt hier sein Eignes an, bestimmt darnach seine Worte oder erfindet für seine Hypothese besondre Zeichen, und wann die gemeine Menschensprache damit überladen wird: so entsteht daraus, eben wie aus einer Menge zu vielerlei Münzen, Beschwerde und Verwirrung; man unterscheidet, wo man nicht unterscheiden sollte, und wird spitzfindig, anstatt brauchbar zu werden; oder ein Mensch versteht den andern nicht mehr; und unsrer jetzigen Sprache wird es wie der ehemaligen scholastischen ergehn, die durch ihre Feinheit verunglückt ist, oder sie wird der gotischen Schnitzelei ähnlich werden, welche den Mangel der Größe ersetzen sollte. Sehe ich nun weiter auf die Menge derjenigen, die in Raffaels Manier arbeiten, ohne Raffaels Geist zu haben –«
»Oh! der Müller soll recht haben«, schloss mein Freund, »das Kreitau soll für die Kunstverständigen bleiben, wir wollen uns an sein Mehl halten.«
(Aus dem 1778 erschienenen Dritten Teil der 'Patriotischen Phantasien')
ZUM GEBURTSTAG DES JURISTEN
Über den Autor (1720-1794)
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