Samstag, 6. Dezember 2014

Werner von Siemens: Lebenserinnerungen

Wenn ich zum Schluss mein Leben überblicke und die bedingenden Ursachen und treibenden Kräfte aufsuche, die mich über alle Hindernisse und Gefahren hinweg zu einer Lebensstellung führten, welche mir Anerkennung und innere Befriedigung brachte und mich überreichlich mit den materiellen Gütern des Lebens versah, so muss ich zunächst anerkennen, dass das glückliche Zusammentreffen vieler Umstände dazu mitgewirkt hat und ich überhaupt dem glücklichen Zufall viel dabei zu danken habe. Ein solches glückliches Zusammentreffen war es schon, dass mein Leben gerade in die Zeit der schnellen Entwicklung der Naturwissenschaften fiel und dass ich mich besonders der elektrischen Technik schon zuwandte, als sie noch ganz unentwickelt war und daher einen sehr fruchtbaren Boden für Erfindungen und Verbesserungen bildete. Andererseits habe ich aber im Leben auch vielfach mit ganz ungewöhnlichem Missgeschick zu kämpfen gehabt. William Meyer, mein lieber Jugendfreund und treuer Genosse, bezeichnete diesen steten Kampf mit ganz unerwarteten Schwierigkeiten und unglücklichen Zufällen, die mir bei meinen Unternehmungen anfangs in der Regel entgegentraten, deren Überwindung mir aber meist mit großem Glücke gelang, recht drastisch mit dem studentischen Ausspruche, ich hätte »Sau beim Pech«. Ich muss die Richtigkeit dieser Auffassung anerkennen, glaube aber doch nicht, dass es nur blindes Schicksalswalten war, wodurch die Wellenlinie von Glück und Unglück, auf der sich unser Leben bewegt, mich so häufig den angestrebten Zielen zuführte. Erfolg und Misserfolg, Sieg und Niederlage hängen im menschlichen Leben vielfach ganz von der rechtzeitigen und richtigen Benutzung sich darbietender Gelegenheiten ab. Die Eigenschaft, in kritischen Momenten schnell entschlossen zu sein und ohne lange Überlegung das Richtige zu tun, ist mir während meines ganzen Lebens so ziemlich treu geblieben, trotz des etwas träumerischen Gedankenlebens, in das ich vielfach, ich könnte fast sagen gewöhnlich versunken war. In unzähligen Fällen hat mich diese Fähigkeit vor Schaden bewahrt und in schwierigen Lebenslagen richtig geleitet. Freilich gehörte immer eine gewisse Erregung dazu, um mir die volle Herrschaft über meine geistigen Eigenschaften zu geben. Ich bedurfte ihrer nicht nur, um meinem Gedankenleben entrissen zu werden, sondern auch zum Schutze gegen meine eigenen Charakterschwächen. Zu diesen rechne ich vornehmlich eine allzu große Gutmütigkeit, die es mir ungemein schwer machte, eine an mich gerichtete Bitte abzuschlagen, einen erkannten Wunsch nicht zu erfüllen, ja überhaupt jemand etwas zu sagen oder zu tun, was ihm unangenehm oder schmerzlich sein musste. Zu meinem Glücke stand dieser, besonders für einen Geschäftsmann und Dirigenten vieler Leute sehr störenden Eigenschaft die andere gegenüber, dass ich leicht erregt und in Zorn versetzt werden konnte. Dieser Zorn, der immer leicht in mir aufstieg, wenn meine guten Absichten verkannt oder missbraucht wurden, war stets eine Erlösung und Befreiung für mich, und ich habe es oft ausgesprochen, dass mir jemand, mit dem ich Unangenehmes zu verhandeln hatte, keinen größeren Dienst erweisen könnte, als wenn er mir Ursache gäbe, zornig zu werden. Übrigens war dieser Zorn in der Regel nur eine Form geistiger Erregung, die ich niemals aus der Gewalt verlor. Obwohl ich in jüngeren Jahren von meinen Freunden mit dem Spitznamen »Krauskopf« benannt wurde, womit sie einen gewissen Zusammenhang zwischen meinem krausen Haar und krausen Sinn andeuten wollten, so hat mich mein leicht aufbrausender Zorn doch nie zu Handlungen verleitet, die ich später hätte bereuen müssen. Zum Leiter großer Unternehmungen war ich auch in anderen Beziehungen nur mangelhaft geeignet. Es fehlte mir dazu das gute Gedächtnis, der Sinn für Ordnung und die konsequente, unnachsichtige Strenge. Wenn ich trotzdem große Geschäftshäuser begründet und mit ungewöhnlichem Erfolge geleitet habe, so ist dies ein Beweis dafür, daß mit Tatkraft gepaarter Fleiß vielfach unsere Schwächen überwindet oder doch weniger schädlich macht. Dabei kann ich mir selbst das Zeugnis geben, dass es nicht Gewinnsucht war, die mich bewog, meine Arbeitskraft und mein Interesse in so ausgedehntem Maße technischen Unternehmungen zuzuwenden. In der Regel war es zunächst das wissenschaftlich-technische Interesse, das mich einer Aufgabe zuführte. Ein Geschäftsfreund hänselte mich einmal mit der Behauptung, ich ließe mich bei meinen Unternehmungen immer von dem allgemeinen Nutzen leiten, den sie bringen sollten, fände aber schließlich immer meine Rechnung dabei. Ich erkenne diese Bemerkung innerhalb gewisser Grenzen als richtig an, denn solche Unternehmungen, die das Gemeinwohl fördern, werden durch das allgemeine Interesse getragen und erhalten dadurch größere Aussicht auf erfolgreiche Durchführung. Indessen will ich auch die mächtige Einwirkung nicht unterschätzen, welche der Erfolg und das ihm entspringende Bewusstsein, Nützliches zu schaffen und zugleich Tausenden von fleißigen Arbeitern dadurch ihr Brot zu geben, auf den Menschen ausübt. Dieses befriedigende Bewusstsein wirkt anregend auf unsere geistigen Eigenschaften und ist wohl die Grundlage des sonst etwas bedenklichen Sprichworts: »Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand dazu«.

Eine wesentliche Ursache für das schnelle Aufblühen unserer Fabriken sehe ich darin, dass die Gegenstände unserer Fabrikation zum großen Teil auf eigenen Erfindungen beruhten. Waren diese auch in den meisten Fällen nicht durch Patente geschützt, so gaben sie uns doch immer einen Vorsprung vor unsern Konkurrenten, der dann gewöhnlich so lange anhielt, bis wir durch neue Verbesserungen abermals einen Vorsprung gewannen. Andauernde Wirkung konnte das allerdings nur in Folge des Rufes größter Zuverlässigkeit und Güte haben, dessen sich unsere Fabrikate in der ganzen Welt erfreuten.

Außer dieser öffentlichen Anerkennung meiner technischen Leistungen sind mir persönlich sowohl von den Herrschern der größeren Staaten Europas wie von Universitäten, Akademien, wissenschaftlichen und technischen Instituten und Gesellschaften Ehrenbezeugungen in so reichem Maße erwiesen worden, dass mir kaum noch etwas zu wünschen übrig bleibt.

Ich begann die Niederschrift meiner Erinnerungen mit dem biblischen Ausspruche »Unser Leben währet siebenzig Jahr und wenn es hochkommt, so sind es achtzig Jahr«, und ich denke, sie wird gezeigt haben, dass auch der Schluss des Denkspruches »und wenn es köstlich gewesen, so ist es Mühe und Arbeit gewesen« sich an mir bewährt. Denn mein Leben war schön, weil es wesentlich erfolgreiche Mühe und nützliche Arbeit war, und wenn ich schließlich der Trauer darüber Ausdruck gebe, dass es seinem Ende entgegengeht, so bewegt mich dazu der Schmerz, dass ich von meinen Lieben scheiden muss und dass es mir nicht vergönnt ist, an der vollen Entwicklung des naturwissenschaftlichen Zeitalters erfolgreich weiter zu arbeiten.

(Schluss der 1892 erschienenen Autobiographie)

ZUM TODESTAG DES UNTERNEHMENSGRÜNDERS

Über den Autor (1816-1892)

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