Am andern Morgen nach Goethes Tode ergriff mich eine tiefe Sehnsucht,
seine irdische Hülle noch einmal zu sehen. Sein treuer Diener Friedrich
schloss mir das Zimmer auf, wo man ihn hingelegt hatte. Auf dem Rücken
ausgestreckt, ruhte er wie ein Schlafender: tiefer Friede und Festigkeit
waltete auf den Zügen seines erhaben-edlen Gesichts. Die mächtige Stirn
schien noch Gedanken zu hegen. Ich hatte das Verlangen nach einer Locke
von seinen Haaren, doch die Ehrfurcht verhinderte mich, sie ihm
abzuschneiden. Der Körper lag nackend in ein weißes Bettuch gehüllet,
große Eisstücke hatte man in einiger Nähe umhergestellt, um ihn frisch
zu erhalten so lange als möglich. Friedrich schlug das Tuch auseinander,
und ich erstaunte über die göttliche Pracht dieser Glieder. Die Brust
überaus mächtig, breit und gewölbt; Arme und Schenkel voll und sanft
muskulös, die Füße zierlich und von der reinsten Form, und nirgends am
ganzen Körper eine Spur von Fettigkeit oder Abmagerung und Verfall. Ein
vollkommener Mensch lag in großer Schönheit vor mir, und das Entzücken,
das ich darüber empfand, ließ mich auf Augenblicke vergessen, daß der
unsterbliche Geist eine solche Hülle verlassen. Ich legte meine Hand auf
sein Herz – es war überall eine tiefe Stille – und ich wendete mich
abwärts, um meinen verhaltenen Tränen freien Lauf zu lassen.
(Schluss des 1836 erschienenen 'Zweiten Teils')
ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS
Über den Autor (1792-1854)
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