Mittwoch, 10. Dezember 2014

Ludwig Anzengruber: Der Sternsteinhof

Der Leser hat eine Frage frei. Warum erzählt man solche Geschichten, die nur aufweisen, »wie es im Leben zugeht«?

Allerdings gibt das ein unfruchtbares Wissen, da es nichts an den Vorgängen ändern lehrt und, was es lehrt, doch nie, selbst von den Wissenden nicht, mit dem Handeln in Einklang zu bringen versucht wird; so bleibt es denn voraussichtlich noch lange mit allem menschlichen Treiben und Trachten beim alten, und eine neue Geschichte kann nur dartun: dass, was vorging, noch vorgeht. Übrigens ist es nicht neu, von den Gefahren der Schönheit für den, der sie besitzt, wie für andere, zu erzählen, es ist nicht neu, zu erzählen, wie in manches Menschen Leben die Treue gegen das eigene Selbst mit dem Verrate an anderen verknüpft zu sein scheint, und solche alte Geschichten von erprobter Wirkung in ein neues Gewand zu stecken ist nur ein künstlerischer Behelf, und ein anderer ist es, das letztere für die handelnden Personen aus Loden zuzuschneiden; es geschieht dies nicht in dem einfältigen Glauben, dass dadurch Bauern als Leser zu gewinnen wären, noch in der spekulativen Absicht, einer mehr und mehr in die Mode kommenden Richtung zu huldigen, sondern lediglich aus dem Grunde, weil der eingeschränkte Wirkungskreis des ländlichen Lebens die Charaktere weniger in ihrer Natürlichkeit und Ursprünglichkeit beeinflusst, die Leidenschaften, rückhaltlos sich äußernd oder in nur linkischer Verstellung, verständlicher bleiben und der Aufweis: wie Charaktere unter dem Einflusse der Geschicke werden oder verderben oder sich gegen diesen und sich und andern das Fatum setzen – klarer zu erbringen ist an einem Mechanismus, der gleichsam am Tage liegt, als an einem, den ein doppeltes Gehäuse umschließt und Verschnörkelungen und ein krauses Zifferblatt umgeben; wie denn auch in den ältesten, einfachen, wirksamsten Geschichten die Helden und Fürsten Herdenzüchter und Großgrundbesitzer waren und Sauhirten ihre Hausminister und Kanzler.

(Schluss des 1885 erschienenen Romans)

ZUM TODESTAG DES SCHRIFTSTELLERS

Über den Autor (1839-1889)

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