Wollte man mit manchem Philosophen annehmen, dass die ganze
Menschheit sich von einem gegebenen Urzustande zu einem positiven Ziel
fortentwickelte, so könnte man sich dieses auf zweierlei Weise
vorstellen: entweder, dass ein allgemein leitender Wille die Entwicklung
des Menschengeschlechts von
einem Punkt nach dem anderen forderte, – oder, dass in der Menschheit
gleichsam ein Zug der geistigen Natur liege, welcher die Dinge mit
Notwendigkeit nach einem bestimmten Ziele hintreibt. – Ich möchte diese
beiden Ansichten weder für philosophisch haltbar noch für historisch
nachweisbar halten. Philosophisch kann man diesen Gesichtspunkt nicht
für annehmbar erklären, weil er im ersten Fall die menschliche Freiheit
geradezu aufhebt und die Menschen zu willenlosen Werkzeugen stempelt;
und weil im andern Fall die Menschen geradezu entweder Gott oder gar
nichts sein müssten.
Auch historisch aber sind diese Ansichten nicht nachweisbar; denn
fürs erste findet sich der größte Teil der Menschheit noch im
Urzustande, im Ausgangspunkte selbst; und dann fragt es sich: was ist
Fortschritt? Wo ist der Fortschritt der Menschheit zu bemerken? – Es
gibt Elemente der großen historischen Entwicklung, die sich in der
römischen und germanischen Nation fixiert haben; hier gibt es allerdings
eine von Stufe zu Stufe sich entwickelnde geistige Macht. Ja es ist in
der ganzen Geschichte eine gleichsam historische Macht des menschlichen
Geistes nicht zu verkennen; das ist eine in der Urzeit gegründete
Bewegung, die sich mit einer gewissen Stetigkeit fortsetzt. Allein es
gibt in der Menschheit überhaupt doch nur ein System von Bevölkerungen,
welche an dieser allgemein historischen Bewegung teilnehmen, dagegen
andre, die davon ausgeschlossen sind. Wir können aber im allgemeinen
auch die in der historischen Bewegung begriffenen Nationalitäten nicht
als im stetigen Fortschritt befindlich ansehen. Wenden wir z.B. unser
Augenmerk auf Asien, so sehen wir, dass dort die Kultur entsprungen ist
und dass dieser Weltteil mehrere Kulturepochen gehabt hat. Allein dort
ist die Bewegung im ganzen eher eine rückgängige gewesen; denn die
älteste Epoche der asiatischen Kultur war die blühendste; die zweite und
dritte Epoche, in welcher das
griechische und römische Element dominierten, war schon nicht mehr so
bedeutend, und mit dem Einbrechen der Barbaren – der Mongolen – fand die
Kultur in Asien vollends ein Ende. Man hat sich dieser Tatsache
gegenüber mit der Hypothese geographischen Fortschreitens helfen wollen;
allein ich muss es von vornherein für eine leere Behauptung erklären,
wenn man annimmt, wie z.B. Peter der Große, die Kultur mache die Runde
um den Erdball; sie sei von Osten gekommen und kehre dahin wieder
zurück.
Fürs zweite ist hierbei ein andrer Irrtum zu vermeiden, nämlich
der, als ob die fortschreitende Entwicklung der Jahrhunderte zu gleicher
Zeit alle Zweige des menschlichen Wesens und Könnens umfasste. Die
Geschichte zeigt uns, um beispielsweise nur ein Moment hervorzuheben,
dass in der neueren Zeit die Kunst im 15. und in der ersten Hälfte des
16. Jahrhunderts am meisten geblüht hat; dagegen ist sie am Ende des 17.
und in den ersten drei Vierteilen des 18. Jahrhunderts am meisten
heruntergekommen. Geradeso verhält es sich mit der Poesie: auch hier
sind es nur Momente, wo diese Kunst wirklich hervortritt; es zeigt sich
jedoch nicht, dass sich dieselbe im Laufe der Jahrhunderte zu einer
höheren Potenz steigert.
Wenn wir somit ein geographisches Entwicklungsgesetz
ausschließen, wenn wir andrerseits annehmen müssen, wie uns die
Geschichte lehrt, dass Völker zugrunde gehen können, bei denen die
begonnene Entwicklung nicht stetig alles umfasst, so werden wir besser
erkennen, worin die fortdauernde Bewegung der Menschheit wirklich
besteht. Sie beruht darauf, dass die großen geistigen Tendenzen, welche
die Menschheit beherrschen, sich bald auseinander erheben, bald
aneinander reihen. In diesen Tendenzen ist aber immer eine bestimmte
partikuläre Richtung, welche vorwiegt und bewirkt, dass die übrigen
zurücktreten.
So war z.B. in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts das religiöse
Element so überwiegend, dass das literarische vor demselben zurücktrat.
Im 18. Jahrhundert hingegen gewann das Utilisierungsbestreben
ein solches Terrain, dass vor diesem die Kunst und die ihr verwandten
Tätigkeiten weichen mussten. In jeder Epoche der Menschheit äußert sich
also eine bestimmte große Tendenz, und der Fortschritt beruht darauf,
dass eine gewisse Bewegung des menschlichen Geistes in jeder Periode sich
darstellt, welche bald die eine, bald die andere Tendenz hervorhebt und
in derselben sich eigentümlich manifestiert.
Wollte man aber im Widerspruch mit der hier geäußerten Ansicht
annehmen, dieser Fortschritt bestehe darin, dass in jeder Epoche das
Leben der Menschheit sich höher potenziert, dass also jede Generation die
vorhergehende vollkommen übertreffe, mithin die letzte allemal die
bevorzugte, die vorhergehenden aber nur die Träger der nachfolgenden
wären, so würde das eine Ungerechtigkeit der Gottheit sein. Eine solche
gleichsam mediatisierte
Generation würde an und für sich eine Bedeutung nicht haben; sie würde
nur insofern etwas bedeuten, als sie die Stufe der nachfolgenden
Generation wäre, und würde nicht in unmittelbarem Bezug zum Göttlichen
stehen. Ich aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr
Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer
Existenz selbst, in ihrem eignen Selbst. Dadurch bekommt die Betrachtung
der Historie, und zwar des individuellen Lebens in der Historie, einen
ganz eigentümlichen Reiz, indem nun jede Epoche als etwas für sich
Gültiges angesehen werden muss und der Betrachtung höchst würdig
erscheint.
Der Historiker hat also ein Hauptaugenmerk erstens darauf zu richten,
wie die Menschen in einer bestimmten Periode gedacht und gelebt haben;
dann findet er, dass, abgesehen von gewissen unwandelbaren ewigen
Hauptideen, z.B. den moralischen, jede Epoche ihre besondere Tendenz und
ihr eigenes Ideal hat. Wenn nun aber auch jede Epoche an und für sich
ihre Berechtigung und ihren Wert hat, so darf doch nicht übersehen
werden, was aus ihr hervorging. Der Historiker hat also fürs zweite auch
den Unterschied zwischen den einzelnen Epochen wahrzunehmen, um die
innere Notwendigkeit der Aufeinanderfolge zu betrachten. Ein gewisser
Fortschritt ist hierbei nicht zu verkennen; aber ich möchte nicht
behaupten, dass sich derselbe in einer geraden Linie bewegt; sondern mehr
wie ein Strom, der sich auf seine eigne Weise den Weg bahnt. Die
Gottheit – wenn ich diese Bemerkung wagen darf, denke ich mir so, dass
sie, da ja keine Zeit vor ihr liegt, die ganze historische Menschheit in
ihrer Gesamtheit überschaut und überall gleichwert findet. Die Idee von
der Erziehung des Menschengeschlechts hat allerdings etwas Wahres an
sich; aber vor Gott erscheinen alle Generationen der Menschheit
gleichberechtigt, und so muss auch der Historiker die Sache ansehen.
Ein unbedingter Fortschritt, eine höchst entschiedene Steigerung
ist anzunehmen, soweit wir die Geschichte verfolgen können, im Bereiche
der materiellen Interessen, in welchen auch ohne eine ganz ungeheure
Umwälzung ein Rückschritt kaum wird stattfinden können; in moralischer
Hinsicht aber lässt sich der Fortschritt nicht verfolgen. Die moralischen
Ideen können freilich extensiv fortschreiten; und so kann man auch in
geistiger Hinsicht behaupten, dass z.B. die großen Werke, welche die
Kunst und Literatur hervorgebracht, heutzutage von einer größeren Menge
genossen werden als früher; aber es wäre lächerlich, ein größerer Epiker sein zu wollen als Homer oder ein größerer Tragiker als Sophokles.
(Aus der 1854 erschienenen Schriftensammlung 'Über die Epochen der neueren Geschichte')
ZUM GEBURTSTAG DES HISTORIKERS
Über den Autor (1795-1886)
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